Analyse

Überfällig: Steuerpolitik fürs digitale Zeitalter

Von Stephan Lorz

Neulich im Pendlerzug nach Frankfurt: Diskussion mit einem Volkswirt. Tenor: Unser Steuersystem ist viel zu kompliziert geworden und produziert deshalb immer mehr Ungerechtigkeiten. Steuervereinfachung, mehr Pauschalisierungen und mehr Freibeträge seien unbedingt nötig. Der Aufwand zur Herstellung einer wie auch immer definierten „Gerechtigkeit“ sei immens, Folgewirkungen von Eingriffen überhaupt nicht mehr zu überschauen, gut gemeinte Korrekturen liefen oft aufs Gegenteil hinaus. Letzten Endes würden ja trotzdem nur einzelne Gruppen bevorzugt – und bezahlen müsste jene „Verbesserungen“ ohnehin stets die Mittelschicht. Das Ganze sei obendrein eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Steuerbürokratie und für Anwälte.

Neulich im Pendlerzug zurück nach Aschaffenburg: Diskussion mit einem Anwalt. Tenor: Nein, das Steuersystem sei nicht zu kompliziert. Das sei vielmehr unserer komplexen Gesellschaft geschuldet und eine Folge der politischen Aufgabe, das Steuersystem möglichst gerecht für alle auszugestalten. Pauschalisierungen würden den vielen Einzelfällen ebenso wenig gerecht, wie Vereinfachungen, weil dann nötige Differenzierungen verloren gingen. Und dass sich mit der steigenden Komplexität immer wieder Steuerschlupflöcher auftun würden, sei letztlich nur dem Umstand geschuldet, dass die Bestimmungen nicht wasserdicht formuliert würden, zu wenig an Interpretationen und Folgewirkungen gedacht werde. Der Grund: In der Staatsbürokratie und beim Fiskus fehle schlicht das nötige exzellente Personal dafür. Steuerexperten würden im Staatsdienst eben nicht so gut bezahlt wie in der freien Wirtschaft, weshalb man in letzterer dem Fiskus immer einen Schritt voraus sei.

Eine andere Erklärung: Bürokratie nährt die Bürokratie. Und im Deutschen Bundestag ist ein Berufstypus nun Mal besonders stark vertreten: Beamter und Jurist in Personalunion. Aber sind die Repräsentanten der Unternehmen so viel besser? Viele Berater aus der freien Wirtschaft sind schließlich direkt in den Ministerien zugange; und obendrein wimmelt es dort auch von Lobbyisten. Die warnen schon im Vorfeld neuer Steuergesetze vor dramatischen Folgen für die Gesellschaft (Arbeitsplätze etc.). Aber das Gemeinwohl haben sie dort wohl weniger im Blick als auftragsgemäß das Wohl ihrer Financiers. Auch das Einknicken der Politik vor solchem Lobbyismus trägt zur beklagten Komplexität bei und erschwert jede Steuerreform.

Aber die Zeit drängt. Eine Steuerdiskussion ist angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen von Digitalisierung, der Macht von Algorithmen und der Plattformökonomie (Facebook, Youtube etc.) überfällig. Vor vielen Jahren hatte man damit – gewiss unter anderen Voraussetzungen – schon einmal interessante Ansätze hervorgebracht. Stichwort: Bareis-Kommission, Kirchof’sches Steuergesetzbuch, Negativsteuer, konsumorientiertes Steuersystem. Die Politik zeigte sich aber schon damals wenig beeindruckt und aufnahmefähig. Die meisten Vorschläge wurden zerredet, verwässert und als weltfremd gebrandmarkt. Zumindest hatten Vertreter aus Wissenschaft und Praxis seinerzeit aber den Mut aufgebracht, für die Staatsfinanzierung eine neue zeitgemäße Grundlage zu entwerfen und dies auch öffentlich kundzutun.

Ein solcher Versuch wäre heute wichtiger denn je – nicht zuletzt wegen der Verschiebung der Wertschöpfung hin zu Kapitalinvestitionen und zu virtuellen Gütern. Dies zerstört nämlich sukzessive die Finanzierungsgrundlagen des Steuer- und Sozialstaats. Einseitig belastet werden alle immobilen Personen und Unternehmen, die an der Scholle gebunden sind (als Investor, als Unternehmer und als Arbeitnehmer), während die virtuellen Wertschöpfungsquellen und ihre Geldgeber sich ihren Besteuerungsort quasi frei aussuchen können. Und immer wieder neu gegen die auf diese Weise mögliche Steuervermeidung und -verlagerung vorzugehen, gegen die digitalen Plattform- und Profitmaschinen wie Amazon, Google, Facebook & Co. ins Feld zu ziehen, ohne ein grundlegendes Konzept vor Augen, ist letzten Endes zum Scheitern verurteilt.

Es ist daher an der Zeit, die Blockaden gegen eine große Steuerreform durch festgefahrene Gruppeninteressen und Verhaltensweisen sowie die Bequemlichkeit und Desinteressiertheit der Politik endlich aufzubrechen. Ansonsten erodieren die Finanzgrundlagen des (Sozial-)Staats wegen der Digitalisierung, der rasanten Automatisierung (Roboterisierung) der Wirtschaft sowie der zunehmenden Hegemonie von Plattformökonomien und künftigen Dominanz Künstlicher Intelligenz (KI).

Nebenbei bemerkt: Nicht nur in der Steuerpolitik fehlt es an grundlegenden öffentlichen Debatten als Reaktion auf die sich rasant verändernden Rahmenbedingungen. Das trifft auch die Politik selbst, wo Reformen dafür Sorge tragen müssten, um die Voraussetzungen für und das Funktionieren von Demokratie in einer Zeit der Hassreden, Echokammern und Desinformation in den Sozialen Medien zu gewährleisten. Mehr denn je ist hier die öffentlich finanzierte Wissenschaft aufgerufen, den politischen Repräsentanten Ideen anzubieten, wie die Transformation von analogen in die digitale Marktwirtschaft und von Versammlungsparteien in Wirtshaus-Hinterzimmern zu modernen Plattformparteien gelingen kann, die auch im Cyberraum als „modern“ wahr- und ernstgenommen werden.

Reale und gefühlte Ungleichheit

Deutschland ist Globalisierungsgewinner, dennoch werden Freihandel und Markt kritisch gesehen

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Der Globalisierungsreport 2018 der Bertelsmann-Stiftung lässt keinen Zweifel zu: Deutschland gehört zu den Ländern, die am meisten von der Globalisierung profitieren (6. Platz). Das Bruttoinlandsprodukt habe sich zwischen 1990 und 2016 infolge von mehr Freihandel, internationaler Verflechtung und Spezialisierung hierzulande um jährlich 1 150 Euro pro Kopf erhöht, so der von Prognos erstellte Bericht. Der Wohlstand der Deutschen ist durch die Globalisierung also gestiegen.

Und dennoch: Blickt man auf die politische Diskussion, scheint es, als ob es durch die Weltoffenheit mehr Probleme als Lösungen gibt. Von einer zunehmenden sozialen Ungleichheit ist die Rede – trotz rekordhoher Beschäftigung, enormer staatlicher Umverteilung und steigender Lebensqualität. Die Menschen fanden sich sogar zu Massendemonstrationen zusammen, um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zu stoppen – und haben es geschafft. Die Parteien aus dem linken wie rechten Spektrum wollen gar die Europäische Union zurechtstutzen. Der Brexit ist das Fanal für diese diffuse Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise in den westlichen Ländern.

Was ist die Ursache für dieses gesellschaftliche Aufbegehren? Lässt sich der Unmut auch anhand von Fakten begreifen? Oder ist er eher Ausdruck einer soziologischen Befindlichkeitsstörung, die sich vor allem aus den Filterblasen der sozialen Medien speist und dann eine Eigendynamik entwickelt hat?

Tatsache ist, dass die Globalisierung global betrachtet eine enorme Armutsreduzierung bewirkt hat. Die Ungleichheit zwischen den Ländern wurde verringert, gemessen am Gini-Koeffizienten, der die Einkommensverteilung darstellt (siehe Grafik). Vor allem in den Schwellenländern wächst die Mittelschicht rasant, wird die Armut zurückgedrängt.

Der Aufstieg dieser Länder wurde allerdings auch erkauft durch Jobverlagerungen von den Industrieländern – wegen der Marktnähe und günstigerer Produktionskosten. Anfangs konnte der Jobverlust in den entwickelten Staaten noch durch den wachsenden Exportmarkt und durch Spezialisierung der Volkswirtschaften kompensiert werden. Doch ist ein gewisses Maß an Globalisierung erst einmal erreicht, zeigt eine Studie von Valentin Lang von der Universität Zürich und Marina Mendes Tavares vom Internationalen Währungsfonds (IWF), vermindern sich die Wohlstandszuwächse. Und was noch wichtiger ist: Sie kommen dann zudem weniger den unteren Einkommen zugute als den Besserverdienenden. Das, so Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank, lässt die Ungleichheit noch stärker ansteigen.

