EZB

Die inneren und äußeren Feinde des freien Marktes

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben protektionistische und antiliberale Tendenzen befördert, weil sie schädliche Marktkräfte und kapitalistische Exzesse nicht früh und energisch genug gezügelt haben. Das hat die Menschen unserer Wirtschaftsordnung entfremdet und den Boden bereitet für Populisten und Nationalisten, die nun auch die Destabilisierung der Demokratie zum Ziel haben.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Er ist das Gesicht für den gerade im Gange befindlichen Wendepunkt in der Geschichte des Westens: US-Präsident Donald Trump. Mit seinen von Nationalismus und Protektionismus geprägten Handlungen in den vergangenen Monaten steht er für die Zurückdrängung jener Werte, welche die USA einst haben zur Supermacht werden lassen: Marktliberalismus und Globalisierung, internationale Zusammenarbeit und die Verteidigung der freiheitlich-offenen Gesellschaften. Nicht mehr Verhandlung und Ausgleich gelten ihm als die politischen Instrumente der Wahl, sondern Machtprojektion und Einschüchterung. Der Kapitalismus wird nicht als Wirtschaftsmodell gesehen, sondern als Herrschaftsform und politisches Vehikel verstanden. Kein Wunder, dass die Menschen dann zunehmend auch das Zutrauen in die Gemeinwohl fördernde Wirkung der Institution Marktwirtschaft verlieren und nach Alternativen Ausschau halten, wie sie etwa China mit ihrer Form einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit Staatsaufsicht“ durchaus erfolgreich praktiziert.

Man würde nun Trump zu viel Ehre antun, ihn als den Sargnagel freiheitlicher Märkte zu bezeichnen. Er steht nämlich nicht alleine, hat Vorläufer und Mitläufer – und agiert in einem gesellschaftlichen Klima, das solches Verhalten nicht nur toleriert, sondern weitgehend goutiert. Letztendlich ist er sogar das Produkt einer Entwicklung, die eigentlich im Kern des Kapitalismus ihren Ausgang genommen hat. Denn der gesellschaftliche Rückhalt für marktliberale Ordnungen ist schon vorher erodiert.

Politik, Wirtschaft, aber auch viele Ökonomen, die sich stets als Verteidiger von Kapitalismus und Marktwirtschaft aufschwingen, haben durch Handeln und Unterlassen, durch ihre Hybris, über dem Staat zu stehen, und durch einseitige Betrachtungen und Fachblindheit jene Entwicklungen eher noch befördert, welche die Menschen an der herrschenden Wirtschaftsordnung zweifeln ließen. Kurz: Sie haben die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Tuns aus dem Blick verloren – oder schlicht unterschlagen, weil sich sonst die „ökonomischen Lehren“ nicht so klar hätten formulieren lassen. Und in einem Umfeld, in dem die Sorgen vor einem ökonomischen Kontrollverlust durch Globalisierung und Digitalisierung wachsen, diffuse Ängste vor der Komplexität und Unberechenbarkeit des Kapitalismus insgesamt aufkommen, haben Populisten, Verschwörungstheoretiker und Nationalisten schon immer leichtes Spiel gehabt.

Die Rolle der Ökonomen

Alle Marktakteure haben es vor allem versäumt, die Verlierer des Strukturwandels aufzufangen. Das ist speziell in den USA und in Großbritannien sicht- und spürbar, wo die sozialen Sicherungssysteme weitmaschiger sind als hierzulande. Tendenziell ist diese Schlagseite aber – mit Abstrichen – auch in Deutschland feststellbar, wovon etwa die jüngste Hartz-IV-Diskussion über den Umgang mit den Hilfsempfängern zeugt. Fatal hat sich dabei die einseitige ökonomische Argumentation auswirkt, die jede Kritik an der freien Entfaltung der Marktkräfte abgebügelt hat mit dem Hinweis, dass jedwede Einschränkung Wachstum und Jobwachstum entgegenwirken würde. Vielmehr wurde stets einer noch stärkeren Ökonomisierung der Gesellschaft das Wort geredet, indem etwa über höher Studiengebühren schwadroniert wurde.

Dass ein solches ökonomisches Verständnis womöglich die gesellschaftlichen Schichten eher noch mehr verfestigt statt sie durchlässiger macht, kam ihnen nicht in den Sinn – denn dafür fühlten sich die Wirtschaftswissenschaftler nicht zuständig. Im Ergebnis haben die Menschen zunehmend das Vertrauen in den sozialen Aufstieg verloren, wie Studien immer wieder belegen.

Tarif- vs. Managergehälter

Vollends wurde das Vertrauen in jedwede ökonomische Argumentation verspielt, nachdem die Meinungsmacher der wirtschaftspolitischen Debatte in ihrer Argumentation eine fatale Schlagseite zugunsten den Führungsetagen der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmerschaft an den Tag legten. Während Tariflohnsteigerungen lange Zeit stets als „zu hoch“ kritisiert wurden – durchaus mit einiger Berechtigung im Hinblick auf Arbeitskosten -, wurden die bisweilen obszön hohen Gehälter für Manager (und Investmentbanker) von den gleichen Akteuren regelmäßig „als Marktergebnisse“ verteidigt und wurde Kritik daran als „Neiddebatte“ apostrophiert. Dabei wurde zudem vergessen, dass die exorbitant hohen Gehälter ja eigentlich den Erfolg des Unternehmens widerspiegeln sollen, was wiederum doch das Ergebnis aller anderen Mitarbeiter ebenfalls ist und nicht einigen wenigen Personen zugeschrieben werden kann. Derlei Doppelmoral erschüttert natürlich das Vertrauen der Menschen in die letztendlich auch sozial stabilisierende Kraft der Marktwirtschaft.

Gewiss gibt es in einer Marktwirtschaft keine festen Regeln, welches „Einkommen“ und welche „Einkommensunterschiede“ fundamental gerechtfertigt sind angesichts des Erfolgs oder Misserfolgs des jeweiligen Unternehmens, und welche Personengruppen welchen Anteil an den Leistungen oder Fehlleistungen haben, um sie entsprechend zu würdigen oder zu sanktionieren. Aber es geht hier um Geldsummen jenseits aller Größenordnungen – und dies in der Regel für Unternehmenslenker, die weder mit ihrem Gesamtvermögen für das Unternehmen insgesamt einstehen, wie das etwa bei Familienunternehmen der Fall ist. Letztlich sind auch die hochbezahlten Manager Angestellte wie die Pförtner bei der Einlasskontrolle. Ein Denkanstoß: Wer 10 Mill. Euro im Jahr erhält, könnte täglich rund 27.000 Euro ausgeben. Jenseits von Neidgefühlen: Ist das eine Größenordnung, die noch irgendetwas mit persönlicher Leistung eines Angestellten zu tun hat?

Längst, so scheint es, hat sich durch die Usancen im globalen Finanzkapitalismus eine finanzielle Aristokratie herausgebildet, die einer Marktwirtschaft eigentlich fremd sein sollte. Dieses Zweiklassensystem – die da oben, wir da unten – fordert den Klassenkampf förmlich heraus. Noch wirkt dem allerdings das Mantra entgegen, das der britische Kriegspremier Winston Churchill formuliert hat: „Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleiche Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: die gleichmäßige Verteilung des Elends“. Beides keine attraktiven Vorstellungen. Doch, dass der „Kapitalismus ungesund ist – sogar für Kapitalisten“, das Wort des Philosophen Ernst Bloch könnte sich in der nächsten Entwicklungsstufe erfüllen: die Digitalisierung.

