Kapitalismus

Reale und gefühlte Ungleichheit

Deutschland ist Globalisierungsgewinner, dennoch werden Freihandel und Markt kritisch gesehen

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Der Globalisierungsreport 2018 der Bertelsmann-Stiftung lässt keinen Zweifel zu: Deutschland gehört zu den Ländern, die am meisten von der Globalisierung profitieren (6. Platz). Das Bruttoinlandsprodukt habe sich zwischen 1990 und 2016 infolge von mehr Freihandel, internationaler Verflechtung und Spezialisierung hierzulande um jährlich 1 150 Euro pro Kopf erhöht, so der von Prognos erstellte Bericht. Der Wohlstand der Deutschen ist durch die Globalisierung also gestiegen.

Und dennoch: Blickt man auf die politische Diskussion, scheint es, als ob es durch die Weltoffenheit mehr Probleme als Lösungen gibt. Von einer zunehmenden sozialen Ungleichheit ist die Rede – trotz rekordhoher Beschäftigung, enormer staatlicher Umverteilung und steigender Lebensqualität. Die Menschen fanden sich sogar zu Massendemonstrationen zusammen, um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zu stoppen – und haben es geschafft. Die Parteien aus dem linken wie rechten Spektrum wollen gar die Europäische Union zurechtstutzen. Der Brexit ist das Fanal für diese diffuse Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise in den westlichen Ländern.

Was ist die Ursache für dieses gesellschaftliche Aufbegehren? Lässt sich der Unmut auch anhand von Fakten begreifen? Oder ist er eher Ausdruck einer soziologischen Befindlichkeitsstörung, die sich vor allem aus den Filterblasen der sozialen Medien speist und dann eine Eigendynamik entwickelt hat?

Tatsache ist, dass die Globalisierung global betrachtet eine enorme Armutsreduzierung bewirkt hat. Die Ungleichheit zwischen den Ländern wurde verringert, gemessen am Gini-Koeffizienten, der die Einkommensverteilung darstellt (siehe Grafik). Vor allem in den Schwellenländern wächst die Mittelschicht rasant, wird die Armut zurückgedrängt.

Der Aufstieg dieser Länder wurde allerdings auch erkauft durch Jobverlagerungen von den Industrieländern – wegen der Marktnähe und günstigerer Produktionskosten. Anfangs konnte der Jobverlust in den entwickelten Staaten noch durch den wachsenden Exportmarkt und durch Spezialisierung der Volkswirtschaften kompensiert werden. Doch ist ein gewisses Maß an Globalisierung erst einmal erreicht, zeigt eine Studie von Valentin Lang von der Universität Zürich und Marina Mendes Tavares vom Internationalen Währungsfonds (IWF), vermindern sich die Wohlstandszuwächse. Und was noch wichtiger ist: Sie kommen dann zudem weniger den unteren Einkommen zugute als den Besserverdienenden. Das, so Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank, lässt die Ungleichheit noch stärker ansteigen.

Sorgen in der Bevölkerung

Solche Mechanismen bestärken natürlich das Gefühl in der Bevölkerung von Industrieländern, benachteiligt zu werden. Objektiv ist seit den 1980er Jahren auch durchaus ein starker Zuwachs an Ungleichheit zu messen; eine Entwicklung, die zuletzt wieder weitgehend zum Stillstand gekommen ist. Nach wie vor aber gilt, was selbst der französische Ökonom Thomas Piketty, der von vielen Globalisierungskritikern als Kronzeuge einer ungerechten Weltordnung angeführt wird, bestätigt: Nirgendwo gibt es so wenig Ungleichheit wie in Europa. Der Anteil der obersten 10 % der Bevölkerung am Gesamteinkommen liege auf dem Kontinent bei 37 %, in Kanada, USA, Russland und China zwischen 41 und 47 %.

Daher hält es auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), für falsch, dem „Wirtschaftssystem“ eine Mitschuld an den Verhältnissen zu geben. Es sei vielmehr Aufgabe der nationalen Politik, die Profite der Globalisierung in die richtigen Bahnen zu lenken. Zu oft werde „die Globalisierung aber zum Sündenbock für eigene Fehler gemacht“. Um die Globalisierung einzuhegen, sollte man laut Fratzscher aber nun nicht eine egalitäre Gerechtigkeit zum Ziel haben, sondern müsse die Chancen- und Leistungsgerechtigkeit fördern. Und das habe viel mit Bildung und Infrastruktur zu tun.

