Von Stephan Lorz
Google, Apple, Facebook und Amazon durchdringen immer mehr Schichten der Wirtschaft und legen sich zwischen Konsument und Hersteller. Dass die Google-Tochter Wymo, die das autonome Fahren erforscht, nun an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel die Internationale Autoausstellung in Frankfurt eröffnen durfte, ist ein untrügliches Zeichen, dass die etablierten Hersteller immer weiter in den Hintergrund gedrückt werden. Die US-Digitalkonzerne übernehmen das Steuer. Auch in der Unterhaltungsindustrie, im Handel, selbst in der Finanzindustrie und sogar der Geldpolitik (Stichwort: Libra) geht das in diese Richtung. Erst jetzt wachen die Kartellwächter auf — in den USA, aber langsam auch in Europa. Wie konnte es so weit kommen?
Man stelle sich vor: der Burda-Verlag hätte es vor Jahren darauf angelegt zu einem deutschlandweiten Nachrichtennetzwerk zu werden und sich dabei immer mehr andere Nachrichten- und Blogseiten einverleibt. Hätte das Kartellamt dabei stillgehalten? Wohl kaum! Bei verschiedenen kleineren M&A-Vorhaben in der Branche hatte sich das ja immer wieder gezeigt. Oder der Versandhändler Quelle hätte seinerzeit einen europaweiten digitalen Marktplatz aufgezogen, wo er zudem geduldet hätte, dass es manche Händler mit Zöllen, Steuern und Markenrechten nicht so genau nehmen. Die Entrüstung wäre riesengroß gewesen, die Politik hätte sich eingeschaltet. Und neben dem Kartellamt wären auch sofort Zoll- und Steuerbehörden tätig geworden. Ermittlungen, Anklagen, einstweilige Verfügungen. Oder man halte sich vor Augen, die Deutsche Schufa hätte ihre Datensammelaktivitäten schon vor Jahren auf jegliche Adressen ausgeweitet; oder die Telekom hätte sich als machtvoller Anbieter und Suchmaschinenbetreiber etabliert und obendrein in jedem Haushalt ihre Internet- und WLan-Box so verändert, dass sie auch Sprachbefehle entgegennimmt für Bestellungen und Serviceanfragen. Und obendrein wären die aufgefangenen Audiofiles von Heimarbeitern von zu Hause auf Verwertbares durchforstet worden — natürlich nur um den Algorithmus zu verbessern. Nicht auszudenken! Längst wäre die Regulierungsbehörde aktiv geworden, hätten die Datenschutzbehörden eingegriffen. Von Entbündelung und Beschränkungen wäre die Rede gewesen. Oder die einst stolze Deutsche Bank hätte sich vor Jahren erdreistet, aus Zweifel an der Stabilität des Euro eine digitale Bündelwährung zu emittieren aus Dollar, Yuan, Pfund und Rubel …
Machen das aber amerikanische Digitalkonzerne, fehlt es am öffentlichen Aufschrei oder weitgehend an behördlichen Eingriffen — allenfalls kommen sie verzögert, abgeschwächt, hadernd, geradezu entschuldigend, dass man sich hierzu erdreistet. Die Beißhemmung ist offensichtlich. Zumal manche gesellschaftliche Gruppierungen das Verhalten der Digitalkonzerne sogar noch gegen alle Regulierungsversuche verteidigen, weil sie diese Unternehmen als Hort der digitalen Freiheit hochstilisieren, während sie den Behörden und Institutionen des demokratischen Staates nur Missgunst und Obstruktion unterstellen. Eine Haltung, die sich vielleicht auch daraus speist, weil die US-Konzerne ihre Dienste (zumindest auf den ersten Blick) weitgehend kostenfrei anbieten. Geiz ist eben geil, er vernebelt die Sinne in freiheitlichen Demokratien und lässt die Menschen falschen Propheten hinterherlaufen.