Digitalisierung des Kapitalismus

Denn das Zweiklassensystem wird durch die Digitalisierung noch verstärkt: einerseits entziehen sich die Digitalkonzerne ihrer steuerlichen Pflicht durch schlichte Umleitung der Datenströme. Das erschwert dem Staat die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und seiner sozialen Verpflichtungen; zumal in einer Welt, in denen der sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsplatz wohl irgendwann ausgestorben sein wird. Andererseits setzen sich diese Konzerne über nationale Grenzen hinweg, weil sie sich als überstaatliche Entitäten verstehen. Es gibt sogar Planungen, dass diese Multis eins eigene Offshore-Staaten auf riesigen Plattformen auf dem Meer gründen könnten. Eine staatliche Regulierung wird dann nahezu unmöglich, ohne den Datenverkehr komplett zu kontrollieren, was wiederum der Regierungsform einer Demokratie widersprechen würde. Insofern geht es hier auch um die politische Zukunft unserer Gesellschaft – ein Aspekt, der von Verbänden und Ökonomen in der Regel kaum betrachtet wird.

Und schließlich neigen die Digitalkonzerne dazu, Markt und Wettbewerb insgesamt auszuhebeln, weil sie Netzwerkeffekte ausnutzen können. Der Risikokapitalgeber und einflussreiche US-Unternehmer Peter Thiel erteilte dem Wettbewerbsprinzip sogar eine komplette Absage. „Wettbewerb ist etwas für Verlierer“, sagte er und warb für die segensreiche Gemeinwohl steigernde Wirkung von Monopolen. Inzwischen dominieren Facebook und Google 80% aller digitalen Werbeerlöse außerhalb von China. Diese Entwicklung war schon vor Jahren absehbar, doch der Aufstand der Wettbewerbsökonomen und Kartellwächter blieb aus. Während sie lange Zeit die Schrankenlosigkeit des digitalen Marktes verteidigten, weil so junge Märkte schließlich mehr Frei- und Experimentalräume benötigten (als ob es sich hier nicht um Multi-Milliarden-Märkte handeln würde), werden die „analogen Industrien“ durch etablierte Regeln behindert bei der Positionierung in den digitalen Gefilden.

Nach dem Versagen der Ökonomen im Vorfeld der Finanzkrise signalisiert offenbar auch die Digitalisierung, wie groß die Scheuklappen in dieser Wissenschaft sind, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, wie sehr sich „ihre“ Ökonomie digital wandelt, und wo die Herausforderungen liegen, um das Wettbewerbsumfeld zu schützen und den neuen Entwicklungen anzupassen. Bis sich die Gesetzgebung dann darauf einstellt, sind schon längst Tatsachen geschaffen: neue Oligopole und Monopole.

Diese Verfehlungen in der Gegenwart – das Zulassen von immer größer werdenden Einkommens- und Vermögensungleichheit, die Etablierung einer Finanzaristokratie inmitten einer Marktwirtschaft, das Versagen bei der Regulierung der digitalen Welt – hat die Menschen der Marktwirtschaft entfremdet. Sie schenken dem Werben aus Wirtschaft und Wissenschaft für freie Märkte und dem Wettbewerb keinen Glauben mehr. Zumal die Erfolge Chinas ihnen ja auch vorführen, dass die Menschen mit einem staatlich eingeschränkten Wettbewerb ja auch nicht schlecht fahren, dem Westen sogar die Produktionsmittel (Patente, Technologie, Unternehmen) von chinesischen (Staats-)Unternehmen weggekauft werden – und dies ohne Demokratie im Land.

Auch hier haben Unternehmen und Ökonomen zu lange weggeschaut und unterschätzt, wie das „Vorbild China“ auf die hiesigen Gesellschaft wirkt und deren Erfolge im Denken abfärben. Plötzlich scheinen paternalistische oder sozialistische Kommandowirtschaften wieder attraktiv, während die Schwächen der demokratischen Gesellschaften immer stärker in den Vordergrund treten. Insofern schlagen die Loblieder, die über Jahre auf Asien und China gesungen wurden, weil man Umsatz- und Handelserfolge erzielen konnte, plötzlich wieder zurück.

Das lässt die Bürger in demokratischen Staaten am Nutzen der reinen marktwirtschaftlichen Lehre und am Freihandel zweifeln; und der demokratischen Staat kommt in Bedrängnis, weil der nicht in der Lage zu sein scheint, den aktuellen Herausforderungen adäquat zu begegnen, sich ausnehmen lässt von autokratischen Regimen, Digitalkonzernen und einer Finanzaristokratie.

Um das verlorengegangene Vertrauen in die Marktwirtschaft und die Demokratie zurückzugewinnen, und die nationalistischen, populistischen und separatistischen Gruppierungen auch hierzulande zurückzudrängen, braucht es deshalb eine Neubesinnung auf die „Werte des Westens“. Und das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern auch der Wirtschaft und der Wissenschaft. Es geht darum der wachsenden Ungleichheit zu begegnen – und nicht darum, sie bis zur Selbstverleugnung zu verteidigen oder einfach wegzudefinieren. Es geht darum, den Boni-Exzessen einen Riegel vorzuschieben, etwa, indem man analog Zahlungen in entsprechender Höhe an alle Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens zur Verpflichtung macht. Manche deutsche Autohersteller machen das durchaus vor. Und es geht darum, die Liberalität und Freiheit des Marktes zu verteidigen nicht nur gegen den Staat wie bisher, sondern auch gegenüber Unternehmen, die sich als gemeinwohlorientiert darstellen, in Wahrheit aber wie Facebook ein Überwachungs- und Werbekonzern sind.

Viel zu spät wurden die analogen Regeln und Gesetze der digitalen Veränderung angepasst. Und besser heute als morgen muss die Politik Vorschläge ausarbeiten, wie beim Steuerrecht und der Soziale Sicherung entsprechend reagiert. Ob eine Digitalsteuer hier das richtige Instrument ist, darf bezweifelt werden. Wichtig wäre eine – durchaus riskante – aber allumfassende Reform, welche für die analoge wie die digitale Sphäre gleichermaßen gilt.

Signalisiert der Staat, dass er – stets die Sicherheit und Wohlfahrt seiner Bürger im Blick und bereit, diese auch robust zu verteidigen, selbst unter Inkaufnahme von Nachteilen auf anderem Gebiet – sich hier auf den Weg macht, die Marktwirtschaft und Ordnungspolitik neu aufzustellen, dürfte er das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Das bewahrt den freien Markt – und sichert obendrein unsere Demokratie.

Konjunkturelles Siechtum voraus?

Die konjunkturelle Erholung verläuft nur schleppend, weil die Notenbanken eine echte Reinigungskrise verhindern. Die Menschen müssen sich um die Zukunft sorgen.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

So richtig schlau werden Konjunkturbeobachter nicht, wenn sie derzeit auf die globalen Stimmungsindikatoren blicken: Optimistische Umfrageergebnisse wechseln sich in Europa, den USA und den Emerging Markets mit enttäuschenden ab. Auch die harten statistischen Daten sind ohne klare Richtung. Deutschland sticht aus diesem Feld überaus positiv heraus. Das zeigt mit Blick nach hinten der in einigen Regionen inzwischen leergefegte Arbeitsmarkt. Und die jüngsten Befragungen von Unternehmern und Einkaufsmanagern lassen mit Blick nach vorn auf die nächsten sechs Monate sogar eine regelrechte Euphorie durchschimmern. Deutschlands Wirtschaft, so resümierte das Markit-Institut, das die Einkaufsmanagerbefragungen durchführt, kehre „wieder auf die Überholspur zurück“.