Seit einigen Jahren haben das auch der IWF und die Industrieländerorganisation OECD erkannt, die früher auf schlichtes Wachstum und Freihandel gesetzt haben in der Hoffnung, dass der Markt schon für eine effiziente und irgendwie gerechte Verteilung sorgt. Sie selbst fordern nun mehr „Inclusive Growth“. Zu wenig habe man auf die Frustration der Verlierer und Abgehängten geachtet, heißt es selbstkritisch. Und die soziale Umverteilung sei vor allem als Störfaktor im Marktgeschehen betrachtet und entsprechend gegeißelt worden, statt ihre befriedende Funktion zu würdigen. Das spiele jetzt den Extremisten jeder Couleur in die Hände.

Steuerhoheit untergraben

Die „Sozialreparatur“, auf die man nun setzt, kann aber nicht mit dem nötigen Drehmoment in Gang gesetzt werden. Zum einen sind die Staaten vielfach bereits überschuldet, zum anderen wird ihre Steuerhoheit zusehends durch die Digitalisierung untergraben, weil die Profite der großen Digitalkonzerne im virtuellen Raum verschoben werden. Zudem kommt ein neues Problem auf die Staaten zu: Jobverluste durch Digitalisierung und Roboterisierung, was den Sozialstaat unter zusätzlichen Druck setzt. Denn durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz werden selbst Berufe überflüssig, die bisher vor Automatisierung sicher schienen.

In den USA drohen einer Studie der Universität Oxford zufolge, bis 2030 fast die Hälfte der Jobs wegzufallen. In Deutschland, so die Ökonomen der ING-DiBa, könnten von den rund 31 Millionen sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten rund 18 Millionen durch Roboter und Software ersetzt werden. Automatisierung gab es zwar schon immer. Auch die Webstühle ersetzten massenweise Arbeitsplätze. Völlig unklar aber ist, wo die neuen Märkte entstehen, die als Kompensation dienen könnten. Und selbst wenn Hoffnung naht – in der Übergangszeit dürfte eine Wirtschaftskrise politische Tumulte mit sich bringen, die an den Grundfesten der Gesellschaftsordnung rütteln.

Hinzu kommt, dass Automatisierung und Digitalisierung die soziale Ungleichheit strukturell noch weiter befeuern. Das The-winner-takes-it-all-Prinzip bei digitalen Netzwerken lässt Superstar-Firmen hochkommen zulasten aller anderen Akteure auf dem Markt, wie die Ökonomen der Bertelsmann-Stiftung warnen. Das geht nicht nur mit einem Verlust von Jobs einher, sondern Studien zufolge auch mit einem Rückgang der Lohnquote. Der einflussreiche und liberale Ökonom Tyler Cowen geht davon aus, dass künftig eine Elite von 10 bis 15 % der Erwerbstätigen alle globalen Produktionsprozesse leiten wird; die Fachkenntnisse dieser Elite reichten aus, um die intelligenten Maschinen und Roboter weiterzuentwickeln und weltweit zu steuern. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin warnt schon seit Jahren: „Wir vollziehen gerade einen Wandel hin zu einem Markt, der zum allergrößten Teil ohne Arbeitskraft funktioniert.“

Grundeinkommen als Lösung?

Doch wer soll die Produkte überhaupt kaufen, wenn immer mehr Schichten verarmen und sich die Gadgets der modernen Technikwelt nicht mehr leisten können – ganz abgesehen von der politischen Sprengkraft, die heute schon die Armuts- und Ungleichheitsdiskussion entfaltet?

So manche Digital- und Technikkonzerne favorisieren die Etablierung eines bedingungslosen Grundeinkommens, sagen aber nicht, woher das Geld hierfür genommen werden soll (zumal sie sich selbst gerne der Steuerpflicht entziehen). Frank Rieger vom Chaos Computer Club schlägt daher eine Steuer vor, wie sie schon einmal in den 1970er Jahren als „Maschinensteuer“ hochgekommen ist: „Wenn uns Roboter und Algorithmen in der Arbeitswelt ersetzen, sollten sie auch unseren Platz als Steuerzahler einnehmen.“ Hieraus könnten dann die sozialen Sicherungssysteme alimentiert werden. Eine solche Steuer ließe sich aber nur international konzertiert durchsetzen, weil ansonsten die heimische Wirtschaft im Kostenwettbewerb den Kürzeren ziehen würde. Sie ist also sehr unwahrscheinlich.

