Eurokrise

Die Schuld(en)frage lässt an der Fortexistenz der Eurozone zweifeln

Entgegen vielen politischen Bekundungen hat die Finanzkrise zu keinem regelrechten Umdenken bei der Staatsfinanzierung geführt – Risiken nehmen wieder zu

Von Stephan Lorz

Schulden haben einen janusköpfigen Charakter: Damit können Investitionen finanziert werden, die künftiges Wachstum ermöglichen. Das erhöht den Wohlstand. Sie können den Schuldner aber auch ins Unglück stürzen, wenn er sich übernimmt – oder sich die Rahmenbedingungen ändern. Denn Schulden machen verletzlich gegenüber Schocks am Finanzmarkt und sie verengen den finanziellen
Spielraum. Wo genau  die Grenze zwischen beiden Sphären liegt, darüber streiten sich die Ökonomen. Dass sie im Falle der Finanz- und Schuldenkrise vor zehn Jahren überschritten worden war, darüber
sind sich aber alle einig. Im Falle der amerikanischen Bankenkrise ging man zu leichtfertig mit der Verschuldung um, was einzelne Institute in die Krise stürzte und schließlich das globale Finanzsystem erschütterte. Und im Falle der Euro-Krise waren es einige Staaten, die sich bei der „Rettung“ ihrer Banken verhoben oder sich schon vorher eine zu hohe Schuldenlast aufgebürdet haben.

Umso mehr erstaunt, dass die Finanz- und Schuldenkrise nicht zu einem radikalen Umdenken geführt hat. Das hat objektive Gründe, die sich aus der Bekämpfung der Krise herleiten, liegt aber auch an politischen und kulturellen Faktoren. Nur wenige Länder wie Deutschland können seit 2007 einen deutlichen Fall der Schuldenquote vorweisen. 2019 wird sogar wieder die 60-Prozent-Marke in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) unterschritten. Unmittelbar nach der Krise stieg dieser Wert noch bis auf 80,9 %.In den meisten anderen Euro-Staaten ist das nicht gelungen – im Gegenteil: Die Staatsverschuldung liegt noch immer deutlich über dem Vorkrisenstand, kritisiert Michael Heise, Chefökonom der Allianz. Und das trotz der längsten Boomphase seit Jahrzehnten und trotz Unterstützung der Notenbank mit Nullzinsen und Anleihekäufen. Erst im laufenden Jahr dürften alle Euro-Staaten erstmals seit Start der Währungsunion das Drei-Prozent-Defizitkriterium einhalten.

Das Schuldenstandskriterium indes liegt noch in weiter Ferne. Selbst unter günstigsten Bedingungen, so die Allianz, werden die ehemaligen Eurokrisenländer die 60-Prozent-Grenze auch in 15 Jahren noch nicht erreicht haben.Problem sind dabei weniger die politisch immer wieder in Anspruch genommenen „Umstände“, die eine striktere Konsolidierung einfach verhindern würden, sondern der fehlende politische Wille, weil Wählerwünsche enttäuscht und Wahlversprechen sich ansonsten als unfinanzierbar erweisen würden – und weil die ultraniedrigen Zinsen schlicht falsche Anreize setzen. Kredite sind ja so billig wie noch nie. Das ist verführerisch. Kritik an der Schuldenpolitik wird zudem gerne mit der Klage über die oktroyierte wachstumsfeindliche „Austeritätspolitik“ gekontert. Dabei haben die Staatsausgaben in der Eurozone seit 2007 beständig zugelegt. Die laute Klage vom Gürtelengerschnallen ist schlicht falsch.

Der Hunger nach Kredit (nicht nur von Staaten) ist indes ein globales Phänomen: Nach Angaben des McKinsey Institute ist die staatliche und private Verschuldung zwischen 2007 und 2017 weltweit von 97 auf 169 Bill. Dollar gestiegen. Der neue Chefökonom der DWS, Martin Moryson, zeigt sich denn auch ziemlich zerknirscht: „Die Schulden wandern, gehen aber nicht weg.“ Nur Schuldner und Gläubiger seien andere.

Gefährlich werden die Schulden vor allem dann, wenn der nächste Abschwung kommt. Dann trifft er auf einen Schuldenberg, der noch größer ist, als er es zu Beginn der Finanzkrise gewesen war. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Zentralbanken ihr Pulver weitgehend verschossen haben und noch nicht wieder ab­wehrbereit sind. Der konjunkturelle Herbst hat sogar schon begonnen; hinzu kommen der Protektionismus und das Unterfangen der Notenbanken, aus der ultralockeren Geldpolitik auszusteigen. Das hätten sie mal früher zu Boomzeiten machen müssen. Gerade deshalb erstaunt auch die Chuzpe, mit der die US-Regierung sich zur Finanzierung ihres Budgets am Kreditmarkt bedient und die Schuldenquote (und damit auch die Zinslast) weiter nach oben treibt.Was tun? Die Ökonomen der Commerzbank fordern eine „Schuldenbremse mit Biss“.

Aber wie durchsetzen, wenn die EU-Länder deren Verbindlichkeit ohnehin infrage stellen? Die verquere Debatte über deutsche „Austeritätsforderungen“ lässt tief blicken und lässt den Argwohn aufblitzen, der innerhalb der Eurozone allgegenwärtig ist. Die eine Staatengruppe setzt auf stabile Finanzen, die andere geht davon aus, dass Wachstum nur durch höhere (kreditfinanzierte) Staatsausgaben erreichbar ist. Zwei unvereinbare Standpunkte, welche letztlich die Existenz der Eurozone infrage stellen.Aber vielleicht gelingt noch ein Kompromiss. Nicht zu Unrecht war in den Maastricht-Kriterien ein Schuldenstand von 60 % des BIP und ein laufendes Defizit von maximal 3 % vorgegeben. Bei einem damals noch „normalen“ Zinsniveau von 5 % kann sich der Staat jedes Jahr dann das Geld für die Zinszahlungen ohne schlechtes Gewissen leihen, weil die Schuldenquote bei einem Nominalwachstum von 3 % unverändert bliebe. Das ist auch gerecht, weil aktuelle Investitionen auch der nächsten Generation zugutekommen.

