Piketty

Die Macht des Finanzkapitalismus

Wie Staatsverschuldung und Geldpolitik die Realwirtschaft in die Zange nehmen

Von Stephan Lorz

Die Debatte trieft vor Verlogenheit: Frankreich, Italien und – natürlich – Griechenland haben die Bösewichte ausgemacht, die ihren fiskalischen Bewegungsradius einschränken und – nach ihrem Verständnis – damit Wohlstand, Wachstum und Fortschritt gefährden. Zum einen die Finanzmärkte, weil sie ihnen höhere Zinsen abknöpfen und die Finanzierung der Defizite glatt verweigern (können). Deshalb ihre Forderung, die Notenbank hätte doch die Pflicht, die Staatsfinanzierung sicherzustellen. Zum anderen die deutsche Bundesregierung, weil diese auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen besteht. Nur durch entsprechendes fiskalisches Wohlverhalten, argumentieren die Deutschen, könnten die von den Finanzmärkten kritisch beobachteten Länder sich wieder das nötige Vertrauen erarbeiten und auf diese Weise wieder mehr fiskalischen Bewegungsspielraum erhalten. Alles Falsch! tönt es aus Paris, Rom und Athen. Nur höhere Staatsausgaben würden höheres Wachstum ermöglichen, was wiederum die Tragfähigkeit und Finanzierung der Staatsverschuldung verbessert und sicherstellt. Austeritätspolitik wird als Ursprung aller Not dargestellt – eine durch und durch verlogene Haltung. Denn es war die überhöhte Verschuldung, welche die sich jetzt über „Austerität“ beklagenden Länder erst in ihre unangenehme Situation gebracht haben.

Noch schlimmer: Erst durch ihr eigenes Handeln hatten die Regierungen in Paris, Rom, Athen  und anderen Staaten die Macht jener Finanzakteure erst konstituiert. Denn mit ihren immer höheren Haushaltsdefiziten haben sie sich ja selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Gläubigern begeben, und zugleich so hohe Kreditvolumina in den Markt gepumpt, die – zusammen mit der Deregulierung des Finanzsektors – den Charakter des Kapitalismus nachhaltig verändert haben. Die Finanzmärkte sind aufgrund ihrer neuen Dimension seither nicht mehr Diener der Realwirtschaft, als die sie sich über Jahrzehnte verstanden hatten, sondern wurden selbst zur dominierenden Macht. Die niedrigen Zinsen im Euroraum tragen ihrerseits auch noch dazu bei, dass die Macht der Investoren und Gläubiger weiter ausgebaut und zementiert wird: Der Konsolidierungsdruck lässt nach, die Notenbanken drücken zusätzliche Finanzvolumina in den Markt und nehmen mit ihren Anleihekäufen den Finanzakteuren das Risiko aus der Hand, was zu dramatischen Fehlallokationen führt und den Regierungen die Verschuldung weiter erleichtert.

Aufgebläht durch das „Schuldgeld“ ist weltweit eine Art Kreditökonomie entstanden, die eher auf kurzfristige Rendite abstellt als auf Nachhaltigkeit. In dieser Welt erscheinen Bilanz optimierende Kennzahlen wichtiger als Produkt- und Prozessinnovationen,  Finanzprodukten wird realwirtschaftlichen Gütern immer der Vorrang eingeräumt. Das schlägt sich auch in den Eckdaten der globalen Wirtschaft nieder: Betrug das Handelsvolumen der weltweiten Finanzmärkte Anfang der neunziger Jahre noch etwa das 15-Fache der realen Wertschöpfung, lag dieser Wert im vorvergangenen Jahr schon bei über dem 70-Fachen –trotz Finanzkrise und neuen Regulierungen. Schon das schiere Volumen lässt erahnen, das Wirkungen auf die Realwirtschaft nicht ausbleiben können.

Diese Entwicklung schlägt sich auch auf das Finanzvermögen nieder, das vor allem von bereits vermögenden Personen gehalten wird: Hatte es in den USA und Deutschland in den siebziger Jahren noch bei 80% der Nettowertschöpfung gelegen, während das Realvermögen 200% erreichte, kommen jetzt beide auf den 200er Wert. Stephan Schulmeister, Ökonom beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut, sieht nicht zuletzt darin den Grund für die zunehmende Ungleichheit: Die Lohnquote sinke, die Kapitalquote steige.