Sorgen in der Bevölkerung

Solche Mechanismen bestärken natürlich das Gefühl in der Bevölkerung von Industrieländern, benachteiligt zu werden. Objektiv ist seit den 1980er Jahren auch durchaus ein starker Zuwachs an Ungleichheit zu messen; eine Entwicklung, die zuletzt wieder weitgehend zum Stillstand gekommen ist. Nach wie vor aber gilt, was selbst der französische Ökonom Thomas Piketty, der von vielen Globalisierungskritikern als Kronzeuge einer ungerechten Weltordnung angeführt wird, bestätigt: Nirgendwo gibt es so wenig Ungleichheit wie in Europa. Der Anteil der obersten 10 % der Bevölkerung am Gesamteinkommen liege auf dem Kontinent bei 37 %, in Kanada, USA, Russland und China zwischen 41 und 47 %.

Daher hält es auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), für falsch, dem „Wirtschaftssystem“ eine Mitschuld an den Verhältnissen zu geben. Es sei vielmehr Aufgabe der nationalen Politik, die Profite der Globalisierung in die richtigen Bahnen zu lenken. Zu oft werde „die Globalisierung aber zum Sündenbock für eigene Fehler gemacht“. Um die Globalisierung einzuhegen, sollte man laut Fratzscher aber nun nicht eine egalitäre Gerechtigkeit zum Ziel haben, sondern müsse die Chancen- und Leistungsgerechtigkeit fördern. Und das habe viel mit Bildung und Infrastruktur zu tun.

Seit einigen Jahren haben das auch der IWF und die Industrieländerorganisation OECD erkannt, die früher auf schlichtes Wachstum und Freihandel gesetzt haben in der Hoffnung, dass der Markt schon für eine effiziente und irgendwie gerechte Verteilung sorgt. Sie selbst fordern nun mehr „Inclusive Growth“. Zu wenig habe man auf die Frustration der Verlierer und Abgehängten geachtet, heißt es selbstkritisch. Und die soziale Umverteilung sei vor allem als Störfaktor im Marktgeschehen betrachtet und entsprechend gegeißelt worden, statt ihre befriedende Funktion zu würdigen. Das spiele jetzt den Extremisten jeder Couleur in die Hände.

Steuerhoheit untergraben

Die „Sozialreparatur“, auf die man nun setzt, kann aber nicht mit dem nötigen Drehmoment in Gang gesetzt werden. Zum einen sind die Staaten vielfach bereits überschuldet, zum anderen wird ihre Steuerhoheit zusehends durch die Digitalisierung untergraben, weil die Profite der großen Digitalkonzerne im virtuellen Raum verschoben werden. Zudem kommt ein neues Problem auf die Staaten zu: Jobverluste durch Digitalisierung und Roboterisierung, was den Sozialstaat unter zusätzlichen Druck setzt. Denn durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz werden selbst Berufe überflüssig, die bisher vor Automatisierung sicher schienen.

In den USA drohen einer Studie der Universität Oxford zufolge, bis 2030 fast die Hälfte der Jobs wegzufallen. In Deutschland, so die Ökonomen der ING-DiBa, könnten von den rund 31 Millionen sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten rund 18 Millionen durch Roboter und Software ersetzt werden. Automatisierung gab es zwar schon immer. Auch die Webstühle ersetzten massenweise Arbeitsplätze. Völlig unklar aber ist, wo die neuen Märkte entstehen, die als Kompensation dienen könnten. Und selbst wenn Hoffnung naht – in der Übergangszeit dürfte eine Wirtschaftskrise politische Tumulte mit sich bringen, die an den Grundfesten der Gesellschaftsordnung rütteln.

Hinzu kommt, dass Automatisierung und Digitalisierung die soziale Ungleichheit strukturell noch weiter befeuern. Das The-winner-takes-it-all-Prinzip bei digitalen Netzwerken lässt Superstar-Firmen hochkommen zulasten aller anderen Akteure auf dem Markt, wie die Ökonomen der Bertelsmann-Stiftung warnen. Das geht nicht nur mit einem Verlust von Jobs einher, sondern Studien zufolge auch mit einem Rückgang der Lohnquote. Der einflussreiche und liberale Ökonom Tyler Cowen geht davon aus, dass künftig eine Elite von 10 bis 15 % der Erwerbstätigen alle globalen Produktionsprozesse leiten wird; die Fachkenntnisse dieser Elite reichten aus, um die intelligenten Maschinen und Roboter weiterzuentwickeln und weltweit zu steuern. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin warnt schon seit Jahren: „Wir vollziehen gerade einen Wandel hin zu einem Markt, der zum allergrößten Teil ohne Arbeitskraft funktioniert.“

Grundeinkommen als Lösung?

Doch wer soll die Produkte überhaupt kaufen, wenn immer mehr Schichten verarmen und sich die Gadgets der modernen Technikwelt nicht mehr leisten können – ganz abgesehen von der politischen Sprengkraft, die heute schon die Armuts- und Ungleichheitsdiskussion entfaltet?

So manche Digital- und Technikkonzerne favorisieren die Etablierung eines bedingungslosen Grundeinkommens, sagen aber nicht, woher das Geld hierfür genommen werden soll (zumal sie sich selbst gerne der Steuerpflicht entziehen). Frank Rieger vom Chaos Computer Club schlägt daher eine Steuer vor, wie sie schon einmal in den 1970er Jahren als „Maschinensteuer“ hochgekommen ist: „Wenn uns Roboter und Algorithmen in der Arbeitswelt ersetzen, sollten sie auch unseren Platz als Steuerzahler einnehmen.“ Hieraus könnten dann die sozialen Sicherungssysteme alimentiert werden. Eine solche Steuer ließe sich aber nur international konzertiert durchsetzen, weil ansonsten die heimische Wirtschaft im Kostenwettbewerb den Kürzeren ziehen würde. Sie ist also sehr unwahrscheinlich.

Verantwortung der Politik

Eine andere Möglichkeit wäre ein Neustart in der Bildungspolitik. Die gerne in Talkshows und Sonntagsreden verbreiteten Rezepte müssten dafür endlich umgesetzt werden. Nur durch eine moderne Bildungspolitik kann der Wandel in der Arbeitswelt gelingen, können die neuen anspruchsvollen Jobs nach Deutschland geholt und das Gemeinwesen nachhaltig finanziert werden. Die bisherigen Ansätze – Beispiel Digitalpakt – waren nicht nur ergebnislos, sondern geradezu peinlich für einen Industriestaat wie Deutschland. Letztendlich braucht das Land einen „New Deal“, um den Menschen wieder eine Perspektive zu geben; eine Hoffnung zu schenken, dass es ihnen in der Zukunft besser gehen wird. Das wäre die Grundlage für „Inclusive Growth“. Das Gefühl von Ungleichheit und Ungerechtigkeit könnte zurückgedrängt werden und die Politik und die Institutionen würden wieder das Vertrauen gewinnen, das ihnen weite Bevölkerungskreise entzogen haben.

Die Schuld(en)frage lässt an der Fortexistenz der Eurozone zweifeln

Entgegen vielen politischen Bekundungen hat die Finanzkrise zu keinem regelrechten Umdenken bei der Staatsfinanzierung geführt – Risiken nehmen wieder zu

Von Stephan Lorz

Schulden haben einen janusköpfigen Charakter: Damit können Investitionen finanziert werden, die künftiges Wachstum ermöglichen. Das erhöht den Wohlstand. Sie können den Schuldner aber auch ins Unglück stürzen, wenn er sich übernimmt – oder sich die Rahmenbedingungen ändern. Denn Schulden machen verletzlich gegenüber Schocks am Finanzmarkt und sie verengen den finanziellen
Spielraum. Wo genau  die Grenze zwischen beiden Sphären liegt, darüber streiten sich die Ökonomen. Dass sie im Falle der Finanz- und Schuldenkrise vor zehn Jahren überschritten worden war, darüber
sind sich aber alle einig. Im Falle der amerikanischen Bankenkrise ging man zu leichtfertig mit der Verschuldung um, was einzelne Institute in die Krise stürzte und schließlich das globale Finanzsystem erschütterte. Und im Falle der Euro-Krise waren es einige Staaten, die sich bei der „Rettung“ ihrer Banken verhoben oder sich schon vorher eine zu hohe Schuldenlast aufgebürdet haben.

Umso mehr erstaunt, dass die Finanz- und Schuldenkrise nicht zu einem radikalen Umdenken geführt hat. Das hat objektive Gründe, die sich aus der Bekämpfung der Krise herleiten, liegt aber auch an politischen und kulturellen Faktoren. Nur wenige Länder wie Deutschland können seit 2007 einen deutlichen Fall der Schuldenquote vorweisen. 2019 wird sogar wieder die 60-Prozent-Marke in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) unterschritten. Unmittelbar nach der Krise stieg dieser Wert noch bis auf 80,9 %.In den meisten anderen Euro-Staaten ist das nicht gelungen – im Gegenteil: Die Staatsverschuldung liegt noch immer deutlich über dem Vorkrisenstand, kritisiert Michael Heise, Chefökonom der Allianz. Und das trotz der längsten Boomphase seit Jahrzehnten und trotz Unterstützung der Notenbank mit Nullzinsen und Anleihekäufen. Erst im laufenden Jahr dürften alle Euro-Staaten erstmals seit Start der Währungsunion das Drei-Prozent-Defizitkriterium einhalten.