Andererseits sollten dann aber auch jene den finanziellen Spielraum ausnutzen, welche  die Kriterien bereits erfüllen. Von einer „schwarzen Null“ war nie die Rede. Zumal die Entwicklung gezeigt hat, dass zur Zielerreichung stets zuerst bei Investitionen gespart wird, weshalb dann die Infrastruktur verfällt und Zukunftsausgaben darniederliegen. Es kommt also darauf an, wofür man das Geld ausgibt. Die jüngsten Ausgabenentscheidungen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz in Richtung soziale Wohltaten zeigen, dass Berlin hier nichts dazugelernt hat. Das gilt in den anderen Euro-Staaten aber genauso. Damit reduziert sich das Wachstumspotenzial und somit die Fähigkeit, in Zukunft höhere (demografische) Lasten zu schultern. Statt sich über Milliardenfonds in der EU zu verständigen, wäre es daher besser, sich auf eine Wachstumspolitik zu einigen in Anerkennung der Stabilitätskriterien – aber mit klarer Benennung, welche Investitionen keinesfalls gekürzt werden dürfen. Kurz: Die Fiskalpolitik muss sich Ausgabenregeln unterwerfen.

Kurs auf die nächste Krise

Aber vielleicht lässt die sich ab­zeichnende Konjunkturwende ohnehin keine finanziellen Spielräume mehr zu und es gilt, sich gegen die nächste Rezession zu wappnen. Dann ist den Regierungen das nationale Hemd natürlich näher als der europäische Rock, was jeden Kompromiss blockiert. Und was bleibt dann, um den Schuldenberg abzutragen? Inflation, Währungsreform, Staatsbankrott. Seit dem Jahr 1800 hatte es weltweit rund 250 Staatspleiten für die Auslandsschulden und mindestens 68 Inlandspleiten gegeben, bei denen die Einlagen der eigenen Bevölkerung in Landeswährung betroffen waren, haben die US-Öko­nomen Kenneth S. Rogoff und Carmen Reinhart nachgezählt. Ein solches Szenario würde dann auch jene Staaten in die Krise stürzen, die wenigstens versucht haben, eine nachhaltige Finanzpolitik zu betreiben. Die Konsolidierungsanstrengungen Deutschlands wären dann weitgehend umsonst gewesen.

Europa fehlen die Europäer

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Eine Debatte im Frankfurter House of Finance über Europas Zukunft jenseits technokratischer Lösungen.

Europa fehlen die Europäer. Während in der Vergangenheit die Europäische Union (EU) noch als Friedensgemeinschaft verstanden wurde, um die es zu kämpfen galt, regieren aktuell politischer Zwist, Kleinmut und Egoismus. Nicht zuletzt der angekündigte Austritt der Briten aus der EU (Brexit) machte die Gefahr deutlich, dass die europäische Nachkriegsordnung auch wieder rückabgewickelt werden kann.

Der frühere zypriotische Notenbankpräsident und heutige Wirtschaftsprofessor an der Sloan School of Management am MIT, Athanasios Orphanides, zeigte sich auf einer Diskussionsveranstaltung des Frankfurter Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) denn auch ausgesprochen skeptisch, dass es den Europäern noch gelingen wird, die Eurozone und die EU vor dem Zerfall – er sprach sogar von „Verwüstung“ – zu retten. Seines Erachtens fehlt es an einem institutionellen Überbau wie in den USA, um die Währungsunion vor Krisen zu bewahren und direkt auf die „Bundesstaaten“ durchwirken zu können. Allein es fehlen sowohl der politische Wille als auch der gesellschaftliche Konsens der Bevölkerung, diesen Weg zu beschreiten, meint er. Und solange dies der Fall sei, bleibe die Lage instabil und gefährlich.

Auch dem griechischstämmigen Frankfurter Ökonomen Michalis Haliassos ist die Zukunftsskepsis anzumerken, wenn er die Sorge beschreibt, dass sich der Nationalismus immer weiter verstärken könnte, gespeist aus der Angst, vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt abgehängt zu werden. Er warnt vor einer politischen „Entfremdungsspirale“, wenn die Menschen extreme Haltungen einnehmen, dies sich in politischen Mandaten niederschlägt und die Politik in immer extremere Positionen gedrängt wird.

Seines Erachtens wäre es jedoch ein Fehlgriff, dies allein der EU anzulasten. Vielmehr sei es eine Folge unterlassener Reformen in den jeweiligen Ländern. Die Politik habe Gelegenheiten, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, versäumt, die Verantwortung dafür aber der EU zugeschoben. Und schließlich sei es allein der nationalen Politik zuzuschreiben, wenn die Ungleichheit zugenommen habe, das Wachstum also nicht allen gesellschaftlichen Schichten zugutegekommen sei.

Für Orphanides ist die Sache klar: Brüssel und EU-Regierungen machen einen kapitalen Fehler, wenn sie die Lösung aller Probleme im Währungsraum oder im Binnenmarkt in ökonomisch-technokratischen Gebilden à la Banken- oder Kapitalmarktunion suchten. Das Krisenmanagement könne nicht funktionieren, weil es politisch nicht unterstützt werde.