Inwieweit die Unwucht zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft tatsächlich die Ungleichheit erhöht, darüber streitet sich indes die Wissenschaft. Der Kernthese des französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge ist die Kapitalrendite tendenziell immer höher als die Realrendite, weshalb Kapitalvermögen schneller wachsen und Ungleichheit insofern kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus sei. Hans-Jörg Naumer, Ökonom bei Allianz Global Investors, kommt von seiner Warte aus zu einem ähnlichen Schluss: ,,Deutlich mehr als jeder zweite Dollar, der durch das Einkommen generiert wird, fließt an die Kapitaleigner.‘‘ Seine Schlussfolgerung aber ist nicht der marxistische Umbau des Kapitalismus, sondern der Aufruf an alle Sparer,mehr auf Produktivkapital zu setzen.

Viele Annahmen Pikettys zur Unterstützung seiner These sind recht fragil, die zunehmende Bedeutung von Kapitalvermögen ist aber eine Tatsache. Hinzu kommt: Auch die jüngsten technischen Innovationen bevorzugen eher Investoren und Unternehmer, weil die neuen digitalen Produkte den Faktor Arbeit globalisieren, die Profite aber vorwiegend die Unternehmen selbst und deren Manager einstreichen. Die immer kapitalintensivere Produktion (Roboter) trägt noch mehr zur Schieflage bei, weil selbst gut ausgebildete Fachkräfte künftig mit dem Weltmarktpreis von Kapitalinvestitionen konkurrieren.

Womöglich wird durch die wachsenden Kapitalvolumina und die zunehmende Ungleichheit auch das Wirtschaftswachstum selbst niedergehalten, wie der Ökonom, Larry Summers mit seiner These von der,,säkularen Stagnation‘‘ vermutet. Denn die kaufkräftige Mittelschicht wird ausgezehrt, wie sich bereits in den USA beobachten lässt.

Eine Umkehr der Entwicklung ist nicht absehbar. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge nimmt die globale Verschuldung weiter zu. Seit 2013 wächst auch das Volumen der Finanztransaktionen wieder schneller als die Realwirtschaft, wie der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, konstatiert. Er bezweifelt zudem, dass dies jene Allokationsvorteile mit sich bringt, mit denen der Finanzsektor gerne argumentiert, wenn es um höhere Liquiditäten durch immer neue Derivatebenen geht. Die ultralockere Geldpolitik, die durch den jüngsten Zinsschritt der US-Fed ja noch nicht beendet ist, verstärkt die Dynamik noch weiter, weil noch mehr billiges Geld in die Märkte drückt, ohne direkt der Realwirtschaft zugute zu kommen.

Die Entwicklung ist also noch nicht beendet, und niemand weiß, wohin sie führt. Hat der Kapitalismus bereits das Stadium der „Überakkumulation“ erreicht, das sein Ende herbeiführen wird, wie der Kommunist Karl Marx vorhersagte? Oder wird sich die Gesellschaft sukzessive vom bisherigen Wirtschaftssystem abwenden, weil es für die Masse der Bevölkerung keine Vorteile mehr zu erbringen scheint, wenn nur kleine Gruppen davon profitieren? Oder braut sich nur eine neue gigantische Krise zusammen, die das Blatt völlig neu mischt? Wie könnte sich ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht herausbilden und aussehen? Jene Intellektuellen aber, von denen man Aufklärung oder zumindest eine Debatte erwartet wie Philosophen, Politologen, Soziologen oder Historiker, sie sind stumm, haben ihren Einsatz verpasst. Selbst in diesen gesellschaftlichen Fragen führen Ökonomen das große Wort.

Ökonomische Wunderheiler

Wo Sparen als Austerität geschmäht und Reformen als beschäftigungsfeindlich abgelehnt werden, helfen auch keine Rettungsprogramme mehr.

Wohl kaum ein Begriffspaar ist in großen Teilen der öffentlichen Debatte so umstritten wie die in der Euro-Krise verfolgte Konsolidierungs- und Reformstrategie. In Twitter, Facebook und Co. werden darüber regelrechte Hasstiraden verfasst. Ersteres wird als schädliche „Austerität“ geschmäht, Letzteres für die Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten verantwortlich gemacht, weil Jobs verloren gehen und Sozialleistungen gekürzt werden. Sparen und Reformieren gelten als vulgäre Abkömmlinge der vor allem von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern hochgehaltenen Ordnungspolitik. Selbst Spitzenökonomen wie die Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz, so bekannte Größen wie Jeffrey D. Sachs oder der gefeierte französische Pop-Ökonom Thomas Piketty geben der Austeritäts- und Reformpolitik die Hauptschuld am Niedergang Griechenlands. Man hält sie sogar für ein machtpolitisches Vehikel, um Athen zu demütigen, oder geißelt sie schlicht als „ökonomische Alchemie“. Ihnen zufolge gibt es nämlich bessere Alternativen. Hat die Euro-Rettungspolitik also bewusst ein Wundermittel verschmäht?

