Der Robin-Hood-Nimbus von Tsipras ist verblasst

Es geht um die Deutungshoheit, wenn es zum Äußersten, dem Grexit, kommt, Athen also pleitegeht und die Eurozone verlassen muss. Und deshalb steht in großen Teilen der Diskussionsforen in den sozialen Netzwerken längst fest, wer schuldig am griechischen Debakel ist: die von Berlin aus diktierte europäische „Rettungspolitik“. Sie habe das Land „auf dem Gewissen“, sei für die Verarmung der unteren Schichten verantwortlich. Da ist vom „Zerfall des deutschen Europas“ die Rede, Griechenland, das „niederkonkurriert“ worden sei und „kleingehalten“ werde. Die „sogenannte Rettungspolitik“ wird vom früheren deutschen Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck als „Anmaßung“ und „kalte Machtausübung“ bezeichnet.
Auch die Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz sticheln immer wieder und fordern Brüssel auf, den Athener Wünschen doch nachzugeben, sich endlich auf einen Schuldenschnitt einzulassen. Und für die linke Aktivistin Naomi Klein ist es sogar ein „Kampf für die Demokratie“, den Athen derzeit heroisch durchzieht.
Es geht tatsächlich um mehr als „nur“ um Griechenland. Können die Menschen überzeugt werden, dass eine „kapitalistische Rettungspolitik“ das Land auf dem Gewissen hat, ändern sich auch für den dahinterstehenden wiederaufflackernden ideologischen Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus die Kräfteverhältnisse. Entsprechend werden Tsipras‘ Bannerträger in den sozialen Netzwerken nicht müde, ihre Sicht der Dinge zum dominanten Erklärungsmuster zu machen.

Vertrauen verspielt

Wie verzweifelt die europäischen Institutionen und Staatenvertreter über die Schuldzuschreibungen sind, zeigt auch, dass die üblicherweise eher zurückhaltende Europäische Zentralbank (EZB) Anfang April mit einer „Opinion“ in die Öffentlichkeit gegangen ist. Darin hat sie das griechische Zwangsräumungsgesetz offensiv kritisiert, weil Athen damit nicht wie zunächst bekundet vor allem Arme vor einer Zwangsräumung schützen will. Vielmehr werden nun auch Wohlhabende mit einem Vermögen von bis zu 500000 Euro einbezogen. Die meisten Immobilienbesitzer können nun gefahrlos die Bedienung ihrer Kredite stoppen, was die Sicherheiten der Banken entwertet. Also vergeben diese lieber gar keine Kredite mehr, was die Erholung der griechischen Bauindustrie verhindert.
Normalerweise überlässt die EZB eine solche Demarche der EU oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die mit ihr in der Troika (jetzt: „Institutionen“) zusammensitzen. Aber wie der Zulauf zu extremen Parteien in den Krisenstaaten zeigt, besteht durchaus die Gefahr, dass sich ein falsches Realitätsbild festsetzt, das die Notenbank zum Sündenbock macht. Also geht die EZB selber in die Offensive. Und inzwischen verlieren auch die anderen Europartner Griechenlands die Geduld mit der Athener Regierung, wie sich jetzt auf dem Finanzministertreffen der Eurogruppe in Riga gezeigt hat.
Dabei zeigt die neue Linksregierung in Athen unter Alexis Tsipras bereits seit einiger Zeit, dass sie keinesfalls jener integre, vom alten Politklüngel unabhängige Personenkreis ist, für den sie sich gern ausgibt. Die politischen Entscheidungen erschöpften sich bislang nur in höheren Sozialausgaben, in einem Privatisierungsstopp und in strikter Reformverweigerung. Die wenigen höhere Einnahmen versprechenden Vorschläge sind nur Hoffnungswerte auf künftiges Wachstum. Das aber wird sich nicht einstellen, weil die Athener Politik ihre Glaubwürdigkeit verloren und die bisherigen Reformerfolge verspielt hat. Investoren machen einen großen Bogen um Griechenland – und die eigenen Bürger schaffen ihr Geld ins Ausland.