Das Schuldenstandskriterium indes liegt noch in weiter Ferne. Selbst unter günstigsten Bedingungen, so die Allianz, werden die ehemaligen Eurokrisenländer die 60-Prozent-Grenze auch in 15 Jahren noch nicht erreicht haben.Problem sind dabei weniger die politisch immer wieder in Anspruch genommenen „Umstände“, die eine striktere Konsolidierung einfach verhindern würden, sondern der fehlende politische Wille, weil Wählerwünsche enttäuscht und Wahlversprechen sich ansonsten als unfinanzierbar erweisen würden – und weil die ultraniedrigen Zinsen schlicht falsche Anreize setzen. Kredite sind ja so billig wie noch nie. Das ist verführerisch. Kritik an der Schuldenpolitik wird zudem gerne mit der Klage über die oktroyierte wachstumsfeindliche „Austeritätspolitik“ gekontert. Dabei haben die Staatsausgaben in der Eurozone seit 2007 beständig zugelegt. Die laute Klage vom Gürtelengerschnallen ist schlicht falsch.

Der Hunger nach Kredit (nicht nur von Staaten) ist indes ein globales Phänomen: Nach Angaben des McKinsey Institute ist die staatliche und private Verschuldung zwischen 2007 und 2017 weltweit von 97 auf 169 Bill. Dollar gestiegen. Der neue Chefökonom der DWS, Martin Moryson, zeigt sich denn auch ziemlich zerknirscht: „Die Schulden wandern, gehen aber nicht weg.“ Nur Schuldner und Gläubiger seien andere.

Gefährlich werden die Schulden vor allem dann, wenn der nächste Abschwung kommt. Dann trifft er auf einen Schuldenberg, der noch größer ist, als er es zu Beginn der Finanzkrise gewesen war. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Zentralbanken ihr Pulver weitgehend verschossen haben und noch nicht wieder ab­wehrbereit sind. Der konjunkturelle Herbst hat sogar schon begonnen; hinzu kommen der Protektionismus und das Unterfangen der Notenbanken, aus der ultralockeren Geldpolitik auszusteigen. Das hätten sie mal früher zu Boomzeiten machen müssen. Gerade deshalb erstaunt auch die Chuzpe, mit der die US-Regierung sich zur Finanzierung ihres Budgets am Kreditmarkt bedient und die Schuldenquote (und damit auch die Zinslast) weiter nach oben treibt.Was tun? Die Ökonomen der Commerzbank fordern eine „Schuldenbremse mit Biss“.

Aber wie durchsetzen, wenn die EU-Länder deren Verbindlichkeit ohnehin infrage stellen? Die verquere Debatte über deutsche „Austeritätsforderungen“ lässt tief blicken und lässt den Argwohn aufblitzen, der innerhalb der Eurozone allgegenwärtig ist. Die eine Staatengruppe setzt auf stabile Finanzen, die andere geht davon aus, dass Wachstum nur durch höhere (kreditfinanzierte) Staatsausgaben erreichbar ist. Zwei unvereinbare Standpunkte, welche letztlich die Existenz der Eurozone infrage stellen.Aber vielleicht gelingt noch ein Kompromiss. Nicht zu Unrecht war in den Maastricht-Kriterien ein Schuldenstand von 60 % des BIP und ein laufendes Defizit von maximal 3 % vorgegeben. Bei einem damals noch „normalen“ Zinsniveau von 5 % kann sich der Staat jedes Jahr dann das Geld für die Zinszahlungen ohne schlechtes Gewissen leihen, weil die Schuldenquote bei einem Nominalwachstum von 3 % unverändert bliebe. Das ist auch gerecht, weil aktuelle Investitionen auch der nächsten Generation zugutekommen.

Andererseits sollten dann aber auch jene den finanziellen Spielraum ausnutzen, welche  die Kriterien bereits erfüllen. Von einer „schwarzen Null“ war nie die Rede. Zumal die Entwicklung gezeigt hat, dass zur Zielerreichung stets zuerst bei Investitionen gespart wird, weshalb dann die Infrastruktur verfällt und Zukunftsausgaben darniederliegen. Es kommt also darauf an, wofür man das Geld ausgibt. Die jüngsten Ausgabenentscheidungen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz in Richtung soziale Wohltaten zeigen, dass Berlin hier nichts dazugelernt hat. Das gilt in den anderen Euro-Staaten aber genauso. Damit reduziert sich das Wachstumspotenzial und somit die Fähigkeit, in Zukunft höhere (demografische) Lasten zu schultern. Statt sich über Milliardenfonds in der EU zu verständigen, wäre es daher besser, sich auf eine Wachstumspolitik zu einigen in Anerkennung der Stabilitätskriterien – aber mit klarer Benennung, welche Investitionen keinesfalls gekürzt werden dürfen. Kurz: Die Fiskalpolitik muss sich Ausgabenregeln unterwerfen.

Kurs auf die nächste Krise

Aber vielleicht lässt die sich ab­zeichnende Konjunkturwende ohnehin keine finanziellen Spielräume mehr zu und es gilt, sich gegen die nächste Rezession zu wappnen. Dann ist den Regierungen das nationale Hemd natürlich näher als der europäische Rock, was jeden Kompromiss blockiert. Und was bleibt dann, um den Schuldenberg abzutragen? Inflation, Währungsreform, Staatsbankrott. Seit dem Jahr 1800 hatte es weltweit rund 250 Staatspleiten für die Auslandsschulden und mindestens 68 Inlandspleiten gegeben, bei denen die Einlagen der eigenen Bevölkerung in Landeswährung betroffen waren, haben die US-Öko­nomen Kenneth S. Rogoff und Carmen Reinhart nachgezählt. Ein solches Szenario würde dann auch jene Staaten in die Krise stürzen, die wenigstens versucht haben, eine nachhaltige Finanzpolitik zu betreiben. Die Konsolidierungsanstrengungen Deutschlands wären dann weitgehend umsonst gewesen.

Die inneren und äußeren Feinde des freien Marktes

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben protektionistische und antiliberale Tendenzen befördert, weil sie schädliche Marktkräfte und kapitalistische Exzesse nicht früh und energisch genug gezügelt haben. Das hat die Menschen unserer Wirtschaftsordnung entfremdet und den Boden bereitet für Populisten und Nationalisten, die nun auch die Destabilisierung der Demokratie zum Ziel haben.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Er ist das Gesicht für den gerade im Gange befindlichen Wendepunkt in der Geschichte des Westens: US-Präsident Donald Trump. Mit seinen von Nationalismus und Protektionismus geprägten Handlungen in den vergangenen Monaten steht er für die Zurückdrängung jener Werte, welche die USA einst haben zur Supermacht werden lassen: Marktliberalismus und Globalisierung, internationale Zusammenarbeit und die Verteidigung der freiheitlich-offenen Gesellschaften. Nicht mehr Verhandlung und Ausgleich gelten ihm als die politischen Instrumente der Wahl, sondern Machtprojektion und Einschüchterung. Der Kapitalismus wird nicht als Wirtschaftsmodell gesehen, sondern als Herrschaftsform und politisches Vehikel verstanden. Kein Wunder, dass die Menschen dann zunehmend auch das Zutrauen in die Gemeinwohl fördernde Wirkung der Institution Marktwirtschaft verlieren und nach Alternativen Ausschau halten, wie sie etwa China mit ihrer Form einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit Staatsaufsicht“ durchaus erfolgreich praktiziert.

Man würde nun Trump zu viel Ehre antun, ihn als den Sargnagel freiheitlicher Märkte zu bezeichnen. Er steht nämlich nicht alleine, hat Vorläufer und Mitläufer – und agiert in einem gesellschaftlichen Klima, das solches Verhalten nicht nur toleriert, sondern weitgehend goutiert. Letztendlich ist er sogar das Produkt einer Entwicklung, die eigentlich im Kern des Kapitalismus ihren Ausgang genommen hat. Denn der gesellschaftliche Rückhalt für marktliberale Ordnungen ist schon vorher erodiert.

Politik, Wirtschaft, aber auch viele Ökonomen, die sich stets als Verteidiger von Kapitalismus und Marktwirtschaft aufschwingen, haben durch Handeln und Unterlassen, durch ihre Hybris, über dem Staat zu stehen, und durch einseitige Betrachtungen und Fachblindheit jene Entwicklungen eher noch befördert, welche die Menschen an der herrschenden Wirtschaftsordnung zweifeln ließen. Kurz: Sie haben die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Tuns aus dem Blick verloren – oder schlicht unterschlagen, weil sich sonst die „ökonomischen Lehren“ nicht so klar hätten formulieren lassen. Und in einem Umfeld, in dem die Sorgen vor einem ökonomischen Kontrollverlust durch Globalisierung und Digitalisierung wachsen, diffuse Ängste vor der Komplexität und Unberechenbarkeit des Kapitalismus insgesamt aufkommen, haben Populisten, Verschwörungstheoretiker und Nationalisten schon immer leichtes Spiel gehabt.