Aber kann man diesen Einschätzungen tatsächlich glauben vor dem Hintergrund des blutleeren globalen Wachstums und der schwachen Dynamik des Welthandels? Und der politischen Risiken, die sich allerorten zusammenballen – in den USA und vor allem in Europa, wo es um nicht weniger als die Zukunft der Gemeinschaft geht. Wie sollte sich die Exportnation Deutschland hier abkoppeln können? Angesichts der Tatsache, dass die Notenbanken weltweit die Zinsen in bisher nicht gekanntem Ausmaß nach unten geschleust haben und den Staaten die Anleihen förmlich aus der Hand reißen, geht es historisch betrachtet sogar auch in Deutschland erstaunlich zäh voran. Als läge ein beklemmender Albdruck auf der Konjunktur.

Ein Blick auf die Teuerung zeigt das ganze Ausmaß dieser verfahrenen Situation: Nur weil der Basiseffekt der Energiepreise etwas nachlässt, reckt die Inflation wieder ihr Haupt. Die unterliegende Entwicklung bleibt indes gedämpft. Selbst das lange Ende der Renditekurve robbt an die Nulllinie heran. Das ist nicht allein auf die lockere Geldpolitik zurückzuführen. Vielmehr rechnen Beobachter auch in der langen Perspektive inzwischen nur noch mit einem eher gedämpftem Wachstum. Das widerspricht den positiven Bekundungen bei Unternehmensbefragungen.

Manche Ökonomen vermuten hinter dieser verworrenen Lage das Phänomen der „säkularen Stagnation“. Durch die technologische und demografische Entwicklung, die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft und infolgedessen der Kapitalballung bei vermögenden, saturierten Haushalten fehle es eben an der nötigen Wachstumsdynamik. Die Verunsicherung durch politische Krisen in Nahost, die Sorge vor einem neuen kalten Krieg mit Russland sowie die – nicht zuletzt durch den Brexit – fragile Lage der EU kommen hier noch erschwerend hinzu. Das lässt Investoren und Konsumenten zweifeln und abwarten. Der vielerorts um sich greifende Protektionismus und Nationalismus macht es dem Wachstum in Zukunft sogar noch schwerer. Schließlich benötigen die Marktwirtschaften der Industrieländer und der Emerging Markets offene Märkte, klare Regeln und stabile Verhältnisse.

Alle diese Widerstände könnten aufgebrochen werden, wenn die Politik schnell handeln und mit konzertierten Reformen den Menschen wieder Zukunftshoffnung einimpfen würde. Stattdessen scheinen die Regierungen aber – vor allem in Europa – in einem Nash-Equilibrium festzustecken. Dieser Begriff aus der Spieltheorie beschreibt die Situation, in der niemand einen Anreiz hat, von seiner Strategie des Abwartens abzuweichen. In der aktuellen Situation sind es die Notenbanken, die den politischen Stillstand zementieren. Unter anderen Umständen würde die derzeit schleppende Konjunktur politische Reformen geradezu erzwingen. Wachstumsbremsen würden beseitigt. In unserer Wirklichkeit werden die Staaten von den Notenbanken aber quasi durchfinanziert und ihre Schuldenlast wird abgemildert. Der Veränderungsdruck ist also gering. Ein schwaches Wachstum reicht schon aus, die Wählerklientel bei Laune zu halten.

Der frühere Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn spricht von einem „sich selbst produzierenden Siechtum“, weil die Notenbanken eine Reinigungskrise verhindert haben und aus falsch verstandener Verantwortung die Entgiftung weiter blockieren. Das gilt für Europa genauso wie für die USA und Japan. Die nächste Krise wird die Volkswirtschaften dann aber mit umso größerer Wucht treffen. Denn die Nebenwirkungen der ultralockeren und unkonventionellen Geldpolitik fressen sich bereits in alle Verästelungen der Volkswirtschaften hinein, manipulieren den Preismechanismus, destabilisieren die Finanzsysteme und verwässern das Grundvertrauen in die Geldordnung. Die Sorgen vor einer neuen Krise steigen – und lasten dann noch mehr auf der Konjunktur. Das lässt die Geldpolitik ins Leere laufen, was deren Akteure aber zu noch unkonventionellerem Handeln anspornt.

Um eine große Krise zu verhindern und zugleich den Teufelskreis konjunkturellen Siechtums zu durchbrechen, müssten die Notenbanken sich daher offen zu den Grenzen ihrer Macht bekennen, den Schleier der geldpolitischen Illusion zerreißen und eine Kehrtwende einleiten. Das würde die Politik zum Handeln zwingen – und den Menschen vor Augen führen, dass das System der Marktwirtschaft doch zur Selbstkorrektur in der Lage ist. Schon weil es dann wieder eine Perspektive gibt, das Umfeld berechenbar erscheint und der Preis seine Funktion erfüllen kann, könnte dieser Hoffnungsfunke einen neuen Wachstumszyklus auslösen.

Die Macht des Finanzkapitalismus

Wie Staatsverschuldung und Geldpolitik die Realwirtschaft in die Zange nehmen

Von Stephan Lorz

Die Debatte trieft vor Verlogenheit: Frankreich, Italien und – natürlich – Griechenland haben die Bösewichte ausgemacht, die ihren fiskalischen Bewegungsradius einschränken und – nach ihrem Verständnis – damit Wohlstand, Wachstum und Fortschritt gefährden. Zum einen die Finanzmärkte, weil sie ihnen höhere Zinsen abknöpfen und die Finanzierung der Defizite glatt verweigern (können). Deshalb ihre Forderung, die Notenbank hätte doch die Pflicht, die Staatsfinanzierung sicherzustellen. Zum anderen die deutsche Bundesregierung, weil diese auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen besteht. Nur durch entsprechendes fiskalisches Wohlverhalten, argumentieren die Deutschen, könnten die von den Finanzmärkten kritisch beobachteten Länder sich wieder das nötige Vertrauen erarbeiten und auf diese Weise wieder mehr fiskalischen Bewegungsspielraum erhalten. Alles Falsch! tönt es aus Paris, Rom und Athen. Nur höhere Staatsausgaben würden höheres Wachstum ermöglichen, was wiederum die Tragfähigkeit und Finanzierung der Staatsverschuldung verbessert und sicherstellt. Austeritätspolitik wird als Ursprung aller Not dargestellt – eine durch und durch verlogene Haltung. Denn es war die überhöhte Verschuldung, welche die sich jetzt über „Austerität“ beklagenden Länder erst in ihre unangenehme Situation gebracht haben.

Noch schlimmer: Erst durch ihr eigenes Handeln hatten die Regierungen in Paris, Rom, Athen  und anderen Staaten die Macht jener Finanzakteure erst konstituiert. Denn mit ihren immer höheren Haushaltsdefiziten haben sie sich ja selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Gläubigern begeben, und zugleich so hohe Kreditvolumina in den Markt gepumpt, die – zusammen mit der Deregulierung des Finanzsektors – den Charakter des Kapitalismus nachhaltig verändert haben. Die Finanzmärkte sind aufgrund ihrer neuen Dimension seither nicht mehr Diener der Realwirtschaft, als die sie sich über Jahrzehnte verstanden hatten, sondern wurden selbst zur dominierenden Macht. Die niedrigen Zinsen im Euroraum tragen ihrerseits auch noch dazu bei, dass die Macht der Investoren und Gläubiger weiter ausgebaut und zementiert wird: Der Konsolidierungsdruck lässt nach, die Notenbanken drücken zusätzliche Finanzvolumina in den Markt und nehmen mit ihren Anleihekäufen den Finanzakteuren das Risiko aus der Hand, was zu dramatischen Fehlallokationen führt und den Regierungen die Verschuldung weiter erleichtert.