Linke Klientelpolitik

Mehr und mehr wird klar, dass Tsipras auch nicht der „Robin Hood“ ist, den er für seine Claqueure darstellt, sondern eher den „Sheriff von Nottingham“ mimt. Denn wie seine Vorgänger im Amt macht er Klientelpolitik und lässt die Reichen weiter gewähren. Es fängt schon damit an, dass der von ihm eingesetzte Untersuchungsausschuss zur Entwicklung der Krise nur die Zeit ab 2009 untersuchen soll statt die Umtriebe der Oligarchen oder den Nepotismus davor. Dabei war das Land schon vor 2009 heruntergewirtschaftet. Die Intention ist also klar: die Verantwortlichen werden im Ausland gesucht – bei den Gläubigern.
Auch die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Präsidenten der griechischen Statistikbehörde Elstat, Andreas Georgiou, zielen in diese Richtung. Ihm wird vorgeworfen, für 2009 ein zu hohes Haushaltsdefizit errechnet und damit Griechenlands Kreditgebern erst die Rechtfertigung für die unpopulären Sparmaßnahmen geliefert zu haben. Nicht belangt werden sollen indes die Verantwortlichen, welche das Defizit einst in betrügerischer Absicht zu niedrig angesetzt und sich damit die Euro-Mitgliedschaft erschlichen haben. Dass die Korruptionsbekämpfungseinheit nun in das Finanzministerium eingegliedert worden ist und damit ihre Unabhängigkeit verliert, passt ebenfalls ins Bild. Politische Umstände könnten es ja notwendig machen, die Beamten zu bremsen.
Wenig übrig von Tsipras‘ Nimbus als eines Kämpfers für die Armen bleibt beim Blick auf die Steuerpolitik. Freiberufler sind weitgehend steuerbefreit und dürfen ihre Einnahmen selbst schätzen. Der Finanzminister hat schlicht „vergessen“ das neue Steuergesetz umzusetzen. Und auch beim Steuerstundungsgesetz hat Tsipras nun die Schwelle wieder abgeschafft, wonach nur Steuerschuldner unter 1 Mill. Euro davon profitieren dürfen. Das freut die Wohlhabenden.
Ähnlich die Entwicklung bei der Immobiliensteuer: Die Regierung Samaras hatte sie auf Drängen der Troika einst eingeführt, um reiche Griechen an der Finanzierung des Staatshaushalts stärker zu beteiligen. Im Wahlkampf versprach Tsipras dann eine Lockerung, was das Steueraufkommen schon vorab einbrechen ließ. Dem Vernehmen nach soll sie jetzt in eine Reichensteuer aufgehen. Konkrete Entscheidungen stehen aber noch aus. Auch die Streichung der Steuerermäßigung für die wohlhabenden griechischen Touristeninseln wird nun doch nicht exekutiert. Dabei sollten die Mehreinnahmen den Arbeitslosen zugutekommen. – Und schließlich die soziale Schieflage beim Gesetz gegen Zwangsversteigerungen, wogegen sich aktuell die EZB gewendet hat.

Der Staat als Beute

Dass Athen bislang nicht auf Angebote aus der Schweiz und aus Deutschland reagiert hat, sich um die griechischen Steuerflüchtlinge zu kümmern, sofern man nur ein entsprechendes Amtshilfeersuchen stellt, passt da ins Bild. Es hat den Anschein, dass sich die neue Regierung wie ihre Vorgängerregierungen nun ebenfalls den Staat zur Beute machen will, dabei auf die alten Netzwerke zurückgreift und deren Repräsentanten dafür schont. Damit dieses System erhalten bleibt, muss der Bürgerzorn umgelenkt werden – auf Brüssel, Berlin und die EZB.

Ökonomische Irrfahrten

Austerität! schallt es in diesen Tagen vielstimmig daher, wenn es um die Sparauflagen für Griechenland geht. Zahlreiche meinungsstarke und oftmals tonangebende Ökonomen verunglimpfen die geforderte Haushaltskonsolidierung als „Spardiktat“. Sie richte „unfassbaren Schaden“ an, heißt es. Deutschland, so der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, habe in der Europolitik versagt. Und sein Nobelkollege Paul Krugman rät zu „intelligenteren Alternativen als Sparen“, meint damit aber schlicht mehr Staatsausgaben. Athen dürfte sich im Widerstand gegen Brüssel und Berlin bestätigt fühlen.