Die Rolle der Ökonomen

Alle Marktakteure haben es vor allem versäumt, die Verlierer des Strukturwandels aufzufangen. Das ist speziell in den USA und in Großbritannien sicht- und spürbar, wo die sozialen Sicherungssysteme weitmaschiger sind als hierzulande. Tendenziell ist diese Schlagseite aber – mit Abstrichen – auch in Deutschland feststellbar, wovon etwa die jüngste Hartz-IV-Diskussion über den Umgang mit den Hilfsempfängern zeugt. Fatal hat sich dabei die einseitige ökonomische Argumentation auswirkt, die jede Kritik an der freien Entfaltung der Marktkräfte abgebügelt hat mit dem Hinweis, dass jedwede Einschränkung Wachstum und Jobwachstum entgegenwirken würde. Vielmehr wurde stets einer noch stärkeren Ökonomisierung der Gesellschaft das Wort geredet, indem etwa über höher Studiengebühren schwadroniert wurde.

Dass ein solches ökonomisches Verständnis womöglich die gesellschaftlichen Schichten eher noch mehr verfestigt statt sie durchlässiger macht, kam ihnen nicht in den Sinn – denn dafür fühlten sich die Wirtschaftswissenschaftler nicht zuständig. Im Ergebnis haben die Menschen zunehmend das Vertrauen in den sozialen Aufstieg verloren, wie Studien immer wieder belegen.

Tarif- vs. Managergehälter

Vollends wurde das Vertrauen in jedwede ökonomische Argumentation verspielt, nachdem die Meinungsmacher der wirtschaftspolitischen Debatte in ihrer Argumentation eine fatale Schlagseite zugunsten den Führungsetagen der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmerschaft an den Tag legten. Während Tariflohnsteigerungen lange Zeit stets als „zu hoch“ kritisiert wurden – durchaus mit einiger Berechtigung im Hinblick auf Arbeitskosten -, wurden die bisweilen obszön hohen Gehälter für Manager (und Investmentbanker) von den gleichen Akteuren regelmäßig „als Marktergebnisse“ verteidigt und wurde Kritik daran als „Neiddebatte“ apostrophiert. Dabei wurde zudem vergessen, dass die exorbitant hohen Gehälter ja eigentlich den Erfolg des Unternehmens widerspiegeln sollen, was wiederum doch das Ergebnis aller anderen Mitarbeiter ebenfalls ist und nicht einigen wenigen Personen zugeschrieben werden kann. Derlei Doppelmoral erschüttert natürlich das Vertrauen der Menschen in die letztendlich auch sozial stabilisierende Kraft der Marktwirtschaft.

Gewiss gibt es in einer Marktwirtschaft keine festen Regeln, welches „Einkommen“ und welche „Einkommensunterschiede“ fundamental gerechtfertigt sind angesichts des Erfolgs oder Misserfolgs des jeweiligen Unternehmens, und welche Personengruppen welchen Anteil an den Leistungen oder Fehlleistungen haben, um sie entsprechend zu würdigen oder zu sanktionieren. Aber es geht hier um Geldsummen jenseits aller Größenordnungen – und dies in der Regel für Unternehmenslenker, die weder mit ihrem Gesamtvermögen für das Unternehmen insgesamt einstehen, wie das etwa bei Familienunternehmen der Fall ist. Letztlich sind auch die hochbezahlten Manager Angestellte wie die Pförtner bei der Einlasskontrolle. Ein Denkanstoß: Wer 10 Mill. Euro im Jahr erhält, könnte täglich rund 27.000 Euro ausgeben. Jenseits von Neidgefühlen: Ist das eine Größenordnung, die noch irgendetwas mit persönlicher Leistung eines Angestellten zu tun hat?

Längst, so scheint es, hat sich durch die Usancen im globalen Finanzkapitalismus eine finanzielle Aristokratie herausgebildet, die einer Marktwirtschaft eigentlich fremd sein sollte. Dieses Zweiklassensystem – die da oben, wir da unten – fordert den Klassenkampf förmlich heraus. Noch wirkt dem allerdings das Mantra entgegen, das der britische Kriegspremier Winston Churchill formuliert hat: „Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleiche Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: die gleichmäßige Verteilung des Elends“. Beides keine attraktiven Vorstellungen. Doch, dass der „Kapitalismus ungesund ist – sogar für Kapitalisten“, das Wort des Philosophen Ernst Bloch könnte sich in der nächsten Entwicklungsstufe erfüllen: die Digitalisierung.

Digitalisierung des Kapitalismus

Denn das Zweiklassensystem wird durch die Digitalisierung noch verstärkt: einerseits entziehen sich die Digitalkonzerne ihrer steuerlichen Pflicht durch schlichte Umleitung der Datenströme. Das erschwert dem Staat die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und seiner sozialen Verpflichtungen; zumal in einer Welt, in denen der sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsplatz wohl irgendwann ausgestorben sein wird. Andererseits setzen sich diese Konzerne über nationale Grenzen hinweg, weil sie sich als überstaatliche Entitäten verstehen. Es gibt sogar Planungen, dass diese Multis eins eigene Offshore-Staaten auf riesigen Plattformen auf dem Meer gründen könnten. Eine staatliche Regulierung wird dann nahezu unmöglich, ohne den Datenverkehr komplett zu kontrollieren, was wiederum der Regierungsform einer Demokratie widersprechen würde. Insofern geht es hier auch um die politische Zukunft unserer Gesellschaft – ein Aspekt, der von Verbänden und Ökonomen in der Regel kaum betrachtet wird.

Und schließlich neigen die Digitalkonzerne dazu, Markt und Wettbewerb insgesamt auszuhebeln, weil sie Netzwerkeffekte ausnutzen können. Der Risikokapitalgeber und einflussreiche US-Unternehmer Peter Thiel erteilte dem Wettbewerbsprinzip sogar eine komplette Absage. „Wettbewerb ist etwas für Verlierer“, sagte er und warb für die segensreiche Gemeinwohl steigernde Wirkung von Monopolen. Inzwischen dominieren Facebook und Google 80% aller digitalen Werbeerlöse außerhalb von China. Diese Entwicklung war schon vor Jahren absehbar, doch der Aufstand der Wettbewerbsökonomen und Kartellwächter blieb aus. Während sie lange Zeit die Schrankenlosigkeit des digitalen Marktes verteidigten, weil so junge Märkte schließlich mehr Frei- und Experimentalräume benötigten (als ob es sich hier nicht um Multi-Milliarden-Märkte handeln würde), werden die „analogen Industrien“ durch etablierte Regeln behindert bei der Positionierung in den digitalen Gefilden.

Nach dem Versagen der Ökonomen im Vorfeld der Finanzkrise signalisiert offenbar auch die Digitalisierung, wie groß die Scheuklappen in dieser Wissenschaft sind, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, wie sehr sich „ihre“ Ökonomie digital wandelt, und wo die Herausforderungen liegen, um das Wettbewerbsumfeld zu schützen und den neuen Entwicklungen anzupassen. Bis sich die Gesetzgebung dann darauf einstellt, sind schon längst Tatsachen geschaffen: neue Oligopole und Monopole.

Diese Verfehlungen in der Gegenwart – das Zulassen von immer größer werdenden Einkommens- und Vermögensungleichheit, die Etablierung einer Finanzaristokratie inmitten einer Marktwirtschaft, das Versagen bei der Regulierung der digitalen Welt – hat die Menschen der Marktwirtschaft entfremdet. Sie schenken dem Werben aus Wirtschaft und Wissenschaft für freie Märkte und dem Wettbewerb keinen Glauben mehr. Zumal die Erfolge Chinas ihnen ja auch vorführen, dass die Menschen mit einem staatlich eingeschränkten Wettbewerb ja auch nicht schlecht fahren, dem Westen sogar die Produktionsmittel (Patente, Technologie, Unternehmen) von chinesischen (Staats-)Unternehmen weggekauft werden – und dies ohne Demokratie im Land.

Auch hier haben Unternehmen und Ökonomen zu lange weggeschaut und unterschätzt, wie das „Vorbild China“ auf die hiesigen Gesellschaft wirkt und deren Erfolge im Denken abfärben. Plötzlich scheinen paternalistische oder sozialistische Kommandowirtschaften wieder attraktiv, während die Schwächen der demokratischen Gesellschaften immer stärker in den Vordergrund treten. Insofern schlagen die Loblieder, die über Jahre auf Asien und China gesungen wurden, weil man Umsatz- und Handelserfolge erzielen konnte, plötzlich wieder zurück.