Die Euro-Krise ist für ihn weniger eine Krise der ökonomischen Struktur, sondern eine Krise der Politik. Er hält die handelnden Akteure für außerstande, jenseits der nationalen Grenzen staatstragende Entscheidungen zu fällen, weil sie stets nur ihre Wiederwahl im Blick hätten. Vielmehr würden es ihnen durch die diffuse Struktur der Eurozone sogar leicht gemacht, Verantwortung und Schuld auf die europäische Ebene zu „delegieren“. Orphanides: „Es geht letztlich um die Abschiebung von Schuld auf andere – üblicherweise Brüssel.“ Das hinterlasse Spuren in der Bevölkerung und verstärke den antieuropäischen Reflex.

Seiner Ansicht nach kann man dieser Entwicklung nur begegnen, indem man das institutionelle Vakuum schnell beendet und die EU entweder zu „Vereinigten Staaten von Europa“ ausbaut oder der Realität Tribut zollt und alles auf einen Binnenmarkt zurückbaut.

Der Frankfurter Finanzwissenschaftler Volker Wieland hält Orphanides‘ Analyse insoweit für richtig, als er ebenfalls den Mangel an Verantwortungsbewusstsein in Europa beklagt. Das gelte sowohl für Gläubiger wie für Schuldner, die sich der Konsequenzen ihres Handelns eigentlich stärker bewusst sein müssten. Allerdings ist es seines Erachtens eine verzerrte Wahrnehmung, dass die Politik außerstande sei, europäisches Gemeinwohl ins Auge zu nehmen. Er nennt Staatsmänner von Konrad Adenauer bis Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

Mehr denn je kommt es seines Erachtens aber nun darauf an, der Ungleichheit zu begegnen und auf diese Weise die Tendenz zur nationalen Abschottung zu stoppen. Notwendig sei zudem, den nationalen Bezug wiederherzustellen, indem dem Subsidiaritätsprinzip endlich die gebührende Achtsamkeit zuteil werde. Nicht alles dürfe „in Brüssel“ geregelt werden. Aber Umwelt-, Energie- und Sicherheitspolitik könnten nun mal nur gemeinschaftlich erfolgreich sein. Sie müssten als positive Aushängeschilder fungieren.

Der Robin-Hood-Nimbus von Tsipras ist verblasst

Es geht um die Deutungshoheit, wenn es zum Äußersten, dem Grexit, kommt, Athen also pleitegeht und die Eurozone verlassen muss. Und deshalb steht in großen Teilen der Diskussionsforen in den sozialen Netzwerken längst fest, wer schuldig am griechischen Debakel ist: die von Berlin aus diktierte europäische „Rettungspolitik“. Sie habe das Land „auf dem Gewissen“, sei für die Verarmung der unteren Schichten verantwortlich. Da ist vom „Zerfall des deutschen Europas“ die Rede, Griechenland, das „niederkonkurriert“ worden sei und „kleingehalten“ werde. Die „sogenannte Rettungspolitik“ wird vom früheren deutschen Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck als „Anmaßung“ und „kalte Machtausübung“ bezeichnet.
Auch die Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz sticheln immer wieder und fordern Brüssel auf, den Athener Wünschen doch nachzugeben, sich endlich auf einen Schuldenschnitt einzulassen. Und für die linke Aktivistin Naomi Klein ist es sogar ein „Kampf für die Demokratie“, den Athen derzeit heroisch durchzieht.
Es geht tatsächlich um mehr als „nur“ um Griechenland. Können die Menschen überzeugt werden, dass eine „kapitalistische Rettungspolitik“ das Land auf dem Gewissen hat, ändern sich auch für den dahinterstehenden wiederaufflackernden ideologischen Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus die Kräfteverhältnisse. Entsprechend werden Tsipras‘ Bannerträger in den sozialen Netzwerken nicht müde, ihre Sicht der Dinge zum dominanten Erklärungsmuster zu machen.

Vertrauen verspielt

Wie verzweifelt die europäischen Institutionen und Staatenvertreter über die Schuldzuschreibungen sind, zeigt auch, dass die üblicherweise eher zurückhaltende Europäische Zentralbank (EZB) Anfang April mit einer „Opinion“ in die Öffentlichkeit gegangen ist. Darin hat sie das griechische Zwangsräumungsgesetz offensiv kritisiert, weil Athen damit nicht wie zunächst bekundet vor allem Arme vor einer Zwangsräumung schützen will. Vielmehr werden nun auch Wohlhabende mit einem Vermögen von bis zu 500000 Euro einbezogen. Die meisten Immobilienbesitzer können nun gefahrlos die Bedienung ihrer Kredite stoppen, was die Sicherheiten der Banken entwertet. Also vergeben diese lieber gar keine Kredite mehr, was die Erholung der griechischen Bauindustrie verhindert.
Normalerweise überlässt die EZB eine solche Demarche der EU oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die mit ihr in der Troika (jetzt: „Institutionen“) zusammensitzen. Aber wie der Zulauf zu extremen Parteien in den Krisenstaaten zeigt, besteht durchaus die Gefahr, dass sich ein falsches Realitätsbild festsetzt, das die Notenbank zum Sündenbock macht. Also geht die EZB selber in die Offensive. Und inzwischen verlieren auch die anderen Europartner Griechenlands die Geduld mit der Athener Regierung, wie sich jetzt auf dem Finanzministertreffen der Eurogruppe in Riga gezeigt hat.
Dabei zeigt die neue Linksregierung in Athen unter Alexis Tsipras bereits seit einiger Zeit, dass sie keinesfalls jener integre, vom alten Politklüngel unabhängige Personenkreis ist, für den sie sich gern ausgibt. Die politischen Entscheidungen erschöpften sich bislang nur in höheren Sozialausgaben, in einem Privatisierungsstopp und in strikter Reformverweigerung. Die wenigen höhere Einnahmen versprechenden Vorschläge sind nur Hoffnungswerte auf künftiges Wachstum. Das aber wird sich nicht einstellen, weil die Athener Politik ihre Glaubwürdigkeit verloren und die bisherigen Reformerfolge verspielt hat. Investoren machen einen großen Bogen um Griechenland – und die eigenen Bürger schaffen ihr Geld ins Ausland.