Was aber treibt prominente Ökonomen zu derlei Parteinahme? Gewiss hat das Leiden der griechischen Bevölkerung inzwischen ein Maß erreicht, das eine selbstkritische Überprüfung der bisherigen Politik nötig macht. Aber die von Athen verlangte Konsolidierung ist keinesfalls so einzigartig radikal wie behauptet. Andere Länder hatten ähnliches durchstehen müssen und haben gleichwohl zum Wachstum zurückgefunden. Es ist ja nicht so, dass eine ganze Gesellschaft in die Knechtschaft getrieben, eine Volkswirtschaft kaputtgespart wird. Vielmehr lag und liegt es an Athen selber, die Konsolidierungslasten zu verteilen. Und dabei fällt auf, dass erst jetzt damit begonnen wird, Superreiche und Steuerflüchtlinge zur Finanzierung heranzuziehen. Naivität? Oder Absicht?

In der Austeritätsdebatte wird zudem schnell vergessen, dass Griechenland sich Ende 2009 in einer Lage befand, in der die Konsolidierung unausweichlich war angesichts eines Budgetdefizits von 15 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Selbst wenn man die Zinsaufwendungen von damals herausrechnet, waren es noch 10 %. Das fehlende Geld musste ja von irgendwoher kommen. Internationale Kapitalanleger verweigerten sich. Mit den Rettungsprogrammen konnten die erforderlichen Anpassungen zumindest hinausgezögert werden, um sie sozial verträglicher zu gestalten. Zudem wird verkannt, dass von „Austerität“ schlicht keine Rede sein kann: Erst 2014 wurde unter Herausrechnung des Schuldendienstes ein winziger Primärüberschuss erzielt. Ist es schon Austerität, wenn ein Land das Defizit nur verringert?

Griechenland könnte ja den argentinischen Weg gehen, die Pleite erklären und den Schuldendienst einstellen, wie von Ökonomen gefordert. Vom Kapitalmarkt wäre es dann aber auf lange Sicht abgeschnitten. Und auf ausländische Hilfe könnte es nicht mehr hoffen. „Austerität“ wäre dann auf einen Schlag nötig – es sei denn, die nötigen Ausgaben würden von den Steuerzahlern anderer Länder finanziert. Schon die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte einst festgestellt: „Das Dumme am Sozialismus ist, dass einem immer das Geld der anderen ausgeht!“

Was treibt ökonomische Meinungsmacher dann dazu, eine notwendige Korrektur der griechischen Haushaltspolitik zu torpedieren? Wohl allein die Hoffnung, dass der Multiplikator der Staatsausgaben größer als „1“ ist und die Mehrausgaben sich damit über höhere Investitionen und mehr Konsum – also stärkeres Wachstum – mehr als bezahlt machen. Die Vergangenheit aber hat gezeigt, dass das nur unter besonderen Umständen möglich ist. Es gilt nicht für ein Land, das einfach über seine Verhältnisse gelebt hat. Was macht manche Ökonomen ferner so sicher, dass sich Wachstum bereits einstellt, ohne die Wirtschaft zunächst auf mehr Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen? Und woher nehmen sie ihren Glauben, dass das Land die höhere Schuldenlast in besseren Zeiten tatsächlich zurückzahlen wird? Griechenland hat zuletzt 1972 echte schwarze Zahlen geschrieben. Wie kann das Kalkül also aufgehen? Ohne äußeren Druck von Seiten der Anleger und staatlichen Geldgebern ist da nichts zu machen. Also bringen die Ökonomen nun die Geldpolitik in Stellung. Die Europäische Zentralbank wird als Staatsfinancier missbraucht. Das sei „moderne Geldpolitik“, heißt es. Neue gewaltige Risiken tun sich damit aber auf.