Wann begreifen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich, dass sie hier nicht altruistisch motivierten Digitalkonzerne in die Hände spielen, sondern Freiheit und Wettbewerb, ja die Zukunft der europäischen Gesellschaften aufs Spiel setzen. Denn derzeit ist eine tektonische Verschiebung im Hinblick auf Macht und Deutungshoheit in unserer Gesellschaft im Gange — was auch auf die Verteilung der Chancen und künftigen Profite durchschlägt?
Zu lange wurden Google, Facebook & Co. das Spielfeld überlassen. Zunächst mit dem Argument, den neuen (Internet-)Markt nicht von Anfang an kaputt regulieren und Innovationen nicht gleich ersticken zu wollen. Als die Big-Tech sich dann immer mehr kleinere Wettbewerber einverleibten und zu kritischer Größe herangewachsen waren, hatte man notwendige Eingriffe unterlassen — wieder im Vertrauen darauf, dass der Wettbewerb schon für die Einhegung sorgen und verhindern wird, dass sie zu oligopoler Größe heranwachsen. Schließlich sei ja auch von den einstigen Größen AOL, Compuserve oder Netscape keine Rede mehr, wurde etwa argumentiert.
Erst als die Digitalkonzerne dann begannen, sich sogar über die nationalen Rechtssysteme hinwegzusetzen etwa beim Umgang mit Hassreden und dem Datenschutz, sich zudem die internationale Fragmentierung des Steuersystems zunutze machten, wachten die staatlichen Akteure auf. Doch die Skepsis unter Ökonomen und Internetaktivisten gegen jegliche Regulierung ist nach wie vor groß. Erst in jüngster Zeit setzte bei den tonangebenden liberalen Wettbewerbspolitikern ein Umdenken ein. Doch inzwischen ist es den Digitalmächten ein Leichtes, die politische Meinungsbildung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie schieben vor, die Freiheit im Internet zu verteidigen und agitierten zuletzt etwa gegen die Datenschutzgrundverordnung oder die neuen Urheberrechtsgesetze — und wissen dabei die jungen Menschen auf ihrer Seite, denen vorgegaukelt wird, dass ihnen die Politik das kostenfreie Internet kaputtmachen will.
Letztlich ist es die Geschichte einer ökonomischen Machtübernahme. Das Laissez Faire einer freiheitlichen Marktwirtschaft wird ausgenutzt zur Etablierung der eigenen Machtposition. Die Digitalkonzerne hatten erkannt, dass sie in der Übergangszeit zwischen analoger und digitaler Wirtschaft und Gesellschaft eine einzigartige Chance haben, das Koordinatensystem in Politik und Wirtschaft zu ihren Gunsten zu verändern. Denn mit der Digitalisierung organisiert sich auch die ökonomische und politische Basis neu. Abhängigkeiten, Machtzentren, sozioökonomische Wechselwirkungen und politische Kräfteverhältnisse verschwinden, entstehen anderswo neu — obendrein sind viele Mechanismen und Wechselwirkungen nicht von Anfang an gleich erkennbar, da sich alles irgendwie in Veränderung befindet. Der Überblick und die strukturelle Ordnung gehen verloren. Sogar Begrifflichkeiten wie „Freiheit“ (des Andersdenkenden?) und „Freunde“ (Gefällt mir!) und „Recht“ (wessen Regeln?) bekommen neue Facetten oder werden umdefiniert. Das macht es leicht, im Wind des Innovationstreibers, des Verteidigers der Redefreiheit und des zurückgezogenen Dienstleisters (man stellt ja nur Netzwerke und Plattformen zur Verfügung, ist nicht für deren Inhalte verantwortlich) zu kritischer Größe heranzuwachsen und die obwaltenden Netzwerkeffekte für sich arbeiten zu lassen.