Linke Klientelpolitik

Mehr und mehr wird klar, dass Tsipras auch nicht der „Robin Hood“ ist, den er für seine Claqueure darstellt, sondern eher den „Sheriff von Nottingham“ mimt. Denn wie seine Vorgänger im Amt macht er Klientelpolitik und lässt die Reichen weiter gewähren. Es fängt schon damit an, dass der von ihm eingesetzte Untersuchungsausschuss zur Entwicklung der Krise nur die Zeit ab 2009 untersuchen soll statt die Umtriebe der Oligarchen oder den Nepotismus davor. Dabei war das Land schon vor 2009 heruntergewirtschaftet. Die Intention ist also klar: die Verantwortlichen werden im Ausland gesucht – bei den Gläubigern.
Auch die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Präsidenten der griechischen Statistikbehörde Elstat, Andreas Georgiou, zielen in diese Richtung. Ihm wird vorgeworfen, für 2009 ein zu hohes Haushaltsdefizit errechnet und damit Griechenlands Kreditgebern erst die Rechtfertigung für die unpopulären Sparmaßnahmen geliefert zu haben. Nicht belangt werden sollen indes die Verantwortlichen, welche das Defizit einst in betrügerischer Absicht zu niedrig angesetzt und sich damit die Euro-Mitgliedschaft erschlichen haben. Dass die Korruptionsbekämpfungseinheit nun in das Finanzministerium eingegliedert worden ist und damit ihre Unabhängigkeit verliert, passt ebenfalls ins Bild. Politische Umstände könnten es ja notwendig machen, die Beamten zu bremsen.
Wenig übrig von Tsipras‘ Nimbus als eines Kämpfers für die Armen bleibt beim Blick auf die Steuerpolitik. Freiberufler sind weitgehend steuerbefreit und dürfen ihre Einnahmen selbst schätzen. Der Finanzminister hat schlicht „vergessen“ das neue Steuergesetz umzusetzen. Und auch beim Steuerstundungsgesetz hat Tsipras nun die Schwelle wieder abgeschafft, wonach nur Steuerschuldner unter 1 Mill. Euro davon profitieren dürfen. Das freut die Wohlhabenden.
Ähnlich die Entwicklung bei der Immobiliensteuer: Die Regierung Samaras hatte sie auf Drängen der Troika einst eingeführt, um reiche Griechen an der Finanzierung des Staatshaushalts stärker zu beteiligen. Im Wahlkampf versprach Tsipras dann eine Lockerung, was das Steueraufkommen schon vorab einbrechen ließ. Dem Vernehmen nach soll sie jetzt in eine Reichensteuer aufgehen. Konkrete Entscheidungen stehen aber noch aus. Auch die Streichung der Steuerermäßigung für die wohlhabenden griechischen Touristeninseln wird nun doch nicht exekutiert. Dabei sollten die Mehreinnahmen den Arbeitslosen zugutekommen. – Und schließlich die soziale Schieflage beim Gesetz gegen Zwangsversteigerungen, wogegen sich aktuell die EZB gewendet hat.

Der Staat als Beute

Dass Athen bislang nicht auf Angebote aus der Schweiz und aus Deutschland reagiert hat, sich um die griechischen Steuerflüchtlinge zu kümmern, sofern man nur ein entsprechendes Amtshilfeersuchen stellt, passt da ins Bild. Es hat den Anschein, dass sich die neue Regierung wie ihre Vorgängerregierungen nun ebenfalls den Staat zur Beute machen will, dabei auf die alten Netzwerke zurückgreift und deren Repräsentanten dafür schont. Damit dieses System erhalten bleibt, muss der Bürgerzorn umgelenkt werden – auf Brüssel, Berlin und die EZB.

Selbstgefälliges Deutschland

Die deutschen Unternehmen leben derzeit in der besten aller Welten: Ihre Exportgüter werden ihnen auf den Weltmärkten förmlich aus den Händen gerissen. Zugleich rennen ihnen die Konsumenten im Heimatmarkt die Bude ein. Kein Wunder, dass die Unternehmensstimmung hierzulande so blendend ist, wie das jetzt das Ifo-Institut in seiner neuesten Umfrage zum Geschäftsklima festgestellt hat. Die Wirtschaft expandiert und auch die Wachstumsaussichten für die nächsten Monate werden in rosigen Farben geschildert. Zumal sich die wegen der Schuldenkrise bisher darniederliegenden Märkte in Europa ebenfalls erholen und sich auch da wieder Absatzchancen für deutsche Produkte auftun.

Allerdings ist der Aufschwung, über den sich die deutsche Wirtschaft derzeit so sehr freut, letztlich nur ein großer Glücksfall. Dass der Ölpreis so tief fällt, um wie ein Konjunkturprogramm zu wirken, ist letztlich dem Frackingboom in den USA sowie geopolitischen Umständen zu verdanken. Wird das dabei gesparte Geld nun nicht für Investitionen in Effizienztechnologien und zur Steigerung der Produktivität hergenommen, um für bald wieder höhere Energiepreise gewappnet zu sein, dürfte das Wehklagen später umso lauter zu hören sein. Die dann einhergehenden Wachstumsverluste könnten die heute bejubelten Wachstumsgewinne weit in den Schatten stellen.