Aufgebläht durch das „Schuldgeld“ ist weltweit eine Art Kreditökonomie entstanden, die eher auf kurzfristige Rendite abstellt als auf Nachhaltigkeit. In dieser Welt erscheinen Bilanz optimierende Kennzahlen wichtiger als Produkt- und Prozessinnovationen,  Finanzprodukten wird realwirtschaftlichen Gütern immer der Vorrang eingeräumt. Das schlägt sich auch in den Eckdaten der globalen Wirtschaft nieder: Betrug das Handelsvolumen der weltweiten Finanzmärkte Anfang der neunziger Jahre noch etwa das 15-Fache der realen Wertschöpfung, lag dieser Wert im vorvergangenen Jahr schon bei über dem 70-Fachen –trotz Finanzkrise und neuen Regulierungen. Schon das schiere Volumen lässt erahnen, das Wirkungen auf die Realwirtschaft nicht ausbleiben können.

Diese Entwicklung schlägt sich auch auf das Finanzvermögen nieder, das vor allem von bereits vermögenden Personen gehalten wird: Hatte es in den USA und Deutschland in den siebziger Jahren noch bei 80% der Nettowertschöpfung gelegen, während das Realvermögen 200% erreichte, kommen jetzt beide auf den 200er Wert. Stephan Schulmeister, Ökonom beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut, sieht nicht zuletzt darin den Grund für die zunehmende Ungleichheit: Die Lohnquote sinke, die Kapitalquote steige.

Inwieweit die Unwucht zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft tatsächlich die Ungleichheit erhöht, darüber streitet sich indes die Wissenschaft. Der Kernthese des französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge ist die Kapitalrendite tendenziell immer höher als die Realrendite, weshalb Kapitalvermögen schneller wachsen und Ungleichheit insofern kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus sei. Hans-Jörg Naumer, Ökonom bei Allianz Global Investors, kommt von seiner Warte aus zu einem ähnlichen Schluss: ,,Deutlich mehr als jeder zweite Dollar, der durch das Einkommen generiert wird, fließt an die Kapitaleigner.‘‘ Seine Schlussfolgerung aber ist nicht der marxistische Umbau des Kapitalismus, sondern der Aufruf an alle Sparer,mehr auf Produktivkapital zu setzen.

Viele Annahmen Pikettys zur Unterstützung seiner These sind recht fragil, die zunehmende Bedeutung von Kapitalvermögen ist aber eine Tatsache. Hinzu kommt: Auch die jüngsten technischen Innovationen bevorzugen eher Investoren und Unternehmer, weil die neuen digitalen Produkte den Faktor Arbeit globalisieren, die Profite aber vorwiegend die Unternehmen selbst und deren Manager einstreichen. Die immer kapitalintensivere Produktion (Roboter) trägt noch mehr zur Schieflage bei, weil selbst gut ausgebildete Fachkräfte künftig mit dem Weltmarktpreis von Kapitalinvestitionen konkurrieren.

Womöglich wird durch die wachsenden Kapitalvolumina und die zunehmende Ungleichheit auch das Wirtschaftswachstum selbst niedergehalten, wie der Ökonom, Larry Summers mit seiner These von der,,säkularen Stagnation‘‘ vermutet. Denn die kaufkräftige Mittelschicht wird ausgezehrt, wie sich bereits in den USA beobachten lässt.

Eine Umkehr der Entwicklung ist nicht absehbar. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge nimmt die globale Verschuldung weiter zu. Seit 2013 wächst auch das Volumen der Finanztransaktionen wieder schneller als die Realwirtschaft, wie der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, konstatiert. Er bezweifelt zudem, dass dies jene Allokationsvorteile mit sich bringt, mit denen der Finanzsektor gerne argumentiert, wenn es um höhere Liquiditäten durch immer neue Derivatebenen geht. Die ultralockere Geldpolitik, die durch den jüngsten Zinsschritt der US-Fed ja noch nicht beendet ist, verstärkt die Dynamik noch weiter, weil noch mehr billiges Geld in die Märkte drückt, ohne direkt der Realwirtschaft zugute zu kommen.

Die Entwicklung ist also noch nicht beendet, und niemand weiß, wohin sie führt. Hat der Kapitalismus bereits das Stadium der „Überakkumulation“ erreicht, das sein Ende herbeiführen wird, wie der Kommunist Karl Marx vorhersagte? Oder wird sich die Gesellschaft sukzessive vom bisherigen Wirtschaftssystem abwenden, weil es für die Masse der Bevölkerung keine Vorteile mehr zu erbringen scheint, wenn nur kleine Gruppen davon profitieren? Oder braut sich nur eine neue gigantische Krise zusammen, die das Blatt völlig neu mischt? Wie könnte sich ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht herausbilden und aussehen? Jene Intellektuellen aber, von denen man Aufklärung oder zumindest eine Debatte erwartet wie Philosophen, Politologen, Soziologen oder Historiker, sie sind stumm, haben ihren Einsatz verpasst. Selbst in diesen gesellschaftlichen Fragen führen Ökonomen das große Wort.

Störendes Element ökonomischer Hybris: das Bargeld

Weil sich die monetäre Realität nicht so entwickelt, wie es manche Ökonomen gerne hätten, wollen sie jetzt das Bargeld abschaffen. Der Konsument soll der Geldpolitik zum Untertan gemacht werden.

Was nicht passt, wird passend gemacht. Der oft gehörte Handwerkerspruch, der ein etwas rustikales Vorgehen bei Reparaturen umschreibt, trifft oft auch auf Ökonomen zu. Denn auch hier gilt: Wenn das Theoriegebilde nicht mehr der Wirklichkeit entspricht, wird Letztere eben dafür hingebogen. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man sich die aktuelle geldpolitische Debatte vor Augen führt. Der von den Notenbanken beeinflusste Realzins hat die Nulllinie unterschritten, und dabei zeigt sich, dass das vorhandene geldpolitische Instrumentarium nicht mehr richtig greift. Trotz Strafzinsen aufs Sparen steigen Investitionen und Konsum nur quälend langsam. Und bei einem noch weiteren Vorstoß ins Negative, von dem dann wohl auch die Normalbürger betroffen wären, werden Ausweichreaktionen befürchtet: in zinsunabhängige Vermögensanlagen – und Bargeld.

Vor allem Letzteres scheint manchem Ökonomen ein Dorn im Auge, weil es die Wirkung der Negativzinsen weiter dämpft. Bargeld gewinnt in einem deflationären Umfeld nämlich an Wert, während auf Kontoguthaben eine Art Sparsteuer erhoben wird. In der Schweiz wurde bereits eine Pensionskasse gehindert, einen Teil ihres Rentengeldes bar in einem externen Tresor zu lagern.
Aber auch unabhängig davon gibt es schon länger Beschränkungen für Bargeld – und das, obwohl Euro-Noten als „gesetzliches Zahlungsmittel“ eine besondere Stellung genießen. In Italien ist der Höchstbetrag für Barzahlungen auf 999,99 Euro gedeckelt, Frankreich wird nachziehen. Und in Dänemark will man bald auf Bares ganz verzichten. Ab 2017 werden keine neuen Banknoten mehr gedruckt.

Schon länger nimmt die Bedeutung des Bargelds ab. Unbestritten sind die vielen Vorzüge des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Große Teile der Wirtschaft funktionieren nur noch auf dieser Basis. Bereits heute gilt jeder, der gleich mehrere 500-Euro-Scheine auf den Tresen legt zur Bezahlung etwa von Schmuck als potenziell kriminell. Und wenn die digitalen Bezahldienste wie Paypal, Apple-Pay und andere weiter verbreitet sind, wird das Bargeld weiter schwinden.