Verantwortung der Politik

Eine andere Möglichkeit wäre ein Neustart in der Bildungspolitik. Die gerne in Talkshows und Sonntagsreden verbreiteten Rezepte müssten dafür endlich umgesetzt werden. Nur durch eine moderne Bildungspolitik kann der Wandel in der Arbeitswelt gelingen, können die neuen anspruchsvollen Jobs nach Deutschland geholt und das Gemeinwesen nachhaltig finanziert werden. Die bisherigen Ansätze – Beispiel Digitalpakt – waren nicht nur ergebnislos, sondern geradezu peinlich für einen Industriestaat wie Deutschland. Letztendlich braucht das Land einen „New Deal“, um den Menschen wieder eine Perspektive zu geben; eine Hoffnung zu schenken, dass es ihnen in der Zukunft besser gehen wird. Das wäre die Grundlage für „Inclusive Growth“. Das Gefühl von Ungleichheit und Ungerechtigkeit könnte zurückgedrängt werden und die Politik und die Institutionen würden wieder das Vertrauen gewinnen, das ihnen weite Bevölkerungskreise entzogen haben.

Die inneren und äußeren Feinde des freien Marktes

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben protektionistische und antiliberale Tendenzen befördert, weil sie schädliche Marktkräfte und kapitalistische Exzesse nicht früh und energisch genug gezügelt haben. Das hat die Menschen unserer Wirtschaftsordnung entfremdet und den Boden bereitet für Populisten und Nationalisten, die nun auch die Destabilisierung der Demokratie zum Ziel haben.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Er ist das Gesicht für den gerade im Gange befindlichen Wendepunkt in der Geschichte des Westens: US-Präsident Donald Trump. Mit seinen von Nationalismus und Protektionismus geprägten Handlungen in den vergangenen Monaten steht er für die Zurückdrängung jener Werte, welche die USA einst haben zur Supermacht werden lassen: Marktliberalismus und Globalisierung, internationale Zusammenarbeit und die Verteidigung der freiheitlich-offenen Gesellschaften. Nicht mehr Verhandlung und Ausgleich gelten ihm als die politischen Instrumente der Wahl, sondern Machtprojektion und Einschüchterung. Der Kapitalismus wird nicht als Wirtschaftsmodell gesehen, sondern als Herrschaftsform und politisches Vehikel verstanden. Kein Wunder, dass die Menschen dann zunehmend auch das Zutrauen in die Gemeinwohl fördernde Wirkung der Institution Marktwirtschaft verlieren und nach Alternativen Ausschau halten, wie sie etwa China mit ihrer Form einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit Staatsaufsicht“ durchaus erfolgreich praktiziert.

Man würde nun Trump zu viel Ehre antun, ihn als den Sargnagel freiheitlicher Märkte zu bezeichnen. Er steht nämlich nicht alleine, hat Vorläufer und Mitläufer – und agiert in einem gesellschaftlichen Klima, das solches Verhalten nicht nur toleriert, sondern weitgehend goutiert. Letztendlich ist er sogar das Produkt einer Entwicklung, die eigentlich im Kern des Kapitalismus ihren Ausgang genommen hat. Denn der gesellschaftliche Rückhalt für marktliberale Ordnungen ist schon vorher erodiert.

Politik, Wirtschaft, aber auch viele Ökonomen, die sich stets als Verteidiger von Kapitalismus und Marktwirtschaft aufschwingen, haben durch Handeln und Unterlassen, durch ihre Hybris, über dem Staat zu stehen, und durch einseitige Betrachtungen und Fachblindheit jene Entwicklungen eher noch befördert, welche die Menschen an der herrschenden Wirtschaftsordnung zweifeln ließen. Kurz: Sie haben die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Tuns aus dem Blick verloren – oder schlicht unterschlagen, weil sich sonst die „ökonomischen Lehren“ nicht so klar hätten formulieren lassen. Und in einem Umfeld, in dem die Sorgen vor einem ökonomischen Kontrollverlust durch Globalisierung und Digitalisierung wachsen, diffuse Ängste vor der Komplexität und Unberechenbarkeit des Kapitalismus insgesamt aufkommen, haben Populisten, Verschwörungstheoretiker und Nationalisten schon immer leichtes Spiel gehabt.