Manchen tonangebenden Ökonomen scheint eine gewisse Hybris zu eigen. Dabei haben sie schon bei der Finanzkrise versagt, als sie ihre Vorzeichen nicht sahen. Warum sollten sie jetzt besser liegen, da sie der Politik nun artig das argumentative Rüstzeug für mehr Staatsausgaben liefern? Und wo endet diese Entwicklung, wenn man einer solchen Schuldenökonomie frönt? Das Grundvertrauen in die Währung geht verloren, was eine neue Krise hervorrufen wird. Auch das dürfte die ökonomischen Meinungsmacher dann erneut kalt erwischen. Sie werden sich aber sofort wieder anbieten mit ihrer „Expertise“ beim Aufbau einer neuen Geldordnung.

Der geschenkte Boom

Eine Erfolgsmeldung vom Arbeitsmarkt jagt derzeit die nächste: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt unter die Schwelle von drei Millionen Personen. Seit 24 Jahren war sie im März nicht mehr so niedrig. Das dürfte das Wirtschaftswachstum weiter befeuern. Zumal die deutsche Konjunkturlokomotive nicht mehr allein vor sich hin dampft. Inzwischen stehen nämlich auch viele andere Volkswirtschaften in der Eurozone unter Dampf, was sich dort ebenfalls auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt: Die Arbeitslosenquote im Währungsraum ist auf das Niveau vom Mai 2012 gesunken. Noch eine Erfolgsmeldung, also.

Die Entwicklung macht Hoffnung, dass sich der Aufschwung im Währungsraum verfestigt, sich wieder Zukunftshoffnungen breitmachen und die lähmenden Abstiegsängste vertreiben. Denn die höhere Beschäftigung entlastet den Staat und die Sozialversicherungen, was die Konsolidierung erleichtert und Spielraum für Wachstumsinitiativen gibt. Von den heilsamen Wirkungen einer größeren Binnennachfrage durch mehr Beschäftigung und der eines besseren Investitionsklimas durch optimistischer gestimmte Marktakteure ganz zu schweigen.

Also alles eitel Sonnenschein? Mitnichten. Zum großen Teil fußen die heute gefeierten Erfolge in Deutschland und in der Eurozone nämlich auf Sonderentwicklungen, die keine Folge aktiven Handelns europäischer Regierungspolitik sind, sondern eher einem Glücksfall gleichen. Da sind die gesunkenen Benzinpreise, die wie ein fremdfinanziertes Konjunkturprogramm wirken. Diese Entwicklung ist rein geopolitischer Natur. Der Impuls lässt inzwischen auch nach. Und der durch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank künstlich geschwächte Euro, der den Export beflügelt, ruft allenfalls einen Strohfeuereffekt hervor. Dieser hält nur so lange an, wie sich die anderen Währungsräume die Geldpolitik der EZB gefallen lassen und nicht selber nachziehen.

Zudem sollte zu denken geben, dass Deutschland trotz dieser günstigen Bedingungen offenbar nicht mehr als 2% Wachstum an den Tag legen kann, wie Ökonomen erwarten. Rechnet man die Sondereffekte dann heraus, wird schnell klar, dass es hierzulande schlicht an den nötigen Reformimpulsen fehlt, um die aktuelle Dynamik aufrechterhalten zu können. Anders sieht es da etwa in Spanien und Portugal aus. Sie haben die besten Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum, weil sie auch von den Reformen zehren, die sie seit 2011 umsetzen. Berlin sollte sich in seiner Reformpolitik an ihnen ein Beispiel nehmen.

Selbstgefälliges Deutschland

Die deutschen Unternehmen leben derzeit in der besten aller Welten: Ihre Exportgüter werden ihnen auf den Weltmärkten förmlich aus den Händen gerissen. Zugleich rennen ihnen die Konsumenten im Heimatmarkt die Bude ein. Kein Wunder, dass die Unternehmensstimmung hierzulande so blendend ist, wie das jetzt das Ifo-Institut in seiner neuesten Umfrage zum Geschäftsklima festgestellt hat. Die Wirtschaft expandiert und auch die Wachstumsaussichten für die nächsten Monate werden in rosigen Farben geschildert. Zumal sich die wegen der Schuldenkrise bisher darniederliegenden Märkte in Europa ebenfalls erholen und sich auch da wieder Absatzchancen für deutsche Produkte auftun.