Zahlungsmittel 2014Die Bargeldkritiker führen aber noch eine ganze Reihe weiterer Gründe für eine Abschaffung an: die hohen Kosten für das Bargeldhandling würden entfallen und zugleich viele Spielarten der Kriminalität erschwert. Allerdings zieht das digitale Geld dafür andere Formen der Kriminalität auf sich wie Hackerangriffe. Zugleich geht die Anonymität der Konsumenten verloren. Jeder Zahlungsakt ist nachvollziehbar. Das wirft Datenschutzfragen auf und stellt bürgerliche Freiheiten infrage. Zudem verlangen die digitalen Anbieter ja auch kräftig Gebühren für ihre Angebote. Ob das digitale Geld unter dem Strich also wirklich günstiger abschneidet, ist fraglich.

Viel wichtiger erscheinen deshalb die von den Bargeldkritikern angeführten (geld-)politischen Argumente. Die Ökonomen Kenneth Rogoff, Larry Summers oder auch der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger verweisen ungeniert darauf, dass die Notenbanken zur besseren Wirkung ihrer Politik einen Durchgriff auf Investoren und Konsumenten benötigen. Nur wenn die Negativzinsen konsequent durchgesetzt werden, könnten die Notenbanken ihre Aufgaben erfüllen. Würden Investoren und Konsumenten zum Geldausgeben quasi gezwungen, würde die Konjunktur anspringen und damit die Teuerung wieder in die Nähe des Preisstabilitätsziels gehievt.

Doch welches Verständnis von „Geldpolitik“ steckt eigentlich hinter solchen Einschätzungen? Der Schweizer Volkswirt Ernst Baltensperger spricht von einer „Anmaßung der Notenbanken“, die ein Gefühl der „Allzuständigkeit“ um sich verbreiten. Es sei „befremdlich“, dass es Überlegungen gebe, das eigene Geld steuerlich zu belasten oder gar abzuschaffen. Und der deutsche Ökonom Thorsten Polleit kritisiert die dabei zum Ausdruck kommende verquere Geisteshaltung: „Der Negativzins steht für eine irrsinnige Welt und ist mit einer arbeitsteiligen produktiven Wirtschaft nicht vereinbar.“ Der Gegenwartskonsum weite sich auf Kosten des Zukunftskonsums aus. Es komme zum Kapitalverzehr. Sparen und Investieren als Quelle des Wohlstands versiegten.

Statt sich zu bemühen, mit immer neuen „innovativen Tools“ das Mandat weiter auszudehnen, sollten die Notenbanken also einfach zugeben, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind und nun andere Instanzen wie die Politik am Zuge sind. So machtvolle Institutionen wie die EZB nutzen die Situation aber eher aus, um sich noch mehr Machtbefugnisse einzuverleiben. Bundesbankpräsident Jens Weidmann weist stets auf diesen Umstand hin und betont, dass Niedrigzinsen Ausdruck einer tief liegenden Wachstumsschwäche seien, welche allein die Politik mit ihrem Instrumentarium bekämpfen könne.

Irritierend ist, dass Notenbanker und Ökonomen in ihrem Streben nach voller ökonomischer Kontrolle sogar bereit sind, gefährliche Nebeneffekte hinzunehmen, worauf in anderem Umfeld viel empfindlicher reagiert worden wäre. So provoziert eine Abschaffung des Bargelds Ausweichreaktionen in stabile Vermögenswerte, was die Ungleichheit in der Gesellschaft erhöht. Denn Normalverdiener sind nun mal eher auf Zinserträge angewiesen als Wohlhabende, die ihr Vermögen stärker in Aktien und Immobilien investiert haben. „Sozialismus für Reiche“, nennt das die Investmentlegende Jim Rogers. Von den einhergehenden Fehlallokationen und neuen Krisengefahren ganz abgesehen.

Letztendlich könnte sich die Einschränkung oder Abschaffung des Bargelds aber auch gegen ihre Stichwortgeber richten: Weichen Konsumenten und Investoren nämlich auf Ersatzgeld aus wie Gold oder reines Digitalgeld, geht den betroffenen Notenbanken die Seigniorage, der Geldschöpfungsgewinn, verloren. Den können dann etwa private Bitcoin-Schürfer einstreichen. Auch eine Form der Umverteilung.

Die Eurozone – eine Fußnote in der Geschichte?

Rückblick und Ausblick auf die ökonomischen Debatten über den suboptimalen Währungsraum in Europa – Milton Friedman war Skeptiker von Anfang an.

Die zähen und recht emotional geführten Verhandlungen beim Euro-Gipfel Anfang Juli in Brüssel über das Schicksal Griechenlands haben wieder einmal die Fragilität und Unvollkommenheit der Europäischen Währungsunion offengelegt. Ökonomen halten die im Umgang mit Griechenland und dem Verhalten Athens zutage getretenen Probleme und Verhaltensweisen denn auch nur für ein Symptom eines viel tiefer liegenden Problems. Deutlich zutage getreten ist etwa, wie tief gespalten der Euroraum politisch ist. Denn es geht letztlich um den Charakter der Währungsunion, worüber gestritten worden ist. Soll sie eine Transferunion darstellen oder doch eher ein regelbasiertes Bündnis? Außerdem wurde schmerzlich bewusst, dass es sich bei der Eurozone nicht um einen optimalen Währungsraum handelt, weil es bereits am Mindesten fehlt: neben der Notenbank eine handlungsfähige zentrale politische Entscheidungsgewalt. Stattdessen verhandelten die einzelnen Nationalstaaten darüber, wie man mit einem Mitglied umgehen soll, das sich nicht an Regeln hält. Nicht das gemeinsame Interesse an einem geeinten Europa hat dabei die Hand geführt, sondern die mehr oder weniger mächtigen nationalen Interessen und Vorstellungen einzelner Mitgliedsländer waren entscheidend bei der Kompromisssuche.

Schon lange haben Ökonomen davor gewarnt, dass die Eurozone an ihren – hier wieder zutage getretenen – inneren Widersprüchen scheitern wird. Und deshalb pflegten viele Volkswirte bereits in der Vergangenheit ein eher kritisches Verhältnis zur Europäischen Währungsunion. Star-Ökonom Nouriel Roubini etwa hat immer wieder den „Niedergang der Eurozone“ prophezeit oder ihr „letztes Gefecht“ ausgerufen. Der türkische Volkswirt Kemal Dervis sah die Eurozone bereits „am Abgrund“. Und Daniel Gros vom Brüsseler Center for European Policy Studies hat vor den Gefahren gewarnt, dass eine – wegen ihrer Unzulänglichkeiten – zu technisch und nationalstaatlich ausgerichtete Währungsunion ohne politischen Union nur die Demokratie aushebele.

In verschiedenen Facetten lässt sich ihre Argumentation immer auf ein grundlegendes Muster zurückführen, das Ökonomen bereits 1992 kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht vorgegeben haben. In einem „Manifest“ warnten 62 deutsche Professoren vor einer überhasteten und fehlerhaften Einführung einer Gemeinschaftswährung. Würden die Wirtschaftsstrukturen nicht zuvor angeglichen, würde dies die westeuropäischen Staaten so starken ökonomischen Spannungen aussetzen, dass diese in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen und damit das Integrationsziel gefährden würden.

Im August 1997 schlug der Nobelpreisträger Milton Friedman in die gleiche Kerbe mit einer Denkschrift unter dem Titel „The Euro: Monetary Unity to Political Disunity?“. Frei übersetzt: Ist der Euro eine Art politischer Spaltpilz? Es scheint so, wenn man sich die Vorwürfe der Einzelstaaten und die Diskussionskultur am vergangenen Wochenende (beim Gipfel selbst und in den Medien) vor Augen führt.