Die Rolle der Ökonomen

Alle Marktakteure haben es vor allem versäumt, die Verlierer des Strukturwandels aufzufangen. Das ist speziell in den USA und in Großbritannien sicht- und spürbar, wo die sozialen Sicherungssysteme weitmaschiger sind als hierzulande. Tendenziell ist diese Schlagseite aber – mit Abstrichen – auch in Deutschland feststellbar, wovon etwa die jüngste Hartz-IV-Diskussion über den Umgang mit den Hilfsempfängern zeugt. Fatal hat sich dabei die einseitige ökonomische Argumentation auswirkt, die jede Kritik an der freien Entfaltung der Marktkräfte abgebügelt hat mit dem Hinweis, dass jedwede Einschränkung Wachstum und Jobwachstum entgegenwirken würde. Vielmehr wurde stets einer noch stärkeren Ökonomisierung der Gesellschaft das Wort geredet, indem etwa über höher Studiengebühren schwadroniert wurde.

Dass ein solches ökonomisches Verständnis womöglich die gesellschaftlichen Schichten eher noch mehr verfestigt statt sie durchlässiger macht, kam ihnen nicht in den Sinn – denn dafür fühlten sich die Wirtschaftswissenschaftler nicht zuständig. Im Ergebnis haben die Menschen zunehmend das Vertrauen in den sozialen Aufstieg verloren, wie Studien immer wieder belegen.

Tarif- vs. Managergehälter

Vollends wurde das Vertrauen in jedwede ökonomische Argumentation verspielt, nachdem die Meinungsmacher der wirtschaftspolitischen Debatte in ihrer Argumentation eine fatale Schlagseite zugunsten den Führungsetagen der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmerschaft an den Tag legten. Während Tariflohnsteigerungen lange Zeit stets als „zu hoch“ kritisiert wurden – durchaus mit einiger Berechtigung im Hinblick auf Arbeitskosten -, wurden die bisweilen obszön hohen Gehälter für Manager (und Investmentbanker) von den gleichen Akteuren regelmäßig „als Marktergebnisse“ verteidigt und wurde Kritik daran als „Neiddebatte“ apostrophiert. Dabei wurde zudem vergessen, dass die exorbitant hohen Gehälter ja eigentlich den Erfolg des Unternehmens widerspiegeln sollen, was wiederum doch das Ergebnis aller anderen Mitarbeiter ebenfalls ist und nicht einigen wenigen Personen zugeschrieben werden kann. Derlei Doppelmoral erschüttert natürlich das Vertrauen der Menschen in die letztendlich auch sozial stabilisierende Kraft der Marktwirtschaft.

Gewiss gibt es in einer Marktwirtschaft keine festen Regeln, welches „Einkommen“ und welche „Einkommensunterschiede“ fundamental gerechtfertigt sind angesichts des Erfolgs oder Misserfolgs des jeweiligen Unternehmens, und welche Personengruppen welchen Anteil an den Leistungen oder Fehlleistungen haben, um sie entsprechend zu würdigen oder zu sanktionieren. Aber es geht hier um Geldsummen jenseits aller Größenordnungen – und dies in der Regel für Unternehmenslenker, die weder mit ihrem Gesamtvermögen für das Unternehmen insgesamt einstehen, wie das etwa bei Familienunternehmen der Fall ist. Letztlich sind auch die hochbezahlten Manager Angestellte wie die Pförtner bei der Einlasskontrolle. Ein Denkanstoß: Wer 10 Mill. Euro im Jahr erhält, könnte täglich rund 27.000 Euro ausgeben. Jenseits von Neidgefühlen: Ist das eine Größenordnung, die noch irgendetwas mit persönlicher Leistung eines Angestellten zu tun hat?

Längst, so scheint es, hat sich durch die Usancen im globalen Finanzkapitalismus eine finanzielle Aristokratie herausgebildet, die einer Marktwirtschaft eigentlich fremd sein sollte. Dieses Zweiklassensystem – die da oben, wir da unten – fordert den Klassenkampf förmlich heraus. Noch wirkt dem allerdings das Mantra entgegen, das der britische Kriegspremier Winston Churchill formuliert hat: „Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleiche Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: die gleichmäßige Verteilung des Elends“. Beides keine attraktiven Vorstellungen. Doch, dass der „Kapitalismus ungesund ist – sogar für Kapitalisten“, das Wort des Philosophen Ernst Bloch könnte sich in der nächsten Entwicklungsstufe erfüllen: die Digitalisierung.