Allerdings ist der Aufschwung, über den sich die deutsche Wirtschaft derzeit so sehr freut, letztlich nur ein großer Glücksfall. Dass der Ölpreis so tief fällt, um wie ein Konjunkturprogramm zu wirken, ist letztlich dem Frackingboom in den USA sowie geopolitischen Umständen zu verdanken. Wird das dabei gesparte Geld nun nicht für Investitionen in Effizienztechnologien und zur Steigerung der Produktivität hergenommen, um für bald wieder höhere Energiepreise gewappnet zu sein, dürfte das Wehklagen später umso lauter zu hören sein. Die dann einhergehenden Wachstumsverluste könnten die heute bejubelten Wachstumsgewinne weit in den Schatten stellen.

Auch die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten ist nicht das Verdienst der heimischen Industrie, sondern vor allem Resultat der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich damit – nebenbei bemerkt – das Risiko eines Währungskrieges einhandelt und den Boden für neue Finanzkrisen bereitet. Denn die Geldflut der Notenbank schwächt den Euro-Kurs und senkt die Zinsen teilweise bis unter die Nulllinie. Das erhöht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit aller Euro-Exporteure ohne deren Zutun. Und auch der Konsumboom ist ein Reflex darauf, weil das Ersparte kaum mehr Zinsen abwirft und deshalb gleich verausgabt wird. Dass mit dieser Politik aber auch die Altersvorsorge erodiert, was viele Menschen später einmal hart treffen wird, gerät dabei leicht in Vergessenheit.

Obendrein verführt die phänomenale Konjunkturstimmung zu Selbstgefälligkeit. Das gilt für die Politik, welche die Steuermehreinnahmen noch immer zu wenig in investive Projekte steckt und eher konsumtiven und sozialen Ausgaben huldigt. Strukturreformen werden ebenfalls hintangestellt – sie scheinen derzeit ja nicht nötig. Und auch die Unternehmen nutzen die guten Zeiten zu wenig für Investitionen in die Zukunft des Standorts. Die Etats dafür legen zwar etwas zu, das wird dem über Jahre aufgestauten Nachholbedarf aber nicht gerecht. Erneut wird eine Chance vertan. Dabei ist klar: Geht man Reformen und Investitionen zu spät an, wird es umso schmerzlicher. Die Mühen bei der Umsetzung der Agenda 2010 haben es gezeigt.

(erschienen in: Börsen-Zeitung, 26.3.2015)

Digitale Freiheitsberaubung

Von Stephan Lorz

Die Freiheitsberaubung durch das Internet kommt schleichend daher. Nur wenige Nutzer in den digitalen Gefilden bemerken diesen Angriff auf unsere Selbstbestimmung, weil es sich dabei um eine besondere Form eines Computervirus handelt, das wir uns bei unseren Streifzügen mit dem Rechner, dem Tablet oder dem Smartphone einhandeln. Gemeint ist nicht einer dieser programmierten Quälgeister, die Festplatten löschen, Rechner hijacken und für die „Freilassung“ Lösegeld verlangen, oder persönliche Daten stehlen, um mit fremden Kreditkarten auf Shoppingtour zu gehen. Sondern es ist ein Psycho-Virus, das die Schwächen unserer intellektuellen Immunabwehr ausnutzt: die Bequemlichkeit und die Schnäppchenjägerinstinkte. Beides setzt oft die Vernunft und das kritische Denken außer Kraft.

Was steckt dahinter? Algorithmen lenken immer unverhohlener unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Produkte und Nachrichten, kommen mit dem Versprechen von Authentizität, Objektivität und individuellem Zuschnitt daher. Das freut die meisten Nutzer, weil sich ihre Interessen durchaus decken mit den Vorschlägen von Amazon, Facebook, Google und vergleichbaren Unternehmen in den Weiten des Internet. Dass dafür unser Suchverhalten, unser digitales und analoges Leben ausspioniert und miteinander in den Big-Data-Clouds verknüpft werden, nehmen die meisten dabei sogar in Kauf, weil es ja bequem ist: Der Internet-Browser ist an allen Rechnern identisch konfiguriert, man findet sich sofort zurecht. Überall sind meine Daten, meine Musik, meine Fotos und meine Freunde sowie Kontakte greifbar, weil sie in der Cloud gespeichert und verknüpft sind. Und selbst meinen Warenkorb kann ich überall mit hinnehmen.