Friedman verglich damals die USA mit der Eurozone und betonte, dass es Letzterer schon an der gleichen Sprache, der nötigen Jobmobilität, einer gemeinsamen Identität und vor allem an einer zentralen Instanz mit Durchgriffsrechten fehle. Dieser Mangel werde noch verschlimmert, weil die Eurozone im Gegensatz zu den USA auch einen rigideren Arbeitsmarkt und ein recht starres Lohngefüge aufweise. Alles Entwicklungen, so Friedman, die geradezu nach einem Währungspuffer rufen würden. Daher werde der Euro gerade nicht den erhofften Effekt haben, Deutschland und Frankreich so stark miteinander zu verbinden, dass ein Krieg in Europa künftig undenkbar erscheine. Vielmehr werde das Gegenteil eintreten, prophezeite er: „Die politischen Spannungen würden verschlimmert, weil ökonomische Schocks unterschiedlich verarbeitet und nicht mehr durch den Wechselkurs abgefedert werden.“ Friedmans Urteil: „Politische Einigkeit kann zwar den Weg für eine Währungsunion freimachen. Eine Währungsunion aber, die unter ungünstigen Umständen entstanden ist, wird den Weg zu einer politischen Union eher versperren.“

Im Herbst 2013, als die Krise in der Eurozone bereits viele Spannungsspitzen erlebt und viele Euro-Sondergipfel hinter sich hatte, aber niemand wusste, ob sie nun am Abflauen ist oder nur neue Kraft schöpft, gab es zwei Initiativen, welche vorschlugen, die Europäische Währungsunion auf eine neue – stabilere – Grundlage zu stellen. Eine unparteiische Gruppe deutscher Ökonomen, Rechtsanwälte und Politikwissenschaftler um Henrik Enderlein, Marcel Fratzscher und Clemens Fuest, die Glienecker Gruppe, knüpfte das Überleben der Eurozone an eine politische Union mit einem gemeinsamen Haushalt. Schließlich brauche eine monetäre Union einen Transfermechanismus, um die Folgen schwerer konjunktureller Einbrüche abzumildern, und obendrein eine legitime Regierung, damit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit jederzeit und in allen Ländern gewährleistet werden könnten.

Dagegen hielt der ehemalige Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds (IWF) Ashoka Mody die Etablierung einer politischen Union für unwahrscheinlich, weshalb er riet, sich wieder auf den Grundsatz des No-Bail-out zurückzuziehen – ergänzt um eine Insolvenzordnung für Staaten. Sobald Staaten budgetmäßig über die Stränge schlügen, würden sie von den Märkten sanktioniert. Insofern würden sich die Banken schon darauf einstellen, nicht mehr auf „sichere“ Staatsanleihen setzen zu können. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass Märkte nicht immer zeitnah reagieren, so dass Staaten Gelegenheit haben, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Halbwertszeit der Eurozone dürfte vor diesem Hintergrund eher in Jahren als Jahrzehnten zu messen sein.

Abgesang auf die Eurozone

25 Jahre deutsch-deutsche Währungsunion – und die Lehren für die Eurozone, wo derzeit Nationalismus und gegenseitiges Misstrauen die Zukunft verdunkeln.

Von Stephan Lorz

Wie sich die Bilder gleichen! 1. Juli 1990: Warteschlangen vor den Banken, Menschen fallen sich in die Arme, winken den Geldtransportern vom Straßenrand aus zu, jubeln in die Fernsehkameras. Die D-Mark kommt in die DDR. 1. Januar 2002: Europaflaggen über der Akropolis, Menschen tanzen auf den öffentlichen Plätzen, Griechenland bekommt doch noch den Euro. Die Drachme ist schnell vergessen, der neuen Währung wird gehuldigt.

Und heute? Die Währungsunion in Deutschland war letztlich ein Erfolg. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass es die richtige Entscheidung war, auf dem Weg zur deutschen Einheit zunächst ein gemeinsames Geld einzuführen. Die D-Mark hat nicht sogleich „blühende Landschaften“ hervorgebracht, doch leiteten die starke Währung und die Milliardenhilfe im Rahmen des „Aufbaus Ost“ nach einer Phase hoher Arbeitslosigkeit eine Reindustrialisierung in den neuen Bundesländern ein, um die Deutschland im Ausland mittlerweile beneidet wird. Die verbliebenen und die neuen Unternehmen im Osten sind inzwischen weltweit wettbewerbsfähig, wenngleich das Produktivitäts- und Einkommensniveau noch nicht ganz Weststandard erreicht hat. Der Sozialismus hatte die damalige DDR viel stärker ausbluten lassen, als Ökonomen und Politiker seinerzeit wahrgenommen hatten. Ein Warnzeichen für alle derartigen Experimente heute.

Was die Europäische Währungsunion anbelangt, so sind die Erfahrungen gemischt. Zwar ist der Währungsraum weltweit attraktiv, weil er eine hohe Wirtschaftskraft in die Waagschale werfen kann, doch haben unverantwortliches politisches Verhalten und der falsche Einstiegskurs in einigen Volkswirtschaften ein konjunkturelles Strohfeuer entzündet, das wenige Jahre später die Eurozone in eine tiefe Krise stürzte. Ganze Staaten mussten gerettet werden und hatten sich einem strikten Reformprogramm zu unterziehen. Die damit einhergehende Arbeitslosigkeit erreichte so beängstigende Ausmaße, dass vereinzelt sogar das kapitalistische Wirtschaftssystem infrage gestellt worden ist. Das gilt vor allem in Griechenland, wo die staatlichen Strukturen und politischen Verhaltensmuster nicht einmal annähernd einer modernen Volkswirtschaft entsprechen und die Zerwürfnisse daher besonders groß sind.

Im Gegensatz zur deutsch-deutschen Währungsunion, wo vor 25 Jahren ebenfalls zunächst die wirtschaftlich-pekuniäre Einheit vollzogen wurde, ehe es zur politischen Einheit kam, ist die Europäische Währungsunion in der ersten Phase steckengeblieben. Während in Deutschland zentrale Institutionen das Sagen haben, fehlen der Eurozone gerade solche klaren Strukturen: Die Geldpolitik wurde vergemeinschaftet, die Finanzpolitik aber blieb in der Entscheidungshoheit der Mitgliedstaaten. Das führt zu einer verstärkten Verschuldungsneigung bei den Staaten, weil sich die damit einhergehenden Kosten in einer Währungsunion teilweise auf andere Länder überwälzen lassen – was für großen Missmut sorgt.

An einer Vervollständigung der Eurozone durch eine politische Union ist vor diesem Hintergrund gegenwärtig gar nicht zu denken. Der Streit um den Länderfinanzausgleich in Deutschland zeigt, wie schwer es schon in einem Nationalstaat ist, die Interessen auf einen Nenner zu bringen. Wie viel schwieriger ist es dann in einem losen Staatenbund, in dem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen nicht so stark ausgeprägt oder gar nicht vorhanden ist? Der politische Umgang mit der Euro-Krise und der verstetigte Regelbruch haben das Misstrauen der Bürger zudem noch verstärkt. Der Nationalismus nimmt zu, was jeden weiteren Integrationsschritt erschwert.

Während die D-Mark die beiden deutschen Staaten weiter zusammengeschweißt hat, fungiert der Euro derzeit also eher als Spaltpilz. Dabei war das Projekt von der Politik einst ausersehen, Europa zu einen und eine politische Union vorzubereiten. Es erscheint heute aber unwahrscheinlicher denn je, dass die Nationalstaaten zu weiterem Souveränitätsverzicht bereit wären, um etwa einen Euro-Finanzminister mit Durchgriffsrechten auszustatten. Die Eurozone wird deshalb immer fragiler. Zwar gab es auch bei der deutsch-deutschen Währungsunion Momente der Verunsicherung. Letztendlich aber war sie ein Selbstläufer. In Europa indes wäre schon ein politischer Kraftakt nötig, um das Blatt noch zu wenden. Vielleicht haben die desaströs verlaufenen Verhandlungen mit Griechenland den beteiligten Personen noch einmal vor Augen geführt, wie dünn das Eis eigentlich ist, auf dem die Eurozone steht.