Digitalisierung des Kapitalismus

Denn das Zweiklassensystem wird durch die Digitalisierung noch verstärkt: einerseits entziehen sich die Digitalkonzerne ihrer steuerlichen Pflicht durch schlichte Umleitung der Datenströme. Das erschwert dem Staat die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und seiner sozialen Verpflichtungen; zumal in einer Welt, in denen der sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsplatz wohl irgendwann ausgestorben sein wird. Andererseits setzen sich diese Konzerne über nationale Grenzen hinweg, weil sie sich als überstaatliche Entitäten verstehen. Es gibt sogar Planungen, dass diese Multis eins eigene Offshore-Staaten auf riesigen Plattformen auf dem Meer gründen könnten. Eine staatliche Regulierung wird dann nahezu unmöglich, ohne den Datenverkehr komplett zu kontrollieren, was wiederum der Regierungsform einer Demokratie widersprechen würde. Insofern geht es hier auch um die politische Zukunft unserer Gesellschaft – ein Aspekt, der von Verbänden und Ökonomen in der Regel kaum betrachtet wird.

Und schließlich neigen die Digitalkonzerne dazu, Markt und Wettbewerb insgesamt auszuhebeln, weil sie Netzwerkeffekte ausnutzen können. Der Risikokapitalgeber und einflussreiche US-Unternehmer Peter Thiel erteilte dem Wettbewerbsprinzip sogar eine komplette Absage. „Wettbewerb ist etwas für Verlierer“, sagte er und warb für die segensreiche Gemeinwohl steigernde Wirkung von Monopolen. Inzwischen dominieren Facebook und Google 80% aller digitalen Werbeerlöse außerhalb von China. Diese Entwicklung war schon vor Jahren absehbar, doch der Aufstand der Wettbewerbsökonomen und Kartellwächter blieb aus. Während sie lange Zeit die Schrankenlosigkeit des digitalen Marktes verteidigten, weil so junge Märkte schließlich mehr Frei- und Experimentalräume benötigten (als ob es sich hier nicht um Multi-Milliarden-Märkte handeln würde), werden die „analogen Industrien“ durch etablierte Regeln behindert bei der Positionierung in den digitalen Gefilden.

Nach dem Versagen der Ökonomen im Vorfeld der Finanzkrise signalisiert offenbar auch die Digitalisierung, wie groß die Scheuklappen in dieser Wissenschaft sind, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, wie sehr sich „ihre“ Ökonomie digital wandelt, und wo die Herausforderungen liegen, um das Wettbewerbsumfeld zu schützen und den neuen Entwicklungen anzupassen. Bis sich die Gesetzgebung dann darauf einstellt, sind schon längst Tatsachen geschaffen: neue Oligopole und Monopole.

Diese Verfehlungen in der Gegenwart – das Zulassen von immer größer werdenden Einkommens- und Vermögensungleichheit, die Etablierung einer Finanzaristokratie inmitten einer Marktwirtschaft, das Versagen bei der Regulierung der digitalen Welt – hat die Menschen der Marktwirtschaft entfremdet. Sie schenken dem Werben aus Wirtschaft und Wissenschaft für freie Märkte und dem Wettbewerb keinen Glauben mehr. Zumal die Erfolge Chinas ihnen ja auch vorführen, dass die Menschen mit einem staatlich eingeschränkten Wettbewerb ja auch nicht schlecht fahren, dem Westen sogar die Produktionsmittel (Patente, Technologie, Unternehmen) von chinesischen (Staats-)Unternehmen weggekauft werden – und dies ohne Demokratie im Land.

Auch hier haben Unternehmen und Ökonomen zu lange weggeschaut und unterschätzt, wie das „Vorbild China“ auf die hiesigen Gesellschaft wirkt und deren Erfolge im Denken abfärben. Plötzlich scheinen paternalistische oder sozialistische Kommandowirtschaften wieder attraktiv, während die Schwächen der demokratischen Gesellschaften immer stärker in den Vordergrund treten. Insofern schlagen die Loblieder, die über Jahre auf Asien und China gesungen wurden, weil man Umsatz- und Handelserfolge erzielen konnte, plötzlich wieder zurück.

Das lässt die Bürger in demokratischen Staaten am Nutzen der reinen marktwirtschaftlichen Lehre und am Freihandel zweifeln; und der demokratischen Staat kommt in Bedrängnis, weil der nicht in der Lage zu sein scheint, den aktuellen Herausforderungen adäquat zu begegnen, sich ausnehmen lässt von autokratischen Regimen, Digitalkonzernen und einer Finanzaristokratie.