Der Mechanismus funktioniert in abgewandelter Form auch für Angebote wie Uber oder AirBnB, die „Mitfahrgelegenheiten“ und „Ferienwohnungen“ bzw. Schlafstätten vermitteln. Wegen ein paar günstigerer Taxifahrten etwa wird hingenommen, dass das Steuer- und Sozialversicherungssystem ausgehebelt wird und sich neue Risiken auftun, die Profite aber weitgehend beim Vermittlungsunternehmen im Ausland landen. Märkte würden lediglich von alten Zöpfen befreit und viel effizienter ausgestaltet, heißt es. Alles werde bequemer – ein Klick genüge. Zwar verlören ein paar Taxifahrer und Hotelangestellte ihre Jobs, dafür aber könne alles billiger angeboten werden. Der Kunde ist König, gibt dafür aber darüber hinaus seine Anonymität preis, wie jüngst bei der Auswertung von Daten zu One-Night-Stands offengelegt worden ist. Das lässt sich prima auswerten.

Auch in der „Industrie 4.0“ werden digitale Schätze gehoben, wenn es etwa um jene Daten geht, die eine Heizungsanlage sammelt, die moderne Autos beim Fahren produzieren oder die eine Smartwatch bzw. ein Fitnessarmband weitermeldet. Versicherungen, Arbeitgeber und Datensammelstellen von Konsumunternehmen sind schon ganz scharf auf diese neuen Schürfmöglichkeiten, die es gilt auszuwerten und mit bestehenden Informationen zu verknüpfen.

Für die Menschen wird das Leben gefühlt tatsächlich leichter, weil der „digitale Butler“ in der Uhr oder im vernetzten Heim aus den gesammelten Informationen der Vergangenheit längst errät, was der Kunde (Proband, Abhängige) will, wonach er sich sehnt. Hat er seine Kreditkarte hinterlegt, kann auch gleich der zur Befriedung der Bedürfnisse notwendige Kauf von Nahrungsmitteln, Filmen oder Gadgets exekutiert werden.

Was die meisten aber nicht wissen und nur wenige ahnen: Die anonyme Auswertung unserer Daten führt zu einer Uniformität und Ausbeutung, die in keinem Verhältnis zu der damit gewonnenen Bequemlichkeit mehr steht. Ausgehend von den in den Daten werden die Menschen durch sanften Druck – Ökonomen sprechen vom Nudging – zu schablonenhaften Verhaltensweisen „erzogen“, was ihnen aber zunächst gar nicht auffällt, weil es sukzessive erfolgt und die Abweichung von ihrer eigenen Prägung zunächst sehr gering ist. Denn sie finden in den „Vorschlägen“ von Apps und Internet-Marktplätzen ja immer wieder eine Bestätigung ihrer eigenen Wünsche. Längst sind sie aber in eine Informationswolke gehüllt, die bereits eine Auswahl darstellt, gleichwohl aber das Gefühl vermittelt, dem freien Willen seinen Lauf zu lassen. Nach und nach werden die Kunden dann in Schubladen ablegt, um sie für den Kommerz besser handhabbar und ausnutzbar zu machen. Das Scoring bei Kreditauskunfteien ist hier nur ein Beispiel von vielen.

Wer sich dem entziehen will, oder durch abnormes und überraschendes Verhalten auffällt, wird aus diesem Raster getilgt oder mit Sanktionen belegt. Wenn sich nur genug Kunden etwa bei Versicherungen für einen günstigeren Tarif einschreiben, der aber die Auswertung von persönlichen Fitnessdaten zur Voraussetzung macht, dreht sich das Machtverhältnis um. Dann werden alle anderen, die das nicht tun wollen, bewusst in deutlich höhere Tarife eingruppiert – gewissermaßen zur Strafe, weil sie dem Unternehmen ihre intimen Daten vorenthalten. Soziale Kontrolle über den Geldbeutel. Das hat etwas von einer Diktatur.