D-Mark, Drachme, Bitcoins: Ersatzwährungen im Wartestand?

Die deutsch-deutsche Währungsunion vor 25 Jahren hat es gezeigt: Gutes Geld verdrängt schlechtes. Doch wenn ein Land aus der Währungsunion fällt, braucht es Notgeld. Im Kalten Krieg waren die Staaten diesbezüglich vorbereitet.

Deutsche Banknoten

Von Stephan Lorz, Frankfurt

In den Jahrzehnten des Kalten Krieges bis zur deutschen Einigung waren die Notenbanken des Westens und des Ostens auf das Schlimmste gefasst: Sollte der potenzielle Gegner die Wirtschaft durch die massenhafte Infiltration von Falschgeld schwächen, gab es „Ersatzgeld“. Um die damit einhergehende Destabilisierung etwa der D-Mark zu stoppen, hätte die Bundesbank nämlich die laufende Banknotenserie für ungültig erklärt und neue Geldscheine aus einem Vorrat in Umlauf gebracht. Das Notgeld – 15 Mrd. D-Mark in kleinen Scheinen – wurde in einem Bunker unter einem Schulungszentrum der Bundesbank in Cochem gelagert. Der Geldbestand wurde alle drei Monate stichprobenartig kontrolliert. Außer den Bundesbankprüfern durfte niemand den Bunker betreten.

Dass eine gewisse Vorsorge nötig ist, war den Notenbankern aus der Geschichte bekannt. Schon der sowjetrussische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin sagte: „Wer die Kapitalisten vernichten will, muss ihre Währung zerstören.“ Und da die D-Mark im Laufe der fünfziger Jahre bis hin zur Europäischen Währungsunion der ganze Stolz der westdeutschen Nation war, galt sie als potenzielles Angriffsziel geheimdienstlicher Aktionen. Zumal man wusste, dass auch das Hitler-Regime im „Dritten Reich“ in großem Stil Pfund-Noten gefälscht und in Umlauf gebracht hatte.

Auch für den Fall einer neuen Hyperinflation schien eine Ersatzwährung die richtige Vorsorge zu sein. Die Deutschen hatten diesbezüglich ja ihre eigenen Erfahrungen gesammelt und das schier unvorstellbare Leid vor Augen, was sich letztendlich in ihr kollektives Gedächtnis eingebrannt und zu einer ausgeprägten Stabilitätskultur im Hinblick auf die Währungspolitik geführt hat.

Natürlich hatte die damalige DDR ebenfalls vorgesorgt und sogenanntes „Militärgeld“ als Ersatzwährung vorrätig: Alte Scheine wurden – neu gestempelt und überdruckt – in mehreren Depots in Grenznähe sowie in Ost-Berlin untergebracht. Offiziell „zur Verteidigung der Währung“, aber zugleich auch, um sie „in eroberten Gebieten zu verwenden“, wie es laut Bundesbank-Historiker Reinhold Walburg in manchen Dokumenten unverhohlen heißt.

Mit der deutsch-deutschen Währungsunion, die vor bald 25 Jahren am 1. Juli 1990 vollzogen wurde, waren die deutsch-deutschen Ersatzwährungen dann Geschichte. Die Lastwagen der Bundesbank brachten 440 Millionen D-Mark-Scheine in die damals noch existierende DDR. Münzen waren Mangelware, weshalb die im Westen eher weniger genutzten „Fünfer“ als Scheine verstärkt in Umlauf kamen.

Schon damals hatte man angesichts der steigenden Menge an Banknoten Zweifel, dass die nötige Anzahl für eine Ersatzwährung überhaupt herzustellen wäre. Deshalb wurde das Konzept aufgegeben. Man setzte bei der nächsten D-Mark-Serie stattdessen auf eine immer höhere Fälschungssicherheit durch immer neue technische Kniffe.

Auch für den Euro gibt es offiziell keine Ersatzwährung für den Krisenfall. Die Ausgabe neuer, noch fälschungssicherer Noten soll das überflüssig machen. Doch im Falle eines Auseinanderbrechens der Währungsunion oder im Falle des Exits eines Landes, wie er aktuell mit Griechenland droht, wäre man wohl froh, wenn es bereits gedrucktes Notgeld gäbe, das man schnell ersatzweise ausgeben könnte. Vielleicht haben andere Staaten und – konkret – Athen diesbezüglich bereits vorgesorgt. Entsprechende Druckplatten dürfte wohl jede Notenbank im Tresor haben. Hilfsweise müssten existierende Euro-Scheine einfach überstempelt werden, was eine Wertvernichtung darstellen würde, oder alte noch nicht zerstörte Drachmen-Noten würden neu ausgegeben.

Das wäre überflüssig, wenn das digitale Geld schon allumfassend eingesetzt und nutzbar wäre. Bislang mangelt es hier noch an der entsprechenden Ausstattung der Bürger und der Kassen, um via Handy oder Chip den Zahlungsvorgang durchzuführen. Dann genügte schon ein Update der Bankensoftware, um – ähnlich wie auf den Umstellungskonten der DDR-Bürger – den Euro in die Drachme umzumünzen. Die könnte dann sofort im Zahlungsverkehr eingesetzt werden. Für den unbaren Zahlungsverkehr wäre das schon heute kein Problem, aber bei der Barzahlung hapert es eben an entsprechenden physischen Noten.

Doch ob diese Entwicklung tatsächlich so positiv für die Bürger ist, wie es derzeit so manche Ökonomen hinstellen, ist fraglich. Abgesehen davon, dass damit auch der Freiraum der Bürger beschnitten wird, sie von staatlichen Stellen auf Schritt und Tritt erfasst und analysiert werden könnten, würde auch das Vertrauen in die Währung untergraben, wenn das Volk etwa stabilitätsgefährdendem Wirken der Notenbanken nicht mehr entrinnen könnte. Negativzinsen könnten per Tastendruck allumfassend durchgesetzt werden. Wenn das um sich greift, bliebe nur noch die Flucht in eine tatsächlich staatsfreie Währung: Bitcoins. Je mehr Notenbanken staatliche Gefälligkeitspolitik betreiben und durch unkonventionelle Instrumente langfristig die Preisstabilität untergraben, desto eher könnten Bitcoins zu einer echten Alternative und zu einer wahren Ersatzwährung heranreifen.

Kampfansage an Karlsruhe

Das EZB-Urteil des Europäischen Gerichtshofs verändert den Charakter der Währungsunion und untergräbt mittelfristig ihre Stabilität.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) brüskiert und der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Freibrief ausgestellt. Während die Karlsruher Richter die Klagen gegen das an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte OMT-Anleihekaufprogramm der EZB für berechtigt halten und den Tatbestand der monetären Staatsfinanzierung für erfüllt sehen, winken die Europarichter die unkonventionellen Methoden der EZB einfach durch. Sie sind ihrer Meinung nach vom Mandat gedeckt und stellen keine Umgehung des Staatsfinanzierungsverbots dar; zumal Geldpolitik ja stets Einfluss auf Zinssätze und Finanzierungsbedingungen habe und haben müsse. Außerdem haben sie den Notenbankern einen nahezu grenzenlosen Ermessensspielraum gelassen, was noch als Geldpolitik anzusehen ist und wie sie dies in der Öffentlichkeit zu begründen gedenken.