Auch die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten ist nicht das Verdienst der heimischen Industrie, sondern vor allem Resultat der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich damit – nebenbei bemerkt – das Risiko eines Währungskrieges einhandelt und den Boden für neue Finanzkrisen bereitet. Denn die Geldflut der Notenbank schwächt den Euro-Kurs und senkt die Zinsen teilweise bis unter die Nulllinie. Das erhöht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit aller Euro-Exporteure ohne deren Zutun. Und auch der Konsumboom ist ein Reflex darauf, weil das Ersparte kaum mehr Zinsen abwirft und deshalb gleich verausgabt wird. Dass mit dieser Politik aber auch die Altersvorsorge erodiert, was viele Menschen später einmal hart treffen wird, gerät dabei leicht in Vergessenheit.

Obendrein verführt die phänomenale Konjunkturstimmung zu Selbstgefälligkeit. Das gilt für die Politik, welche die Steuermehreinnahmen noch immer zu wenig in investive Projekte steckt und eher konsumtiven und sozialen Ausgaben huldigt. Strukturreformen werden ebenfalls hintangestellt – sie scheinen derzeit ja nicht nötig. Und auch die Unternehmen nutzen die guten Zeiten zu wenig für Investitionen in die Zukunft des Standorts. Die Etats dafür legen zwar etwas zu, das wird dem über Jahre aufgestauten Nachholbedarf aber nicht gerecht. Erneut wird eine Chance vertan. Dabei ist klar: Geht man Reformen und Investitionen zu spät an, wird es umso schmerzlicher. Die Mühen bei der Umsetzung der Agenda 2010 haben es gezeigt.

(erschienen in: Börsen-Zeitung, 26.3.2015)

Eurozone: Freiwilligkeit funktioniert nicht

Die aktuelle Debatte über die Nichteinhaltung von Reformvereinbarungen durch Griechenland zeigt erneut: Freiwillig unterzieht sich keine Regierung harten Strukturreformen, um ihr Land wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das war schon in Deutschland so, als die heimische Volkswirtschaft noch die „rote Laterne“ der Gemeinschaft in der Hand hielt. Unser Land galt als Abstiegskandidat. Die Arbeitslosigkeit erreichte schwindelerregende Höhen, das Haushaltsdefizit war kaum zu bändigen. Erst dieser Druck hatte die Bundesregierung 2003 zu den Reformen der „Agenda 2010“ genötigt. Die Widerstände in der Öffentlichkeit – auf der Straße und in den Medien – waren gewaltig, konnten jedoch überwunden werden. Ergebnis: Deutschland kann wieder passables Wachstum vorweisen, die Arbeitslosigkeit wurde zurückgedrängt, der Staatshaushalt ausgeglichen, die Schuldenquote sinkt.

Solidarität und Solidität

Freiwillig werden auch anderswo in der Eurozone keine Reformen durchgezogen: Entweder wird der Druck von Seiten der Märkte zu groß, welcher die Verschuldungskosten nach oben treibt und so die Regierung auf Reformkurs zwingt. Oder von Seiten der anderen Euro-Staaten wird Druck ausgeübt, weil sie Finanzhilfen nur unter der Bedingung fester Reformzusagen gewähren. Diese Konditionalität hat sich in der Eurozone als praktikabel und im Hinblick auf Spanien und Portugal sogar als durchaus erfolgreich erwiesen. Zwar ist den Euro-Staaten der finanzielle Beistand laut EU-Verträgen eigentlich verboten, doch die Aussicht auf Reformen und auf eine stabilere Währungsunion hat den Rechtsbruch in großen Teilen der Öffentlichkeit tolerierbar erscheinen lassen. Zudem scheint damit auch die immer wieder eingeforderte Solidarität mit der erstrebten Solidität auf beste Weise zu verschmelzen.

Voraussetzung ist aber, dass die betroffenen Länder sich auch tatsächlich an die Absprachen halten und die angedrohten Sanktionen im Falle des Zuwiderhandelns tatsächlich verhängt werden. Das scheint in der Eurozone nicht gewährleistet zu sein, was wiederum einzelne Länder herausfordert, die Grenzen auszutesten. Italien etwa, das nie ernsthafte Sanktionen zu befürchten hatte, weil der Stabilitätspakt in der Praxis ein stumpfes Schwert geworden ist und das Land bislang auch keine direkten Finanzhilfen in Anspruch nehmen musste, hat über Jahre immer wieder Reformversprechen abgegeben, um mehr Bewegungsspielraum bei der Aufstellung des Haushalts zu bekommen. Doch den Ankündigungen sind bislang nur wenige Taten gefolgt. Und auch Frankreich hat es zu einer wahren Meisterschaft in Verschleppungstaktik gebracht: Die geforderte Einhaltung des Defizitziels wurde stets erneut in die Zukunft verlagert. Dass angesichts solcher Nonchalance die Währungsunion bis heute gehalten hat, grenzt schon an ein Wunder. Denn derlei Verhalten sorgt für Misstrauen und Ärger, die sich anstauen und die Gemeinschaft über die Zeit zum Platzen bringen können.

Troika ausgebootet

Nun könnte das Beispiel Griechenland diesen Prozess noch beschleunigen. Denn am Wohlverhalten der Athener Regierungen waren schon immer Zweifel angebracht. Viele der fest vereinbarten Reformen wurden entweder nur in verwässerter Form durch das Parlament gebracht, oder sie sind im Verwaltungsapparat stecken geblieben. Angesichts von Finanzhilfen geradezu biblischen Ausmaßes hatte man die Troika als unbestechliche Kontrollinstanz eingesetzt, bestehend aus den Kapitalgebern EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) sowie der Europäischen Zentralbank (EZB). Letztere hat über ihre Geldpolitik ebenfalls großes Interesse an einer Stabilisierung des Landes. Doch selbst unter der Troika kamen die Reformen nur schleppend voran. Die Regierung verteilte die geforderten Kürzungen zudem einseitig auf die Normalbürger, so dass sich deren Hass nun auf Brüssel und Berlin richtet.