Das lässt die Bürger in demokratischen Staaten am Nutzen der reinen marktwirtschaftlichen Lehre und am Freihandel zweifeln; und der demokratischen Staat kommt in Bedrängnis, weil der nicht in der Lage zu sein scheint, den aktuellen Herausforderungen adäquat zu begegnen, sich ausnehmen lässt von autokratischen Regimen, Digitalkonzernen und einer Finanzaristokratie.

Um das verlorengegangene Vertrauen in die Marktwirtschaft und die Demokratie zurückzugewinnen, und die nationalistischen, populistischen und separatistischen Gruppierungen auch hierzulande zurückzudrängen, braucht es deshalb eine Neubesinnung auf die „Werte des Westens“. Und das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern auch der Wirtschaft und der Wissenschaft. Es geht darum der wachsenden Ungleichheit zu begegnen – und nicht darum, sie bis zur Selbstverleugnung zu verteidigen oder einfach wegzudefinieren. Es geht darum, den Boni-Exzessen einen Riegel vorzuschieben, etwa, indem man analog Zahlungen in entsprechender Höhe an alle Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens zur Verpflichtung macht. Manche deutsche Autohersteller machen das durchaus vor. Und es geht darum, die Liberalität und Freiheit des Marktes zu verteidigen nicht nur gegen den Staat wie bisher, sondern auch gegenüber Unternehmen, die sich als gemeinwohlorientiert darstellen, in Wahrheit aber wie Facebook ein Überwachungs- und Werbekonzern sind.

Viel zu spät wurden die analogen Regeln und Gesetze der digitalen Veränderung angepasst. Und besser heute als morgen muss die Politik Vorschläge ausarbeiten, wie beim Steuerrecht und der Soziale Sicherung entsprechend reagiert. Ob eine Digitalsteuer hier das richtige Instrument ist, darf bezweifelt werden. Wichtig wäre eine – durchaus riskante – aber allumfassende Reform, welche für die analoge wie die digitale Sphäre gleichermaßen gilt.

Signalisiert der Staat, dass er – stets die Sicherheit und Wohlfahrt seiner Bürger im Blick und bereit, diese auch robust zu verteidigen, selbst unter Inkaufnahme von Nachteilen auf anderem Gebiet – sich hier auf den Weg macht, die Marktwirtschaft und Ordnungspolitik neu aufzustellen, dürfte er das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Das bewahrt den freien Markt – und sichert obendrein unsere Demokratie.

Ökonomen ohne Kompass

Der Wettbewerb als konstituierendes Element der Marktwirtschaft kommt unter die Räder – Wirtschaftswissenschaftler als Anwälte von Oligopolen – Digitalwirtschaft verlangt neues Denken

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Wettbewerb – darum dreht sich alles in der Ökonomie. Es ist der zentrale Mechanismus, ohne den die Marktwirtschaft ihren Namen nicht verdienen würde. Denn ohne die nötige Rivalität auf dem ökonomischen Marktplatz würde der Anreiz zu möglichst innovativen und qualitativ hochwertigen Produkten und Prozessen fehlen, und der Druck auf die Preise würde nachlassen. Aus Sicht der Ökonomen ist dabei entscheidend, dass sich der Staat möglichst weitgehend zurückhält, um die Marktverzerrung möglichst gering zu halten. Je geringer öffentlicher Einfluss, desto besser für die Preisbildung als Steuerungsmechanismus. Hohes Wachstum, mehr Wohlstand sind die Folge. So lautet zumindest das Mantra der Mehrzahl aller Ökonomen im westlichen Kulturkreis.

Doch inzwischen sind Zweifel angebracht, ob die ökonomische Zunft den „Wettbewerb“ weiterhin so absolut ins Zentrum rückt, wie in den Zeiten, als die Meinung vorherrschte, dass das Gemeinwohl in der Marktwirtschaft durch Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung zu erreichen ist. Diese Kampfbegriffe hatten sich tief in die Programme der politischen Parteien hinein gegraben.

Inzwischen erscheint die „Größe“ eines Konzerns etwa auf dem digitalen Markt viel wichtiger, und nimmt man sogar Oligopole und Monopole hin, weil das als geradezu konsumentenfreundlich gilt. Der Präsident der Monopolkommission, Achim Wambach, fabulierte jüngst in einem Interview, die Fusion von Unitymedia und Vodafone schaffe einen großen neuen Spieler auf dem Breitband-Markt, was den Wettbewerb dort beleben werde. „Das wird eine positive Wirkung auf den Breitbandausbau haben.“ Allenfalls bei der Übertragung von TV-Programmen über das Kabel könne es „Probleme“ geben.

Auch bei den Internetkonzernen hat sich eine gewisse wettbewerbspolitische „Beißhemmung“ breitgemacht mit dem Argument, der digitale Markt funktioniere schlicht anders, sei mit herkömmlichen Regularien nicht zu analysieren, würde sich ohnehin erst ausformen; außerdem würden Regulierungen oder eine Zerschlagung von Konzernen zu großer Marktmacht die Innovationsdynamik ersticken. Und schließlich laufe es ja gut – den Kunden entstünden keine Nachteile, weil die meisten Dienste ja kostenfrei seien und sich die Vorteile erst durch Bündelung auf Plattformen breitmachen könnten. Mit dieser Argumentation könnte man sogar einer Verstaatlichung das Wort reden, natürlich nur bei einem Staat, der wie Apple, Google oder Faceboot nur das Gute will.

Hat sich die moderne Ökonomie also nur den neuen Gegebenheiten angepasst? Gelten die bisherigen Grundsätze nicht mehr, wonach Wettbewerb unter allen Umständen geschützt bzw. wiederhergestellt werden muss, um eine faire Preisbildung zu ermöglichen? Oder mangelt es der modernen Ökonomie, die so gerne der Politik die Leviten liest, einfach an ordnungspolitischen Grundsätzen, weil sie sich zu sehr vor den Karren der Konzerne spannen lassen und deren Argumentationen aufnehmen?

Mit der Finanzkrise hatten die Wirtschaftswissenschaftler bereits ihre erste Kehrtwendung vollzogen. Der Zunft wurde schlagartig klar, dass „der Staat“, den sie bisher verteufelt und möglichst aus Spiel halten wollten, nicht per se zu den „Bösen“ zählt. Die einschlägigen Forderungen nach mehr „Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung“ galten als überzogen. Und in der Tat ist der Staat eben nicht immer Bremser, Absahner und Akteur, der nur falsche Anreize setzt und damit Sand ins ökonomische Getriebe streut, die Akteure abhält, ihre Innovationskraft und ihren Ehrgeiz auszuleben. Ohne die nötige Rahmengesetzgebung, welche die Wirtschaft etwa davor schützt, den Wettbewerb auszuhebeln oder dem Staat die Risiken aufzubürden, der für gleiche Wettbewerbsverhältnisse und den humanen Umgang mit den Mitarbeitern sorgt, geht es nun einmal nicht. Auch muss jemand natürlich unterbinden, dass es in einem Wettbewerbsumfeld zu Monopolisierungstendenzen kommt.

Denn Unternehmen haben ein natürliches Interesse, die Härten des Marktes zu mildern – etwa durch Kartelle oder durch schiere Größe mit damit einhergehender politischer Macht. Das wird dann natürlich stets argumentativ verbrämt etwa mit dem Hinweis, dass man schließlich im Weltmaßstab denken müsse und der deutsche/europäische/transatlantische Markt natürlich längst zu klein ist für die globalisierte Wirtschaft, und dass Skalenvorteile habe nötig sind – und das letztlich auch den Kunden zugutekomme.

Letzteres wird gerne bei Unternehmenszusammenschlüssen angeführt, wie jüngst bei der angestrebten Fusion zwischen Vodafone und Unitymedia. Hatten die beiden zuvor noch die Deutsche Telekom ins Visier genommen und über Wettbewerbsnachteile geklagt etwa wegen Blockaden beim Netz der Telekom, hat sich jetzt die gedreht und es wird nur noch über die Vorteile für die Kunden geredet.

In dieser Haltung, die von immer mehr Ökonomen eingenommen wird, scheinen die argumentativen Narrative der großen Konzerne auf. Das zeigt sich auch bei der Digitalisierung. Schon seit längerem schwingen sich Wirtschaftswissenschaftler auf mit Forderungen, der Staat müsse sich bei dem neuen digitalen Markt tunlichst heraushalten. Jeder Versuch einer Regulierung wie mehr Datenschutz oder sozial- und gesellschaftsrechtlicher Verpflichtungen wird vielfach als untauglich, wettbewerbsverzerrend und standortschädlich charakterisiert. Gerade bei der Neubildung eines Marktes, dürfe der Staat dem freien Spiel der Akteure nicht im Wege stehen, heißt es.