Doch damit ist die digitale (Uni-)Formierung der Menschen nicht beendet: Algorithmen sorgen dafür, dass das Profitinteresse ihrer Auftraggeber in der Netzökonomie immer weiter in den Vordergrund rückt und immer dreistere Züge nimmt. Inzwischen zeigt auch Google (Leitspruch: Don’t be evil!) hier sein wahres Gesicht. Mittlerweile wird Werbung selbst unter die Suchergebnisse von News-Seiten geschmuggelt. Sie kommt schlicht als Neuigkeit daher und formt das Weltbild mit – im Sinne der Werbetreibenden. Eine Auswertung von Nachrichten in sozialen Netzwerken (FAZ vom 14.3.2015) hat ergeben, dass die Entwicklung bereits weit fortgeschritten ist. Die tatsächlichen Nachrichten werden verdrängt durch belanglose aber werberelevante Informationsschnipsel.

Immer enger umgeben uns die großen Anbieter im Netz mit eine Weltsicht, die uns eine heile Kommerzwelt vorgaukelt, die nur unser Bestes will, und dafür wichtige Informationen vorenthält. Oft kommen sie als treusorgender allgegenwärtiger Schatten daher, der uns jeden Wunsch von den Augen abliest. Etwa Amazons Kommerzspion „Echo“, das im Wohnzimmer aufgestellt als Lautsprecher fungiert, zugleich aber nebenbei geäußerte Produktwünsche automatisch in den Warenkorb des Unternehmens verfrachtet – ein Klick genügt, und Amazon ist um eine Bestellung reicher. Schlimmer: Die neue „Hello Barbie“-Puppe von Mattel spioniert selbst die Kleinsten aus und meldet deren Äußerungen nicht nur den Eltern, sondern auch kommerziellen Anbietern. Man kann sich leicht ausmalen, wie schnell vom Kind geäußerte Wünsche etwa nach einem Inline-Skates und anderem von der Werbung ausgeschlachtet und die Eltern damit über diverse Kanäle malträtiert werden bis sie mürbe geworden sind.

Mit der in der Geschichte der Menschheit hart erkämpften Freiheit ist es unter diesen Umständen dann längst vorbei, weil die Widerstandskraft einfach nicht ausreicht, sich der ständigen Attacken der Konsumindustrie zu erwehren. Über die Ausspähversuche der amerikanischen NSA oder des Bundesnachrichtendienstes (BND) wird hinlänglich und emotional debattiert, weil sie eine Gefahr für die Demokratien dieser Welt darstellten, heißt es. Doch eine Diskussion über die Ausbeutung privater Daten durch Unternehmen und die damit einhergehenden subtilen Mechanismen in der Internet-Kommunikation, die den Freiheitsdrang betäuben und die uniformierten Nutzer in einen Kokon aus Bequemlichkeit einhüllen, darüber wird sich allenfalls in elitären Zirkeln ausgetauscht. Es fehlt hier noch an der Sensibilität für dieses Thema – oder an einem entsprechenden Daten-GAU, der die Problematik allen Menschen bewusst macht.

Wird unsere Freiheit also dahinschmelzen und einer digitalen Gedankenpolizei Platz machen, welche die Menschen dann nicht einmal mehr als einengend empfinden, weil sie schon längst kompatibel gemacht worden sind für die Herrschaft der Internetkonzerne? Denn wer in der Zukunft nicht die nötigen digitalen Fähigkeiten mitbringt, um sich den subtilen Mechanismen zu entziehen, müsste schon in die analoge Welt fliehen. Doch dann ist er von dem oft auch beruflich notwendigen Datenstrom abgenabelt. Es ist deshalb auch eine Frage für unsere demokratische Gesellschaft. Denn die Einflussversuche machen ja nicht halt beim Kommerz, sondern formen auch – bewusst oder unbewusst – unser Wahlverhalten, wie der US-Verhaltensforscher Rob Epstein warnt. So habe der Google-Algorithmus mächtigen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen in Indien und den USA gehabt. Es ist also an der Zeit, dass die Politik sich dieses Themas mit aller Ernsthaftigkeit annimmt – sofern es nicht schon zu spät ist.