Mit der ökonomischen Umgestaltung kommt zudem ein Faktor hinzu, der die Machtposition der Digitalkonzerne nahezu uneinnehmbar macht. Denn die Digitalisierung der Wirtschaft ermöglicht es ihnen, sich als eine Art Betriebssystem überall dazwischen zu schieben: Nicht nur zwischen Kunden und Händler/Hersteller (Amazon/Händler, Facebook/Verlage, Google/Auto), sondern auch auf jeder Produktionsstufe, sofern die Unternehmen nur bereit sind, die kostenlosen Angebote diverser Tools annehmen. Obendrein drängen viele Kunden der (analogen) Produkte massiv darauf, die gewohnte digitale Umgebung von Google oder Apple auch auf den Displays in den Autos, auf den Haushaltsgeräten oder Uhren nutzen zu können. Die Daten, die aus dieser “Verbindung” gewonnen werden, sind unvergleichbar wertvoll und machen die etablierten Unternehmen abhängig von den Launen und dem Geschäftsgebaren der Digitalkonzerne.
Und nun Facebooks Idee einer eigenen globalen Digitalwährung: dem Libra! Zum Glück, möchte man sagen, kommt sie womöglich zu früh, und zeigt die ganze Hybris des Konzerns, der sich vielfach nicht nur über dem (nationalen) Recht fühlt, sondern sogar als Globalmacht versteht. Die eigene Währung — selbst, wenn sie nur in Operettenstaaten und in Schwellenländern erfolgreich wäre — würde dem Konzern enorme Macht verleihen und Datenmaterial in einer Größenordnung liefern, das die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und von Instrumenten der sozialen Beeinflussung nach vorne katapultieren würde. Dem könnten viele demokratische Gesellschaften dann nicht mehr viel entgegensetzen. Erst vor einiger Zeit wurden Pläne diskutiert, ob die großen Digitalkonzerne sich womöglich ganz von der schnöden traditionellen Politik und Gesellschaft freimachen könnten, wenn sie ihr Hauptquartier auf internationalen Hoheitsgewässern schwimmen lassen oder in die Tiefsee verfrachten würden.
Die Libra-Idee führt vor Augen, wie sich die Digitalkonzerne womöglich selbst sehen: als neuer Hegemon in einer pluralen und multipolaren Welt, deren Einzelstaaten und Staatenbünde sich angesichts globaler Herausforderungen selbst im Wege stehen. Weltkonzerne haben es da leichter, weil sie sich nicht ständig vor dem Souverän rechtfertigen müssen. Der “Interessenausgleich” erfolgt in Form eines Vorstandsbeschlusses. Und sie haben auch nur ein Ziel: nachhaltig Gewinne erwirtschaften! Und diesem Ziel wird alles untergeordnet.
Es wird Zeit, dass Deutschland und Europa ernsthaft und mit der nötigen Chuzpe darüber diskutiert, wie sie mit den Digitalkonzernen verfährt, wie sie diese behandelt, mit den dort geschürften Daten umgeht und wie sie das analoge Rechtssystem auf die virtuelle Welt überträgt. Denn die analogen Regeln sollten eigentlich auch in der digitalen Welt gelten. Alle digitalen Entscheidungen und Verhaltensweisen entfalten schließlich auch ihre Wirkung in der realen Welt, betreffen Menschen und deren unveräußerlichen Rechte. Nur die Formen der Eingriffe müssen angepasst werden. Hier sind auch die Digitalaktivisten, Juristen und Ökonomen in der Verantwortung, zusammen mit der Politik nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Denn es geht um nichts weniger als die Modernisierung des Gesellschaftsvertrags.
Hier könnte, ja hier muss Europa vorangehen, weil es die Kunst des Kompromisses im komplexen Beziehungsgeflecht europäischer Parteienfamilien, Staaten und Kulturen über viele Jahre geübt hat — und die Mitgliedsländer trotz immer neuer Herausforderungen letztlich parlamentarische Demokratien und freiheitliche Marktwirtschaften geblieben sind. Und eine ganzheitliche Sicht der Dinge ist auch die einzige Möglichkeit, um den Hegemonialinteressen der großen Digitalkonzerne entgegenzutreten ohne das Klima in der Internetgesellschaft zu vergiften. Dann erscheint sogar eine Zerschlagung der großen Konzerne möglich wie seinerzeit bei AT&T — oder die Zwangsöffnung für weitere Anbieter (wie im Telekommunikationsmarkt). Angesichts jüngster kartellpolitischer Entwicklungen in den USA scheint ja diesbezüglich schon ein Umdenken stattzufinden.