Das ist richtig, doch längst sind Google, Facebook und Amazon zu gigantischen Markt dominierenden Digitalkonzerne herangewachsen und haben jeden Wettbewerber förmlich aufgesaugt. Viel zu spät hat hier das Wettbewerbsrecht reagiert und die Eingriffsschwelle gesenkt. Auch die Bürger hatten die Entwicklung viel zu sorglos betrachtet. Während jeder Versuch des Staates, mehr Kompetenzen bei der Datenanalyse zu erhalten, mit Massendemos erstickt wurde, lieferten die Kunden (und Demonstranten) Facebook & Co. die Daten frei Haus und erfreuten sich deren „kostenloser“ Dienstleistungen.

Nun steht die Datenschutzgrundverordnung der EU an, und wieder ist die Spitze der Kritik an die Politik gerichtet, weil das Ganze zu kompliziert, zu aufwändig und gegenüber anderen Hoheitsgebieten wie den USA und Asien schädlich für den Wettbewerb sei. Außerdem würde die Innovationskraft geschädigt; Investitionen würden aus Europa verlagert, wenn es darum geht, die Datenwirtschaft voranzutreiben.

Netzökonomien funktionieren in der Tat nach etwas anderen Gesetzmäßigkeiten. Das gilt für jene, die physische Netze ausspannen für Öl, Gas und die Telekommunikation, genauso wie für jene, die direkt mit digitalen Gütern handeln wie Google & Co. und obendrein als virtuelle Plattform dienen wie AirBnB oder Facebook. Bei ersterer Kategorie hat sich ein Modus-vivendi bei der Regulierung eingespielt. Es geht um Durchleitung, um Lizenzen und eine strenge Form der Ausschreibung. Bei den digitalen Gütern und Plattformen hat sich indes noch keine allgemein verbindliche Umgangsform herausgebildet.

Aber klar muss sein: Zum einen müssen auch die Digital- und Plattformkonzerne im direkten Wettbewerb wie die „traditionelle“ Wirtschaft die gleichen Pflichten erfüllen, was etwa Haftung und soziale Sicherung angeht. Zum anderen ist dafür Sorge zu tragen, dass die verbrieften Grundrechte nicht verletzt werden. Das gilt etwa für den Datenschutz und die Steuerpflicht. Umso fataler ist die Zögerlichkeit bei der Durchsetzung der geltenden Bestimmungen, weil den digitalen Konzernen dadurch Vorteile gegenüber der etablierten Wirtschaft erwachsen. Und schließlich muss der Wettbewerb als konstituierendes Element gewährleistet und geschützt werden.

Es wäre die noble Aufgabe der Ökonomie hier an einer Ordnungspolitik zu arbeiten, welche die (grund-)rechtliche, soziale, steuerliche Pflichten der Digitalkonzerne ebenso mit einbezieht wie die tradierten Normen für die bisherigen Formen der Ökonomie. Die haben sich nämlich in der Sozialen Marktwirtschaft durchaus bewährt – zum Vorteil aller „Stakeholder“. Und selbst unter Berücksichtigung der neuen (?) Gegebenheiten von Netzwerk- und Plattformeffekten, den anderen Anreizeffekten einer Share- und Kostenlosökonomie muss klar sein, dass der Wettbewerb der Akteure auf dem Marktplatz nicht ausgehebelt werden darf – unter welchem Umständen und mit welchen Ausreden auch immer. Ansonsten könnte man gleich ein Loblied auf den schrankenlosen Frühkapitalismus oder der Staatswirtschaft anstimmen. Denn die wären dann nicht mehr weit.

Wasser auf die Mühlen des Anti-Amerikanismus

US-Behörden setzen Recht auf deutschem Boden durch – Sorge vor ökonomischen Folgewirkungen

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist schon länger angeknackst. Die Spionagetätigkeiten des US-Geheimdienstes NSA in Deutschland, das Abhören des Telefons von Kanzlerin Angela Merkel und die Missachtung deutscher sowie europäischer Parlamentarier bei den Gesprächen über das transatlantische Handelsabkommen TTIP haben die beiden Länder einander entfremdet. Von den früheren Wunden, die der Vietnam-Krieg, der Afghanistan-Krieg oder der zweimalige Einmarsch in den Irak geschlagen haben, ganz zu schweigen. Der schwelende Anti-Amerikanismus hierzulande gewinnt ohnehin immer mehr an Boden.

Ein neuer Beleg geradezu hegemonialen US-Gebarens, wie ihn nun die FAZ und das TV-Magazin „Panorama“ offengelegt haben, dürfte diese Entwicklung noch beschleunigen und die westliche Welt weiter auseinandertreiben. Bislang konnten die USA noch einen Vertrauensvorschuss in Anspruch nehmen wegen ihrer demokratischen Verfasstheit und Rechtsstaatlichkeit sowie der gemeinsamen westlichen Wertebasis. FAZ und „Panorama“ zeigen nun aber, dass US-Behörden nicht einmal mehr das Recht von Verbündeten, Handelspartnern und Freunden achten, sondern sich darüber hinwegsetzen und ihre eigene Rechtsauffassung auf dem Boden anderer souveräner Staaten exekutieren, Wohlverhalten gar durch Nötigung und Sanktionsdrohung durchsetzen. Weil zwei Mitarbeiter deutscher Unternehmen im Iran-Handel aktiv waren, so schildert es die FAZ, wurden sie 2014 auf eine „Schwarze Liste“ wegen „Terrorfinanzierung“ und „Proliferation“ gesetzt. Dabei waren die Geschäfte nach hiesiger Rechtslage legal. Selbst die Tatsache, dass die Bundesbank nach eingehender Prüfung grünes Licht gab, half nicht. Die Unternehmen, die Deutsche Forfait AG und die Commerzbank, trennten sich von ihren Mitarbeitern. Aber selbst danach war jenen dann kein normales Leben mehr beschieden, schreibt die FAZ. Ihr Verbleib auf der Liste der „Specially Designated Nationals“ schloss die beiden etwa vom Erwerb eines iPhone aus oder verhinderte, dass Spediteure für sie beauftragt werden konnten. Die Firmen verweigerten ihre Dienste mit Hinweis auf die Liste.

Das ist Wasser auf die Mühlen des deutschen Anti-Amerikanismus. Die Gefahr ist groß, dass dadurch neben dem politischen Flurschaden im Zuge der nationalzentrierten US-Wirtschaftspolitik unter einem US-Präsidenten Trump nun auch die immens wichtigen Handelsbeziehungen leiden können. Deutsche Investitionen in den USA scheinen nicht mehr sicher. Zumindest hier hätte TTIP also schützend gewirkt.

Längst werden die USA hierzulande nicht mehr als „Befreier“ oder „freiheitliches Vorbild“ angesehen, wie eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (siehe Grafik) ergeben hat. Nach wie vor gelten die USA aber, das zeigt eine Umfrage von TNS Infratest für die Körber-Stiftung, als „wichtigster Partner für die deutsche Außenpolitik“ – fast gleichauf mit Frankreich. Russland folgt hier aber schon auf dem Fuße.

Je mehr die USA sich entfernen, desto mehr neigen die Deutschen wieder Russland zu. Während die Empörung über die USA im Zuge der Trump-Wahl und von TTIP besonders hohe Wogen geschlagen hatte, fehlt es an entsprechendem Verhalten hierzulande, wenn es um die Annektion der Krim geht, die Bombardierung Aleppos oder mögliche Hacker- und Bot-Attacken aus den Tiefen des russischen Cyberspace. Manche US-Kritiker sehen im Verhalten Washingtons schon den Versuch, die Europäer von den Märkten im Nahen Osten und in Russland fernhalten zu wollen, weil man sie selbst aufrollen möchte. Vorwurf: Wirtschaftsimperialismus.

Ist die Freundschaft zwischen den USA und Deutschland wirklich so unverbrüchlich wie in Feierstunden gern dargestellt, wäre es an der Zeit, das offene Wort zu pflegen und Selbstkritik zu üben: Die Amerikaner müssen über ihre Wertvorstellungen und ihr politisches Handeln nachdenken, die Deutschen über den schlummernden Anti-Amerikanismus, der vergessen macht, was sie den USA bis heute zu verdanken haben – politisch, ökonomisch, weltanschaulich. Nicht nur Politiker, auch Vertreter der Wirtschaft sollten hier ihre mahnende Stimme erheben. Denn ökonomisch steht viel auf dem Spiel.

Konjunkturelles Siechtum voraus?

Die konjunkturelle Erholung verläuft nur schleppend, weil die Notenbanken eine echte Reinigungskrise verhindern. Die Menschen müssen sich um die Zukunft sorgen.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

So richtig schlau werden Konjunkturbeobachter nicht, wenn sie derzeit auf die globalen Stimmungsindikatoren blicken: Optimistische Umfrageergebnisse wechseln sich in Europa, den USA und den Emerging Markets mit enttäuschenden ab. Auch die harten statistischen Daten sind ohne klare Richtung. Deutschland sticht aus diesem Feld überaus positiv heraus. Das zeigt mit Blick nach hinten der in einigen Regionen inzwischen leergefegte Arbeitsmarkt. Und die jüngsten Befragungen von Unternehmern und Einkaufsmanagern lassen mit Blick nach vorn auf die nächsten sechs Monate sogar eine regelrechte Euphorie durchschimmern. Deutschlands Wirtschaft, so resümierte das Markit-Institut, das die Einkaufsmanagerbefragungen durchführt, kehre „wieder auf die Überholspur zurück“.