Um das verlorengegangene Vertrauen in die Marktwirtschaft und die Demokratie zurückzugewinnen, und die nationalistischen, populistischen und separatistischen Gruppierungen auch hierzulande zurückzudrängen, braucht es deshalb eine Neubesinnung auf die „Werte des Westens“. Und das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern auch der Wirtschaft und der Wissenschaft. Es geht darum der wachsenden Ungleichheit zu begegnen – und nicht darum, sie bis zur Selbstverleugnung zu verteidigen oder einfach wegzudefinieren. Es geht darum, den Boni-Exzessen einen Riegel vorzuschieben, etwa, indem man analog Zahlungen in entsprechender Höhe an alle Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens zur Verpflichtung macht. Manche deutsche Autohersteller machen das durchaus vor. Und es geht darum, die Liberalität und Freiheit des Marktes zu verteidigen nicht nur gegen den Staat wie bisher, sondern auch gegenüber Unternehmen, die sich als gemeinwohlorientiert darstellen, in Wahrheit aber wie Facebook ein Überwachungs- und Werbekonzern sind.

Viel zu spät wurden die analogen Regeln und Gesetze der digitalen Veränderung angepasst. Und besser heute als morgen muss die Politik Vorschläge ausarbeiten, wie beim Steuerrecht und der Soziale Sicherung entsprechend reagiert. Ob eine Digitalsteuer hier das richtige Instrument ist, darf bezweifelt werden. Wichtig wäre eine – durchaus riskante – aber allumfassende Reform, welche für die analoge wie die digitale Sphäre gleichermaßen gilt.

Signalisiert der Staat, dass er – stets die Sicherheit und Wohlfahrt seiner Bürger im Blick und bereit, diese auch robust zu verteidigen, selbst unter Inkaufnahme von Nachteilen auf anderem Gebiet – sich hier auf den Weg macht, die Marktwirtschaft und Ordnungspolitik neu aufzustellen, dürfte er das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Das bewahrt den freien Markt – und sichert obendrein unsere Demokratie.

Die Macht des Finanzkapitalismus

Wie Staatsverschuldung und Geldpolitik die Realwirtschaft in die Zange nehmen

Von Stephan Lorz

Die Debatte trieft vor Verlogenheit: Frankreich, Italien und – natürlich – Griechenland haben die Bösewichte ausgemacht, die ihren fiskalischen Bewegungsradius einschränken und – nach ihrem Verständnis – damit Wohlstand, Wachstum und Fortschritt gefährden. Zum einen die Finanzmärkte, weil sie ihnen höhere Zinsen abknöpfen und die Finanzierung der Defizite glatt verweigern (können). Deshalb ihre Forderung, die Notenbank hätte doch die Pflicht, die Staatsfinanzierung sicherzustellen. Zum anderen die deutsche Bundesregierung, weil diese auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen besteht. Nur durch entsprechendes fiskalisches Wohlverhalten, argumentieren die Deutschen, könnten die von den Finanzmärkten kritisch beobachteten Länder sich wieder das nötige Vertrauen erarbeiten und auf diese Weise wieder mehr fiskalischen Bewegungsspielraum erhalten. Alles Falsch! tönt es aus Paris, Rom und Athen. Nur höhere Staatsausgaben würden höheres Wachstum ermöglichen, was wiederum die Tragfähigkeit und Finanzierung der Staatsverschuldung verbessert und sicherstellt. Austeritätspolitik wird als Ursprung aller Not dargestellt – eine durch und durch verlogene Haltung. Denn es war die überhöhte Verschuldung, welche die sich jetzt über „Austerität“ beklagenden Länder erst in ihre unangenehme Situation gebracht haben.

Noch schlimmer: Erst durch ihr eigenes Handeln hatten die Regierungen in Paris, Rom, Athen  und anderen Staaten die Macht jener Finanzakteure erst konstituiert. Denn mit ihren immer höheren Haushaltsdefiziten haben sie sich ja selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Gläubigern begeben, und zugleich so hohe Kreditvolumina in den Markt gepumpt, die – zusammen mit der Deregulierung des Finanzsektors – den Charakter des Kapitalismus nachhaltig verändert haben. Die Finanzmärkte sind aufgrund ihrer neuen Dimension seither nicht mehr Diener der Realwirtschaft, als die sie sich über Jahrzehnte verstanden hatten, sondern wurden selbst zur dominierenden Macht. Die niedrigen Zinsen im Euroraum tragen ihrerseits auch noch dazu bei, dass die Macht der Investoren und Gläubiger weiter ausgebaut und zementiert wird: Der Konsolidierungsdruck lässt nach, die Notenbanken drücken zusätzliche Finanzvolumina in den Markt und nehmen mit ihren Anleihekäufen den Finanzakteuren das Risiko aus der Hand, was zu dramatischen Fehlallokationen führt und den Regierungen die Verschuldung weiter erleichtert.