Dass es nach dem Ausbooten der Troika in Griechenland jetzt besser laufen könnte, ja sogar von einem Neuanfang die Rede ist, glaubt am Ende wohl selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht. Athen würde die neue Bewegungsfreiheit eines wie immer gearteten Kompromisses nur zu neuen Exzessen ausnutzen, wie die ersten Reformrücknahmen der neuen Regierung bereits erahnen lassen.

Damit die Athener Regierung ihr Modell eines Staatssozialismus umsetzen kann, müsste der Regierung aber die Zentralbank willfährig sein. Denn ohne weitere EU-Finanzhilfe wären die Ausgabenwünsche nur noch mit der Notenpresse erfüllbar. Am Verhalten der EZB in diesen Tagen wird sich deshalb zeigen, wie unabhängig die Notenbank tatsächlich noch ist und inwieweit sie sich bereits als Erfüllungsgehilfe der Staaten sieht, wenn sie über die monetäre Finanzierung der griechischen Banken zu entscheiden hat. Unabhängig davon ist dies auch ein Lackmustest dafür, ob die Konditionalität von Finanzhilfe gegen Reformen überhaupt noch gilt. Wird das aufgekündigt, hätten sich die Grundlagen der Währungsunion verflüchtigt.

Deutsche Konjunktur: Hoffnungswerte

Die heimische Wirtschaft sonnt sich derzeit in einer für ihre Verhältnisse geradezu grandiosen Wachstumszahl: Um 1,5 % hat die Wertschöpfung 2014 zugelegt, so viel wie seit drei Jahren nicht mehr. Seinerzeit hatte sich Deutschland gerade vom tiefen Einbruch durch die Finanzkrise erholt. Anschließend war die Enttäuschung groß, dass sich danach nur noch ein Miniwachstum eingestellt hatte. Insofern sind die gleich nach Bekanntgabe der Wachstumsdaten geäußerten euphorischen Kommentare nachvollziehbar. Zumindest optisch scheint das Konjunkturtief nun überstanden. Und die Hoffnung ist riesig, dass das Wachstum 2015 auf ähnlich hohem Niveau verlaufen wird. Die Beschäftigungs- sowie die Lohnentwicklung und auch die Exporte scheinen eine solch rosige Sicht durchaus nahezulegen.
Aber schon der Blick auf die Quartalszahlen zeigt, dass die optimistischen Prognosen nur Hoffnungswerte darstellen. Denn das relativ hohe Wachstum war fast ausschließlich einem phänomenalen ersten Quartal und einem enormen statistischen Überhang aus dem Jahr davor zu verdanken. Schon im Frühjahr legte die heimische Wirtschaft eine Vollbremsung hin. Bis jetzt trauen die Unternehmen der Entwicklung nicht, wie die ausgedünnten Investitionspläne signalisieren. Die globalen politischen Krisen, die Sanktionspolitik des Westens, die dilettantisch eingefädelte und kostspielige Energiewende sowie jüngste sozialpolitische Entscheidungen haben eine große Verunsicherung in der Unternehmerschaft hinterlassen. Die Angst vor höheren Belastungen ist überall spürbar. Diese Verunsicherung kann nur aufgebrochen werden, wenn die Bundesregierung durch eine klug eingefädelte Reform- und Steuerpolitik sowie flankierende Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung erkennen lässt, dass sie die Sicherung der ökonomischen Grundlagen nicht ganz aus den Augen verloren hat.

Ein solches Signal ist schon daher überfällig, weil die verbreiteten Prognosen auf eher vergänglichen Grundlagen fußen wie den abgestürzten Ölpreisen. Oder sie wurden durch die EZB-Politik künstlich erzeugt wie der sinkende Euro-Kurs. Ihnen stehen auch große politische und ökonomische Risiken gegenüber. Stichworte sind die Ukraine und die Wahlen in Griechenland mit Implikationen weit in die Eurozone hinein. Das macht es umso wichtiger, die Robustheit der heimischen Wirtschaftsstrukturen zu stärken durch Reformen und Investitionen, was ohne die nötigen Berliner Weichenstellungen nicht passieren wird.

Die Amerikanisierung der Eurozone

Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz
Soll die Eurozone insgesamt wieder auf die Beine kommen, muss sich der Währungsraum nach Meinung von Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz von althergebrachten ökonomischen Vorstellungen verabschieden und – so möchte man hinzufügen – amerikanischer werden: Weg mit der Austerität, solange das Bankensystem nicht stabil genug ist und zu wenig Kredite vergibt; weg mit der Fixierung auf Schuldenstands- und Defizitquoten, weil deren Missachtung ja gerade nicht zur Euro-Krise geführt hat, wie etwa die niedrigen Vorkrisenquoten in Irland, Spanien und Portugal zeigen. Stattdessen muss das Preisstabilitätsmandat der Europäischen Zentralbank (EZB) um ein Arbeitslosen- und Finanzstabilitätsziel ergänzt werden, braucht es eine echte Bankenunion im Euroraum, eine europäische Arbeitslosenversicherung und – natürlich – Euroland-Bonds. Erst diese Eingriffe würden die Eurozone nachhaltig stabilisieren und das Wachstum wieder auf Normalmaß heraufschleusen, versichert Stiglitz bei einer Veranstaltung von Shearman & Sterling in Frankfurt.

Wenn Deutschland immer wieder Austerität predige, die Einhaltung von Fiskalversprechen einfordere, sich aber einem Finanzausgleich im Währungsraum verweigere, sich nicht der Konsequenzen eines einheitlichen Währungsraums stelle, würden die Deutschen in nicht allzu ferner Zukunft einen wohl noch höheren Preis zahlen müssen, prophezeit Stiglitz. „Ich möchte mir gar nicht ausmalen, welche politischen Folgen es hat, wenn die Arbeitslosenraten in der Eurozone noch längere Zeit so hoch sind wie jetzt.“

In deutschen Ohren klingt derlei Politikschelte in der Tat schmerzhaft, weil Stiglitz‘ Argumentation Vorstellungen von Ordnungspolitik und der Begrenzung staatlicher und zentralbanklicher Macht mit einem Wisch fortfegt. Mehr Industriepolitik, fordert er etwa. Davon gebe es in Europa zu wenig. Die USA seien da viel weiter. Es werde nur nicht „Industriepolitik“ genannt, sondern verstecke sich hinter den „Ausgaben des Defence Department“.