Das EuGH-Urteil ist damit auch eine Kampfansage an das BVerfG, das sich das „letzte Entscheidungsrecht“ in diesem Fall ausbedungen hat. Das BVerfG hat nun zwar die Option, das OMT-Programm als Ultra-Vires-Akt anzusehen, der nicht mehr von den Kompetenzübertragungen des Grundgesetzes gedeckt ist. Sie können in diesem Rahmen die Bundesregierung und die Bundesbank sogar verpflichten, auf einen Stopp des Programms hinzuwirken. Doch außer, dass dies neue Unsicherheiten in ein ohnehin schon wackeliges Währungsgefüge bringen würde, was mit hohen politischen Kosten verbunden wäre, würde sich an der Sachlage ohnehin nichts ändern: Die Bundesbank ist in ihrer kritischen Rolle zu Anleihekäufen bereits jetzt in einer Minderheitenposition innerhalb des EZB-Rats; und die Bundesregierung sieht die erweiterte politische Rolle der Notenbank sogar eher mit Wohlwollen. Denn EZB-Chef Mario Draghi hat zum einen durch sein unkonventionelles Handeln die Eurozone zusammengehalten und kann zum anderen mögliche Ansteckungseffekte im Nachgang zu einem möglichen griechischen Ausscheiden aus der Eurozone durch die jetzt richterlich zertifizierten Anleihekäufe eindämmen. Der Machtanspruch des BVerfG ist verpufft. Der EuGH hat obsiegt.

Der Streit um OMT ist allerdings mehr als eine juristische Auseinandersetzung in der Auslegung des EZB-Mandats, weshalb das BVerfG mit Entschiedenheit die eigene Haltung weiter verteidigen sollte. Letztendlich geht es nämlich um die Entscheidungshoheit über die Tektonik der Währungsgemeinschaft sowie um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Und hier stoßen die Auffassungen von BVerfG/Bundesbank auf der einen und EuGH/EZB auf der anderen Seite aufeinander.

Unter maßgeblich deutschem Einfluss wurde bei der Gründung der Währungsunion nämlich die Eigenverantwortung der Staaten hochgehalten. Das sollte fiskalische Fehlanreize minimieren und die Vergemeinschaftung von Staatsschulden blockieren. Nur unter diesen Vorbedingungen könnte die Stabilität der Eurozone trotz ihrer Unzulänglichkeiten langfristig gewährleistet werden, hieß es. Aber schon in der Vergangenheit wurden entsprechende gesetzliche Bestimmungen uminterpretiert, weil solche Regeln politisch unbequem sind und in vielen EuroLändern andere Rechtstraditionen vorherrschen, die eine politisch flexiblere Herangehensweise stützen. Und in einer Schicksalsgemeinschaft souveräner Staaten wie der Eurozone wirkt die Finanzkraft stärkerer Länder schon seit jeher verführerisch.

So wurde etwa das „Beistandsverbot“ im Maastricht-Vertrag flugs in eine freiwillige Beistandsoption umgedeutet. Von der ständigen Nichteinhaltung der Defizitkriterien ganz zu schweigen. Und wie sich der EuGH in Gesamteuropa Urteil für Urteil von Einschränkungen befreite und damit auch den Charakter der EU veränderte, soll nach dem Dafürhalten der Richter nun auch die EZB flexibler handeln können, um das Vakuum zu füllen, das die Politik hinterlassen hat, weil es dieser an Entscheidungskraft mangelt und eine Euro-Regierung fehlt. Mehr und mehr übernehmen demokratisch allenfalls mittelbar legitimierte Institutionen die Geschäftsführung Europas. Schon das wäre alle Kraft wert, dagegen aufzubegehren, weshalb das BVerfG und die Bundesbank aufgefordert bleiben, ihren Widerstand gegen eine so verstandene Währungsunion zu verstärken – auch auf die Gefahr hin, dass es zu einer Verfassungskrise kommt. Schließlich ist noch nicht klar, ob der Freibrief für die EZB die Währungsunion tatsächlich stabilisiert. Womöglich werden dadurch nur die Fliehkräfte gestärkt, die mittelfristig zu einem Zerfall der Eurozone führen.

Die Beißhemmung der Athener Regierung

Der mangelnde Einigungswille von Tsipras & Co. zeigt sich nicht im Widerstand gegen Rentenkürzungen sondern in seinem Umgang mit den Vermögenden

In der hitzigen Debatte über den fehlenden Reformeifer Athens kommt es im Hinblick auf die vorgetragenen „Fakten“ immer wieder zur Konfusion. Zuletzt machte die Aussage die Runde, dass „die Griechen“ bereits mit 56,3 Jahren in Rente gingen. Dafür hätten die Steuerzahler anderer Länder, die das finanzieren müssten, überhaupt kein Verständnis.

 

GriechenlandNun taucht die Zahl tatsächlich in einigen Dokumenten auf, bezieht sich aber auf das Rentenzugangsalter von Staatsdienern. Das liegt auch in anderen Ländern niedriger als das allgemeine Rentenzugangsalter – nach all den von den Gläubigern Griechenlands geforderten Kürzungen hätte man aber erwarten können, dass auch dieses deutlich angehoben wurde. Das ist nicht der Fall.

Was das durchschnittliche Rentenzugangsalter in Griechenland angeht, so liegt es mit 61,9 Jahren gar nicht so weit entfernt von dem in Deutschland – aber mit dem Unterschied, dass man auch hier angesichts der Lasten, welche den Steuerzahlern in den Gläubigerstaaten auferlegt werden, als Gegenleistung ein höheres Alter erwartet hätte. In den der Troika vorgelegten griechischen Dokumenten ist gar nur von einem Renteneintrittsalter von 60,6 Jahren die Rede, was schrittweise bis 2020 auf 63,1 Jahren erhöht werden soll.

Die Statistiken der Industrieländerorganisation OECD, auf denen die Vergleiche beruhen, zeigen aber auch, dass das Durchschnittseinkommen der Rentner trotz der Krise vergleichsweise hoch liegt – höher etwa als in Polen, Ungarn oder Estland.

Dass die Armutsquote in Hellas trotzdem größer ist als in jenen Ländern, zeigt, wo das Grundproblem in Griechenland zu suchen ist: in der dramatischen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Insofern widersprechen sich die in der Öffentlichkeit immer wieder gegeneinander ausgespielten Positionen: Auf der einen Seite die Bilder eines Armenhauses, in dem die medizinische Versorgung Dritte-Welt-Niveau erreicht hat und Hilfsorganisationen gerade noch eine Hungersnot verhindern. Und auf der anderen Seite die enorme Kapitalflucht der Vermögenden. Nach Berechnungen des Ifo-Instituts sind inzwischen 99 Mrd. Euro per Überweisung von griechischen Privatkonten abgeflossen, 43 Mrd. wurden in bar ins Ausland gebracht. Das entspricht 79 % des BIP von 2014. Laut griechischen Medienberichten hoben die Griechen allein vom 3. bis zum 5. Juni mehr als 1,2 Mrd. Euro von ihren Konten ab.

Es ist jene Doppelmoral Athens, welche die Steuerzahler der Gläubigerländer zur Zeit in Rage bringt: Auf der einen Seite wird Geld gefordert, damit der Staatssektor sich wieder aufplustern und die Löhne anheben kann. Auf der anderen Seite tut aber eine sozialistisch-kommunistisch geprägte Regierung nichts, um zunächst die Vermögenden des eigenen Landes stärker zur Steuerzahlung heranzuziehen. Vielmehr werden – wie die Reedereien – ganze Sektoren quasi steuerfrei gestellt. Die Beißhemmung der Regierungspartei Syriza unterscheidet sich da in keinster Weise von der Beißhemmung ihrer Vorgängerregierungen