Aufgebläht durch das „Schuldgeld“ ist weltweit eine Art Kreditökonomie entstanden, die eher auf kurzfristige Rendite abstellt als auf Nachhaltigkeit. In dieser Welt erscheinen Bilanz optimierende Kennzahlen wichtiger als Produkt- und Prozessinnovationen,  Finanzprodukten wird realwirtschaftlichen Gütern immer der Vorrang eingeräumt. Das schlägt sich auch in den Eckdaten der globalen Wirtschaft nieder: Betrug das Handelsvolumen der weltweiten Finanzmärkte Anfang der neunziger Jahre noch etwa das 15-Fache der realen Wertschöpfung, lag dieser Wert im vorvergangenen Jahr schon bei über dem 70-Fachen –trotz Finanzkrise und neuen Regulierungen. Schon das schiere Volumen lässt erahnen, das Wirkungen auf die Realwirtschaft nicht ausbleiben können.

Diese Entwicklung schlägt sich auch auf das Finanzvermögen nieder, das vor allem von bereits vermögenden Personen gehalten wird: Hatte es in den USA und Deutschland in den siebziger Jahren noch bei 80% der Nettowertschöpfung gelegen, während das Realvermögen 200% erreichte, kommen jetzt beide auf den 200er Wert. Stephan Schulmeister, Ökonom beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut, sieht nicht zuletzt darin den Grund für die zunehmende Ungleichheit: Die Lohnquote sinke, die Kapitalquote steige.

Inwieweit die Unwucht zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft tatsächlich die Ungleichheit erhöht, darüber streitet sich indes die Wissenschaft. Der Kernthese des französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge ist die Kapitalrendite tendenziell immer höher als die Realrendite, weshalb Kapitalvermögen schneller wachsen und Ungleichheit insofern kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus sei. Hans-Jörg Naumer, Ökonom bei Allianz Global Investors, kommt von seiner Warte aus zu einem ähnlichen Schluss: ,,Deutlich mehr als jeder zweite Dollar, der durch das Einkommen generiert wird, fließt an die Kapitaleigner.‘‘ Seine Schlussfolgerung aber ist nicht der marxistische Umbau des Kapitalismus, sondern der Aufruf an alle Sparer,mehr auf Produktivkapital zu setzen.

Viele Annahmen Pikettys zur Unterstützung seiner These sind recht fragil, die zunehmende Bedeutung von Kapitalvermögen ist aber eine Tatsache. Hinzu kommt: Auch die jüngsten technischen Innovationen bevorzugen eher Investoren und Unternehmer, weil die neuen digitalen Produkte den Faktor Arbeit globalisieren, die Profite aber vorwiegend die Unternehmen selbst und deren Manager einstreichen. Die immer kapitalintensivere Produktion (Roboter) trägt noch mehr zur Schieflage bei, weil selbst gut ausgebildete Fachkräfte künftig mit dem Weltmarktpreis von Kapitalinvestitionen konkurrieren.

Womöglich wird durch die wachsenden Kapitalvolumina und die zunehmende Ungleichheit auch das Wirtschaftswachstum selbst niedergehalten, wie der Ökonom, Larry Summers mit seiner These von der,,säkularen Stagnation‘‘ vermutet. Denn die kaufkräftige Mittelschicht wird ausgezehrt, wie sich bereits in den USA beobachten lässt.

Eine Umkehr der Entwicklung ist nicht absehbar. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge nimmt die globale Verschuldung weiter zu. Seit 2013 wächst auch das Volumen der Finanztransaktionen wieder schneller als die Realwirtschaft, wie der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, konstatiert. Er bezweifelt zudem, dass dies jene Allokationsvorteile mit sich bringt, mit denen der Finanzsektor gerne argumentiert, wenn es um höhere Liquiditäten durch immer neue Derivatebenen geht. Die ultralockere Geldpolitik, die durch den jüngsten Zinsschritt der US-Fed ja noch nicht beendet ist, verstärkt die Dynamik noch weiter, weil noch mehr billiges Geld in die Märkte drückt, ohne direkt der Realwirtschaft zugute zu kommen.