Aber kann man diesen Einschätzungen tatsächlich glauben vor dem Hintergrund des blutleeren globalen Wachstums und der schwachen Dynamik des Welthandels? Und der politischen Risiken, die sich allerorten zusammenballen – in den USA und vor allem in Europa, wo es um nicht weniger als die Zukunft der Gemeinschaft geht. Wie sollte sich die Exportnation Deutschland hier abkoppeln können? Angesichts der Tatsache, dass die Notenbanken weltweit die Zinsen in bisher nicht gekanntem Ausmaß nach unten geschleust haben und den Staaten die Anleihen förmlich aus der Hand reißen, geht es historisch betrachtet sogar auch in Deutschland erstaunlich zäh voran. Als läge ein beklemmender Albdruck auf der Konjunktur.

Ein Blick auf die Teuerung zeigt das ganze Ausmaß dieser verfahrenen Situation: Nur weil der Basiseffekt der Energiepreise etwas nachlässt, reckt die Inflation wieder ihr Haupt. Die unterliegende Entwicklung bleibt indes gedämpft. Selbst das lange Ende der Renditekurve robbt an die Nulllinie heran. Das ist nicht allein auf die lockere Geldpolitik zurückzuführen. Vielmehr rechnen Beobachter auch in der langen Perspektive inzwischen nur noch mit einem eher gedämpftem Wachstum. Das widerspricht den positiven Bekundungen bei Unternehmensbefragungen.

Manche Ökonomen vermuten hinter dieser verworrenen Lage das Phänomen der „säkularen Stagnation“. Durch die technologische und demografische Entwicklung, die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft und infolgedessen der Kapitalballung bei vermögenden, saturierten Haushalten fehle es eben an der nötigen Wachstumsdynamik. Die Verunsicherung durch politische Krisen in Nahost, die Sorge vor einem neuen kalten Krieg mit Russland sowie die – nicht zuletzt durch den Brexit – fragile Lage der EU kommen hier noch erschwerend hinzu. Das lässt Investoren und Konsumenten zweifeln und abwarten. Der vielerorts um sich greifende Protektionismus und Nationalismus macht es dem Wachstum in Zukunft sogar noch schwerer. Schließlich benötigen die Marktwirtschaften der Industrieländer und der Emerging Markets offene Märkte, klare Regeln und stabile Verhältnisse.

Alle diese Widerstände könnten aufgebrochen werden, wenn die Politik schnell handeln und mit konzertierten Reformen den Menschen wieder Zukunftshoffnung einimpfen würde. Stattdessen scheinen die Regierungen aber – vor allem in Europa – in einem Nash-Equilibrium festzustecken. Dieser Begriff aus der Spieltheorie beschreibt die Situation, in der niemand einen Anreiz hat, von seiner Strategie des Abwartens abzuweichen. In der aktuellen Situation sind es die Notenbanken, die den politischen Stillstand zementieren. Unter anderen Umständen würde die derzeit schleppende Konjunktur politische Reformen geradezu erzwingen. Wachstumsbremsen würden beseitigt. In unserer Wirklichkeit werden die Staaten von den Notenbanken aber quasi durchfinanziert und ihre Schuldenlast wird abgemildert. Der Veränderungsdruck ist also gering. Ein schwaches Wachstum reicht schon aus, die Wählerklientel bei Laune zu halten.

Der frühere Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn spricht von einem „sich selbst produzierenden Siechtum“, weil die Notenbanken eine Reinigungskrise verhindert haben und aus falsch verstandener Verantwortung die Entgiftung weiter blockieren. Das gilt für Europa genauso wie für die USA und Japan. Die nächste Krise wird die Volkswirtschaften dann aber mit umso größerer Wucht treffen. Denn die Nebenwirkungen der ultralockeren und unkonventionellen Geldpolitik fressen sich bereits in alle Verästelungen der Volkswirtschaften hinein, manipulieren den Preismechanismus, destabilisieren die Finanzsysteme und verwässern das Grundvertrauen in die Geldordnung. Die Sorgen vor einer neuen Krise steigen – und lasten dann noch mehr auf der Konjunktur. Das lässt die Geldpolitik ins Leere laufen, was deren Akteure aber zu noch unkonventionellerem Handeln anspornt.

Um eine große Krise zu verhindern und zugleich den Teufelskreis konjunkturellen Siechtums zu durchbrechen, müssten die Notenbanken sich daher offen zu den Grenzen ihrer Macht bekennen, den Schleier der geldpolitischen Illusion zerreißen und eine Kehrtwende einleiten. Das würde die Politik zum Handeln zwingen – und den Menschen vor Augen führen, dass das System der Marktwirtschaft doch zur Selbstkorrektur in der Lage ist. Schon weil es dann wieder eine Perspektive gibt, das Umfeld berechenbar erscheint und der Preis seine Funktion erfüllen kann, könnte dieser Hoffnungsfunke einen neuen Wachstumszyklus auslösen.

Deutschlands Integrationsproblem

Auch viele Monate nach dem Beginn der großen Flüchtlingswelle nach Europa stochern Ökonomen immer noch im Nebel, was die ökonomischen Auswirkungen angeht. Nur eines ist klar: Die Integration muss sehr schnell sehr viel besser werden. Die Flüchtlingswelle erfordert ein Umdenken in der Verwaltung – und der Sozialstaat muss vor Auszehrung geschützt werden.

Nach den ersten geradezu euphorischen Äußerungen von Volkswirten und Unternehmenschefs über die möglichen ökonomischen Folgen des anhaltenden Flüchtlingsstroms für Deutschland ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt. Neueren Berechnungen zufolge waren nicht nur die rein fiskalischen Kostenschätzungen zu optimistisch angelegt, auch Hoffnungen auf eine demografische Dividende zerplatzen. Das Statistische Bundesamt wies darauf hin, dass der Trend der alternden Bevölkerung durch die Flüchtlinge nicht umgekehrt wird. Allenfalls könnten Tempo und Ausmaß gemindert werden. Manche Fachleute wie der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen warnen sogar, dass durch die Zuwanderungswelle die Finanzierungsprobleme eher wachsen.

Einig sind sich alle Ökonomen, dass es nun vor allem auf die Integration der zugewanderten Menschen ankommt. Und hier hat Deutschland ein hartes Stück Arbeit vor sich, ist es in der Vergangenheit doch gerade daran gescheitert. Während sich einer Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge die Zuwanderung für viele Länder fiskalisch sogar als Gewinn herausgestellt hat (siehe Grafik), was zum Teil auch mit der soziokulturellen Struktur der eingewanderten Menschen zu tun hat, zahlte Deutschland unterm Strich drauf. Zwischen 2007 und 2009 betrugen die staatlichen Mehrausgaben mehr als 1 % des Bruttoinlandsprodukt (BIP). Um die gegenwärtige Flüchtlingswelle zu verkraften, müssten sich die Strukturen also schon grundlegend wandeln.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der UNHCR, das Flüchtlingswerk der UN, haben in einer jüngst vorgestellten Studie die Notwendigkeit einer aufeinander abgestimmten Integrationspolitik noch einmal unterstrichen. Es seien „erhebliche Investitionen“ nötig, betonte OECD-Generalsekretär Angel Gurría, um die Qualifikationen der Flüchtlinge anzupassen und weiterzuentwickeln: „Auf kurze Sicht mag dies schwer und kostspielig sein, mittel- und langfristig werden wir aber alle davon profitieren.“ Die Analysen zeigten, welchen Gewinn erfolgreiche Integration für die Wirtschaft und Gesellschaft bringen könne. Je eher Flüchtlinge die nötige Unterstützung erhielten, desto besser sei ihre Integrationsperspektive.

Streitpunkt Mindestlohn

Der schnelle Zugang in die Beschäftigung ist vor diesem Hintergrund die entscheidende Stellschraube. Der IWF schlägt in seiner Studie neben den Integrationsprogrammen etwa eine staatliche Subvention von Lohnkosten und eine vorübergehende Senkung des Mindestlohnes vor. Die Furcht vor einem größeren Lohndruck durch die arbeitssuchenden Flüchtlinge hält der IWF für übertrieben. In der Vergangenheit habe man „kaum negative Folgen für Löhne und Arbeitsplätze festgestellt“.

Die Gewerkschaften sind davon nicht überzeugt. Kommen neue Jobsucher auf den Markt, erhöht sich schließlich zunächst die Zahl der Arbeitslosen, was die Position der Arbeitgeber stärkt und den gesellschaftlichen Druck auf die Gewerkschaften erhöht, niedrigere Einstiegslöhne der guten Sache willen zu akzeptieren. Deshalb betonen sie auch immer wieder, dass am Mindestlohn in Deutschland nicht gerüttelt werden dürfe und es vielmehr gerade „gerecht“ sei, wenn auch Flüchtlinge den Mindestlohn erhielten.