Stiglitz redet zudem einer ökonomischen Feinsteuerung durch die Notenbank das Wort, die hierzulande verpönt ist. Auch das Bankensystem soll nach seinem Dafürhalten nicht rigoros von der Staatssphäre abgekoppelt werden, wie in Europa angestrebt wird, weil das Finanzsystem nur durch einen „Blankoscheck“ der jeweiligen Regierung Krisen überstehen könne. Und auch die Staatsverschuldung sei im Grunde genommen kein Problem, solange die Notenbank einfach Geld drucken könne. Das funktioniere im Euroraum nur deshalb nicht so gut wie in den USA, weil die Staaten keinen Zugriff auf diese Finanzierungsmethode hätten. Stiglitz: „Die USA werden nie eine Schuldenkrise haben, weil es das eigene Geld ist, in dem sie sich verschulden. Und das kann man schnell nachdrucken.“

Ein möglicher Vertrauensverlust in die Währung schert ihn ebenso wenig wie das Ausnutzen von derlei „Versicherung“ durch das Bankwesen. „Marktwirtschaft“ unterscheidet sich vor diesem Hintergrund gar nicht mehr so sehr von anderen Wirtschaftskonzepten wie Planification – eine Art Notenbank-Sozialismus eben.

Was der US-Topökonom richtig beschreibt, sind die Probleme, die sich Europa durch die aus ökonomischer Sicht überhastet eingeführte Währungsunion eingehandelt hat. Das Gebiet stellt in keinster Weise einen optimalen Währungsraum dar. Zu groß die kulturellen, ökonomischen und politischen Unterschiede, zu wenige gemeinsame Institutionen und nicht einmal ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft, wenn es etwa darum geht, die einmal eingegangenen Versprechen auch zu halten und die nötigen Reformen durchzuführen. Stattdessen ist Flickschusterei angesagt, wie die Einrichtung eines Eurorettungsfonds und einer bei der EZB angeflanschten Bankenaufsicht für die größten Institute.

Was Stiglitz aber außer Acht lässt, ist, dass es ja gerade jene bislang ausgebliebenen Reformen sind, die Länder wie etwa aktuell Frankreich dazu befähigen sollen, eine stabile Binnennachfrage zu etablieren und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes wieder zu steigern. Es ist diese Unfähigkeit der politischen Eliten in diesen (und anderen) Ländern, welche die Eurozone immer wieder neuen Belastungsproben aussetzt und den Groll in der Bevölkerung gegenüber dem Verhalten anderer Länder steigert.

Umgekehrt hat ja auch der von Stiglitz empfohlene ökonomische Umbau seine Schattenseiten, die der Ökonom fairerweise nicht vorenthält: Niedrigzinsen bzw. Minuszinsen sowie die Ankaufprogramme der Notenbanken können in eine Blasenwirtschaft münden, was die nächste Krise vorherbestimmt. Stiglitz‘ ökonomische Rezeptur bevorteilt zudem Vermögende und hohe Einkommen, was die soziale Ungleichheit immens vergrößert und selber wiederum für politischen Zündstoff sorgt. Hinzu kommt, dass das auf diese Weise initialisierte Wachstum weniger neue Arbeitsplätze schafft als in früheren Aufschwungphasen. Niedrigste Zinsen verführen nämlich zu kapitalintensiven Investitionen, die nur wenige neue Jobs hervorbringen – und noch existente Arbeitsplätze zudem gefährden. Das bringt den Nobelpreisträger wieder auf den Gedanken, dass der Staat hier mit eigenen Investitionen in die Infrastruktur vorpreschen muss, um diese Probleme zu lindern. Ein Eingriff folgt auf den nächsten. Am Schluss dürften von freien Märkten nur noch ein paar Nischen übrigbleiben.

Und was heißt das für die Zukunft der Währungsunion? Stiglitz: „Eine Auflösung wäre keine gute Lösung. Aber es gibt immer auch ein Leben nach der Scheidung.“

Das letzte Wort hat Karlsruhe

Mit großer Spannung warten nicht nur die Prozessbeteiligten auf die Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) am Dienstag, 14. Oktober, über die Rechtmäßigkeit der OMT-Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB). Denn es geht dabei um viel mehr als die Frage nach der Verfassungs- oder Europarechtswidrigkeit einzelner Ankäufe kurzlaufender Staatsanleihen von Krisenländern, sondern insgesamt um die Freiheitsgrade der EZB, um eine Klärung des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und nationalem Recht und letztlich um das Maß an Souveränität, das im Währungsverbund vergemeinschaftet werden darf. Und davon hängt auch ab, wie die Märkte den später zu erwartenden Urteilsspruch aufnehmen. Schlimmstenfalls könnte Karlsruhe brüskiert werden, was einen Aufschrei in Deutschland auslösen und den eurokritischen Kräften noch mehr Zulauf bescheren würde, oder die EZB wird gezügelt, was ein Wiederaufleben der Euro-Krise nach sich ziehen könnte.

Das Problem für Karlsruhe: Die Richter gehen davon aus, dass die Frankfurter Euro-Banker ihr Mandat mit den angekündigten selektiven Staatsanleihekäufen überstrapaziert haben, da die EZB aber dem Europarecht untersteht, können sie die Notenbank nicht bremsen. Allenfalls die Bundesbank müsste sich einem negativen Richterspruch beugen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann opponiert aber ohnehin schon länger gegen diese EZB-Politik – meist erfolglos, weil eine Mehrheit seiner Kollegen Staatsanleihekäufen positiv gegenübersteht.