Statt Sparen wären Mehrausgaben angesagt gewesen, und im Fall eines pleitebedrohten Staates wie Griechenland hätte man Athen einfach frisches Geld zuschießen müssen, heißt es. Weil die Mittel für Investitionen und Konsum verwendet worden wären, was weitere private Ausgaben nach sich gezogen hätte, so das Kalkül, wären Rezession und Deflation vermieden worden, die Wirtschaft wäre wieder gewachsen, die Steuern gestiegen. Die Mehrausgaben hätten sich also von selbst bezahlt gemacht – und als Nebeneffekt hätte sich sogar wieder die Schuldentragfähigkeit eingestellt.

Ein realistisches Szenario? Wohl eher eine Utopie! Vorübergehende fiskalische Maßnahmen helfen vielleicht, das kurzfristige interne Wachstum aufrechtzuerhalten. Aber sie bieten keine Lösung gegen strukturelle Probleme wie fehlender Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem unterschlagen die „alternativen“ Ökonomen die einhergehenden Moral-Hazard-Probleme: Regierungen vergessen in der Regel, die Ausgaben in besseren Zeiten wieder zurückzufahren, und erliegen der Versuchung, die nötigen Reformen erneut aufzuschieben. Die Geldschwemme verdeckt nämlich die Probleme. Und kommt die Hilfe gar vom reichen Onkel von nebenan, oder via Euroland-Bonds aus einem gemeinschaftlichen Topf, ist es mit der Selbstdisziplin sofort vorbei. Allen Schuldnern unterstellen die ökonomischen Wunderheiler zudem eiserne Verlässlichkeit, selbst wenn dies in der Vergangenheit nicht der Fall war – ein ob seiner Vertrauensseligkeit recht naives Gedankengebäude. Die strukturellen Probleme würden fortbestehen und bald wieder hervorbrechen, das Wachstum durch starre Arbeitsmärkte, Produktmarktmonopole und die Macht der Oligarchen wieder erstickt; und das zufließende Geld landet in den falschen Taschen.

Gerade Griechenland hat gezeigt, dass selbst mit der Formel „Geld gegen Reformen“ Letztere kaum durchzusetzen sind gegen den einhelligen Widerstand von Politik, Interessenvertretern und Gesellschaft. Dabei sind Reformen der Steuerbürokratie, der Arbeitsmärkte, der Pensionen, des Justizwesens und der Tarifpolitik überfällig. Zumal viele der versprochenen Reformen gar nicht stattfanden, weil sie Ministerialbürokratie, Verwaltung und Justiz verwässert, verdreht oder verschleppt haben. Die damit provozierte Erfolglosigkeit muss nun als Beweis für die wachstumstötende Wirkung von Strukturreformen herhalten. Dabei ist es gerade die stete Neuausrichtung und Umstrukturierung einer Volkswirtschaft, die schöpferische Zerstörung der alten Ordnung, welche dafür sorgt, dass sich Staaten modernisieren und damit den Wohlstand ihrer Bürger sichern und mehren.

Letztendlich kommt es also immer darauf an, dass Reformen von den Bürgern selber herbeigesehnt werden. Das ist weder in Athen der Fall, wo man es sich in den klientelistischen Strukturen eingerichtet hat, noch in Paris und Rom. In allen drei Fällen wird mysteriösen externen Kräften die Schuld am beklagenswerten Zustand der eigenen Wirtschaft zugeschoben – wechselweise den bösen Finanzmärkten oder dem deutschen Finanzzuchtmeister. Solange aber andere Mächte oder Strukturen für die eigene Erfolglosigkeit verantwortlich gemacht werden, wird es nicht zu Reformen kommen. Und es ist zweifelhaft, dass die nötige Selbsterkenntnis noch rechtzeitig einkehren wird, damit die Eurozone endlich aus dem Krisenmodus herauskommt.