Die Entwicklung ist also noch nicht beendet, und niemand weiß, wohin sie führt. Hat der Kapitalismus bereits das Stadium der „Überakkumulation“ erreicht, das sein Ende herbeiführen wird, wie der Kommunist Karl Marx vorhersagte? Oder wird sich die Gesellschaft sukzessive vom bisherigen Wirtschaftssystem abwenden, weil es für die Masse der Bevölkerung keine Vorteile mehr zu erbringen scheint, wenn nur kleine Gruppen davon profitieren? Oder braut sich nur eine neue gigantische Krise zusammen, die das Blatt völlig neu mischt? Wie könnte sich ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht herausbilden und aussehen? Jene Intellektuellen aber, von denen man Aufklärung oder zumindest eine Debatte erwartet wie Philosophen, Politologen, Soziologen oder Historiker, sie sind stumm, haben ihren Einsatz verpasst. Selbst in diesen gesellschaftlichen Fragen führen Ökonomen das große Wort.

Salon-Revolutionär Marx

Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, biedert sich wieder einmal bei seinen Schäfchen an. Waren es noch vor einigen Jahren ¨die Kapitalisten¨, denen er moralische Argumente zur Rechtfertigung ihres Tuns lieferte. Dafür wurde er von ihnen hoffiert und als ¨Kapitalismusversteher¨ gehandelt, der die Marktwirtschaft – natürlich in ihrer sozialen Variante – verstanden hat und verteidigt.

Nun hat sich mit dem neuen Papst allerdings der Wind gedreht – für die Kirche und für ihn. Deshalb sind jetzt all jene Opferlämmer an der Reihe, moralisch bedacht zu werden, die irgendwie unzufrieden sind über ihre aktuellen Lebensverhältnisse und die Lage in Deutschland insgesamt. Die Finanzkrise, die Bankenhilfen, die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik für die Peripherieländer bietet sich ja geradezu an – die Hintergründe und Ursachen dafür spielen ja keine Rolle. Das Feindbild ist klar. Und deshalb forderte Marx zum Katholikentag in Regensburg auch nicht weniger als die Überwindung des Kapitalismus und erklärte: „Wir müssen über die Neubestimmung der Gesellschaft und des Staates auf globaler Ebene diskutieren, über den Kapitalismus hinausdenken, denn Kapitalismus ist nicht das Ziel, sondern wir müssen ihn überwinden.“

Kein Wort allerdings über die Alternativen, die ihm vorschweben. Soll es der Staat richten, der auch – wie praktisch – die Kirchensteuer einzieht und an die Katholische Kirche weitergibt? Oder ein wohlmeinender Herrscher, der über Gut und Böse entscheidet und natürlich – wie die Kirche – über den gesellschaftlichen Niederungen steht, über dem „Markt“, über demokratisch verfasste Institutionen? Marx wird nicht konkret. Offenbar geht es – wieder einmal – nur um eine Fensterrede, um in die öffentliche Meinung für sich einzunehmen und sich für ein populäres Thema adeln zu lassen: Kapitalismus-Bashing. So wie Politiker gerne in Sonntagsreden Europa hochleben lassen, in den Hinterzimmern aber ihre nationalen Interessen durchzudrücken versuchen.

Denn wenn Marx seine Äußerungen ernst nehmen würde, müsste am Anfang das Bekenntnis stehen, sich vom Staat loszusagen – also auch von der Finanzierung der Bischöfe und Religionslehrer durch den Steuerzahler. Der Verzicht auf die Kirchensteuer wäre dann der nächste Glaubwürdigkeitsakt, gefolgt vom Bekenntnis, die Kirchenfinanzierung auf einen freiwilligen Beitrag umstellen zu wollen. Und schlussendlich müssten das Multi-Milliarden-Vermögen der Kirchen auf den Prüfstand gestellt und eine Diskussion über dessen sozialen Einsatz orchestriert werden. Schließlich hat doch gerade sein neuer Dienstherr, Papst Franziskus, verkündet, dass nur eine ¨arme Kirche für die Armen¨ die wahre Bestimmung dieser Organisation ist.

Solange das nicht einmal im Ansatz geschieht, das soziale Engagement allenfalls in Aufrufen zu Adveniat, Renovabis und Entwicklungshilfe gipfelt, ansonsten die Kirchenfürsten weiter in Protz und Pomp residieren (der Limburger Ex-Bischof Tebartz van Elst steht hier ja nicht allein, sondern hat, wie dessen Verteidiger immer wieder zeigen, auch viele Fürsprecher), solange ist der Aufruf von Marx nicht für bare Münze zu nehmen, sondern allenfalls als PR-Aktion zu werten. Das Ansehen der Kirche selber wird durch solche Salon-Revolutionäre jedenfalls nicht besser.