Entscheidend ist deshalb, ob sich die Karlsruher Richter einem möglicherweise ebenfalls nachsichtigen Richterspruch ihrer Europakollegen entgegenstellen und einen offenen Konflikt riskieren wollen. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio hielt in einem Vortrag in der School of Finance in Frankfurt zwar nicht hinterm Berg mit seiner kritischen Haltung zum EZB-Gebaren, rechnet aber seinerseits mit einem gewissen Entgegenkommen. Das Bundesverfassungsgericht werde „wohl seinerseits jede Andeutung einer Beschränkung der EZB seitens des EuGH wohlwollend aufnehmen“, meint er.

Aber auch die EZB muss vorsichtig agieren, würde sie einen großen Verfassungskonflikt doch nicht unbeschadet überstehen. Schließlich würde ihr das Vertrauen des größten und wichtigsten Mitgliedslands entzogen, die öffentliche Debatte würde ihr zusetzen und die Märkte würden negativ reagieren. „Im Endeffekt“, so di Fabio, „müsste Deutschland wohl aus dem Euro austreten.“

Der wohl unlösbare Konflikt besteht allein deshalb, weil die Politik und die sie tragende Bevölkerung nicht willens oder imstande sind, die EU in einen Bundesstaat zu überführen mit klarer Verantwortung und Machtverteilung. So bleibt das Gebilde „ambivalent“, wie di Fabio sagt. Solange das der Fall sei, werde es immer wieder zu Klagen kommen. Auch die jüngsten EZB-Beschlüsse zum Ankauf von Kreditverbriefungen und Pfandbriefen dürften Verfassungsbeschwerden nach sich ziehen, weil die Notenbank nach Ansicht ihrer Kritiker zu hohe Risiken in die Bilanz nimmt, erwartet di Fabio. Denn es komme zu einem Haftungsautomatismus. Die Bankenunion sei ein weiteres Klagefeld.

Entsprechend groß ist deshalb der Druck auf die Politik, nicht nur die institutionellen Fragen der Euro-Rettung zu klären, sondern eine größere Debatte über die Finalität Europas einzuleiten. Die könnte in eine Grundgesetzänderung münden, was der europäischen Integration mehr Freiräume zugestehen würde. Solange dies aber nicht geschehen sei, dürfe in einem souveränen Staat das Grundrecht auf Demokratie „nicht entleert werden“. Die Gewählten „müssten schon noch etwas zu entscheiden haben“. Und bis dahin, so di Fabio, „darf auch der EuGH nicht da letzte Wort haben, sondern das Bundesverfassungsgericht“.

Die Feigheit der EZB vor der Politik

Für die einen ist es hohe Kunst, für die anderen Hexenwerk: Gleich mit einer ganzen Phalanx an geldpolitischen Maßnahmen geht die Europäische Zentralbank (EZB) gegen die im Eurogebiet aufgekommenen deflationären Tendenzen sowie gegen die Kredit- und Wachstumsschwäche vor. Niedrigere Leitzinsen und ein negativer Einlagensatz sollen den Euro schwächen und die Konjunktur stärken, ein attraktiver, aber konditionierter Langfristtender die Kreditvergabe der Banken ankurbeln. Zudem wird der direkte Ankauf von Kreditpaketen (ABS) vorbereitet.

Der weitgehend auf unerprobtem Gelände stattfindende geldpolitische Rundumschlag der EZB dürfte in die Geschichtsbücher eingehen – falls das dahinterstehende Kalkül aufgeht! Und daran bestehen begründete Zweifel. Der mickrige Zinsschritt löst allenfalls einen Placeboeffekt aus, der Negativzins könnte sogar mehr schaden als nützen, wenn deswegen die Bankgebühren zulegen. Und der Markt für europäische ABS ist so klein, dass ein Ankauf von Papieren allenfalls symbolische Bedeutung hat. Die Wirkung auf die Realwirtschaft ist also eher begrenzt. Lediglich die Banken dürfen sich ungeteilt freuen, erhalten sie doch erneut billiges Geld für lau. Dabei herrscht an Liquidität kein Mangel.

Gleichzeitig begibt sich die EZB auf gefährliches Terrain: Denn die gebotene Kontrolle der Kreditkonditionen gebiert ein bürokratisches Monster. Fehlentscheidungen werden nicht ausbleiben und an der Glaubwürdigkeit der Notenbank nagen. Dabei ist diese das Zentrum ihrer Macht: Nur das Vertrauen der Marktteilnehmer und Eurobürger in die Neutralität und Unabhängigkeit der Notenbank hält die Geldordnung stabil. Wenn nun aber die EZB über die Kreditvergabe in die Realwirtschaft eingreift, durch ihre Geldpolitik viele Menschen um ihr Erspartes bringt, woran ganze Lebensentwürfe zerbrechen, zudem neue Unsicherheiten aufkommen, wird das Misstrauen sähen und ihre Instrumente abstumpfen lassen. Ganz abgesehen von dadurch heraufbeschworene Gefahren neuer Finanzblasen.

Die EZB hat zugleich eine gigantische Umverteilungsmaschinerie in Gang gesetzt. Das Bankenwohl steht an erster Stelle – und der Politik wird ein Freifahrtschein ausgestellt. Sie kann nun alle Reformanstrengungen fahren lassen. Die Eurobürger indes zahlen die Zeche. Es sind diese Rangordnung und die Feigheit der Notenbank, die Politik endlich durch geldpolitisches Stillhalten in die Verantwortung zu pressen, welche die größten Gefahren für die Eurozone darstellen.