Doch dann muss der Sozialstaat einspringen und den Lebensunterhalt der Menschen finanzieren, die an der Lohnschwelle scheitern. Das öffnet ein neues Problemfeld: Ohne flexiblere Arbeitsmärkte und ohne Regeln, die den Sozialstaat vor Auszehrung schützen, kann das Experiment nicht gelingen, sagt Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn. Er warnt vor einer „Migration in den Sozialstaat“ und fordert eine klare Unterscheidung zwischen jenen, die einzahlen oder eingezahlt haben, und jenen, die sogleich in den Genuss der Leistungen kommen (wollen). Sozialstaaten, so Sinn, seien insofern „grundsätzlich nicht kompatibel mit der freien Wanderung der Menschen zwischen den Staaten“. Der „Sozialmagnetismus“ erodiere und lädiere die Sozialstaaten. Deshalb böte es sich an, wenigstens von den Lohnersatzleistungen, die ohne Arbeit zur Verfügung gestellt werden, zu einem System mit Lohnzuschüssen und Leistungen für kommunale Arbeit überzugehen. Das senke die Nettokosten der Leistungen – und verringere die Migrationsanreize.

Die Macht des Finanzkapitalismus

Wie Staatsverschuldung und Geldpolitik die Realwirtschaft in die Zange nehmen

Von Stephan Lorz

Die Debatte trieft vor Verlogenheit: Frankreich, Italien und – natürlich – Griechenland haben die Bösewichte ausgemacht, die ihren fiskalischen Bewegungsradius einschränken und – nach ihrem Verständnis – damit Wohlstand, Wachstum und Fortschritt gefährden. Zum einen die Finanzmärkte, weil sie ihnen höhere Zinsen abknöpfen und die Finanzierung der Defizite glatt verweigern (können). Deshalb ihre Forderung, die Notenbank hätte doch die Pflicht, die Staatsfinanzierung sicherzustellen. Zum anderen die deutsche Bundesregierung, weil diese auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen besteht. Nur durch entsprechendes fiskalisches Wohlverhalten, argumentieren die Deutschen, könnten die von den Finanzmärkten kritisch beobachteten Länder sich wieder das nötige Vertrauen erarbeiten und auf diese Weise wieder mehr fiskalischen Bewegungsspielraum erhalten. Alles Falsch! tönt es aus Paris, Rom und Athen. Nur höhere Staatsausgaben würden höheres Wachstum ermöglichen, was wiederum die Tragfähigkeit und Finanzierung der Staatsverschuldung verbessert und sicherstellt. Austeritätspolitik wird als Ursprung aller Not dargestellt – eine durch und durch verlogene Haltung. Denn es war die überhöhte Verschuldung, welche die sich jetzt über „Austerität“ beklagenden Länder erst in ihre unangenehme Situation gebracht haben.

Noch schlimmer: Erst durch ihr eigenes Handeln hatten die Regierungen in Paris, Rom, Athen  und anderen Staaten die Macht jener Finanzakteure erst konstituiert. Denn mit ihren immer höheren Haushaltsdefiziten haben sie sich ja selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Gläubigern begeben, und zugleich so hohe Kreditvolumina in den Markt gepumpt, die – zusammen mit der Deregulierung des Finanzsektors – den Charakter des Kapitalismus nachhaltig verändert haben. Die Finanzmärkte sind aufgrund ihrer neuen Dimension seither nicht mehr Diener der Realwirtschaft, als die sie sich über Jahrzehnte verstanden hatten, sondern wurden selbst zur dominierenden Macht. Die niedrigen Zinsen im Euroraum tragen ihrerseits auch noch dazu bei, dass die Macht der Investoren und Gläubiger weiter ausgebaut und zementiert wird: Der Konsolidierungsdruck lässt nach, die Notenbanken drücken zusätzliche Finanzvolumina in den Markt und nehmen mit ihren Anleihekäufen den Finanzakteuren das Risiko aus der Hand, was zu dramatischen Fehlallokationen führt und den Regierungen die Verschuldung weiter erleichtert.

Aufgebläht durch das „Schuldgeld“ ist weltweit eine Art Kreditökonomie entstanden, die eher auf kurzfristige Rendite abstellt als auf Nachhaltigkeit. In dieser Welt erscheinen Bilanz optimierende Kennzahlen wichtiger als Produkt- und Prozessinnovationen,  Finanzprodukten wird realwirtschaftlichen Gütern immer der Vorrang eingeräumt. Das schlägt sich auch in den Eckdaten der globalen Wirtschaft nieder: Betrug das Handelsvolumen der weltweiten Finanzmärkte Anfang der neunziger Jahre noch etwa das 15-Fache der realen Wertschöpfung, lag dieser Wert im vorvergangenen Jahr schon bei über dem 70-Fachen –trotz Finanzkrise und neuen Regulierungen. Schon das schiere Volumen lässt erahnen, das Wirkungen auf die Realwirtschaft nicht ausbleiben können.

Diese Entwicklung schlägt sich auch auf das Finanzvermögen nieder, das vor allem von bereits vermögenden Personen gehalten wird: Hatte es in den USA und Deutschland in den siebziger Jahren noch bei 80% der Nettowertschöpfung gelegen, während das Realvermögen 200% erreichte, kommen jetzt beide auf den 200er Wert. Stephan Schulmeister, Ökonom beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut, sieht nicht zuletzt darin den Grund für die zunehmende Ungleichheit: Die Lohnquote sinke, die Kapitalquote steige.

Inwieweit die Unwucht zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft tatsächlich die Ungleichheit erhöht, darüber streitet sich indes die Wissenschaft. Der Kernthese des französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge ist die Kapitalrendite tendenziell immer höher als die Realrendite, weshalb Kapitalvermögen schneller wachsen und Ungleichheit insofern kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus sei. Hans-Jörg Naumer, Ökonom bei Allianz Global Investors, kommt von seiner Warte aus zu einem ähnlichen Schluss: ,,Deutlich mehr als jeder zweite Dollar, der durch das Einkommen generiert wird, fließt an die Kapitaleigner.‘‘ Seine Schlussfolgerung aber ist nicht der marxistische Umbau des Kapitalismus, sondern der Aufruf an alle Sparer,mehr auf Produktivkapital zu setzen.

Viele Annahmen Pikettys zur Unterstützung seiner These sind recht fragil, die zunehmende Bedeutung von Kapitalvermögen ist aber eine Tatsache. Hinzu kommt: Auch die jüngsten technischen Innovationen bevorzugen eher Investoren und Unternehmer, weil die neuen digitalen Produkte den Faktor Arbeit globalisieren, die Profite aber vorwiegend die Unternehmen selbst und deren Manager einstreichen. Die immer kapitalintensivere Produktion (Roboter) trägt noch mehr zur Schieflage bei, weil selbst gut ausgebildete Fachkräfte künftig mit dem Weltmarktpreis von Kapitalinvestitionen konkurrieren.

Womöglich wird durch die wachsenden Kapitalvolumina und die zunehmende Ungleichheit auch das Wirtschaftswachstum selbst niedergehalten, wie der Ökonom, Larry Summers mit seiner These von der,,säkularen Stagnation‘‘ vermutet. Denn die kaufkräftige Mittelschicht wird ausgezehrt, wie sich bereits in den USA beobachten lässt.

Eine Umkehr der Entwicklung ist nicht absehbar. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge nimmt die globale Verschuldung weiter zu. Seit 2013 wächst auch das Volumen der Finanztransaktionen wieder schneller als die Realwirtschaft, wie der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, konstatiert. Er bezweifelt zudem, dass dies jene Allokationsvorteile mit sich bringt, mit denen der Finanzsektor gerne argumentiert, wenn es um höhere Liquiditäten durch immer neue Derivatebenen geht. Die ultralockere Geldpolitik, die durch den jüngsten Zinsschritt der US-Fed ja noch nicht beendet ist, verstärkt die Dynamik noch weiter, weil noch mehr billiges Geld in die Märkte drückt, ohne direkt der Realwirtschaft zugute zu kommen.

Die Entwicklung ist also noch nicht beendet, und niemand weiß, wohin sie führt. Hat der Kapitalismus bereits das Stadium der „Überakkumulation“ erreicht, das sein Ende herbeiführen wird, wie der Kommunist Karl Marx vorhersagte? Oder wird sich die Gesellschaft sukzessive vom bisherigen Wirtschaftssystem abwenden, weil es für die Masse der Bevölkerung keine Vorteile mehr zu erbringen scheint, wenn nur kleine Gruppen davon profitieren? Oder braut sich nur eine neue gigantische Krise zusammen, die das Blatt völlig neu mischt? Wie könnte sich ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht herausbilden und aussehen? Jene Intellektuellen aber, von denen man Aufklärung oder zumindest eine Debatte erwartet wie Philosophen, Politologen, Soziologen oder Historiker, sie sind stumm, haben ihren Einsatz verpasst. Selbst in diesen gesellschaftlichen Fragen führen Ökonomen das große Wort.