Aschaffenburg, den 18. März 2015

Eurozone: Freiwilligkeit funktioniert nicht

Die aktuelle Debatte über die Nichteinhaltung von Reformvereinbarungen durch Griechenland zeigt erneut: Freiwillig unterzieht sich keine Regierung harten Strukturreformen, um ihr Land wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das war schon in Deutschland so, als die heimische Volkswirtschaft noch die „rote Laterne“ der Gemeinschaft in der Hand hielt. Unser Land galt als Abstiegskandidat. Die Arbeitslosigkeit erreichte schwindelerregende Höhen, das Haushaltsdefizit war kaum zu bändigen. Erst dieser Druck hatte die Bundesregierung 2003 zu den Reformen der „Agenda 2010“ genötigt. Die Widerstände in der Öffentlichkeit – auf der Straße und in den Medien – waren gewaltig, konnten jedoch überwunden werden. Ergebnis: Deutschland kann wieder passables Wachstum vorweisen, die Arbeitslosigkeit wurde zurückgedrängt, der Staatshaushalt ausgeglichen, die Schuldenquote sinkt.

Solidarität und Solidität

Freiwillig werden auch anderswo in der Eurozone keine Reformen durchgezogen: Entweder wird der Druck von Seiten der Märkte zu groß, welcher die Verschuldungskosten nach oben treibt und so die Regierung auf Reformkurs zwingt. Oder von Seiten der anderen Euro-Staaten wird Druck ausgeübt, weil sie Finanzhilfen nur unter der Bedingung fester Reformzusagen gewähren. Diese Konditionalität hat sich in der Eurozone als praktikabel und im Hinblick auf Spanien und Portugal sogar als durchaus erfolgreich erwiesen. Zwar ist den Euro-Staaten der finanzielle Beistand laut EU-Verträgen eigentlich verboten, doch die Aussicht auf Reformen und auf eine stabilere Währungsunion hat den Rechtsbruch in großen Teilen der Öffentlichkeit tolerierbar erscheinen lassen. Zudem scheint damit auch die immer wieder eingeforderte Solidarität mit der erstrebten Solidität auf beste Weise zu verschmelzen.

Voraussetzung ist aber, dass die betroffenen Länder sich auch tatsächlich an die Absprachen halten und die angedrohten Sanktionen im Falle des Zuwiderhandelns tatsächlich verhängt werden. Das scheint in der Eurozone nicht gewährleistet zu sein, was wiederum einzelne Länder herausfordert, die Grenzen auszutesten. Italien etwa, das nie ernsthafte Sanktionen zu befürchten hatte, weil der Stabilitätspakt in der Praxis ein stumpfes Schwert geworden ist und das Land bislang auch keine direkten Finanzhilfen in Anspruch nehmen musste, hat über Jahre immer wieder Reformversprechen abgegeben, um mehr Bewegungsspielraum bei der Aufstellung des Haushalts zu bekommen. Doch den Ankündigungen sind bislang nur wenige Taten gefolgt. Und auch Frankreich hat es zu einer wahren Meisterschaft in Verschleppungstaktik gebracht: Die geforderte Einhaltung des Defizitziels wurde stets erneut in die Zukunft verlagert. Dass angesichts solcher Nonchalance die Währungsunion bis heute gehalten hat, grenzt schon an ein Wunder. Denn derlei Verhalten sorgt für Misstrauen und Ärger, die sich anstauen und die Gemeinschaft über die Zeit zum Platzen bringen können.

Troika ausgebootet

Nun könnte das Beispiel Griechenland diesen Prozess noch beschleunigen. Denn am Wohlverhalten der Athener Regierungen waren schon immer Zweifel angebracht. Viele der fest vereinbarten Reformen wurden entweder nur in verwässerter Form durch das Parlament gebracht, oder sie sind im Verwaltungsapparat stecken geblieben. Angesichts von Finanzhilfen geradezu biblischen Ausmaßes hatte man die Troika als unbestechliche Kontrollinstanz eingesetzt, bestehend aus den Kapitalgebern EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) sowie der Europäischen Zentralbank (EZB). Letztere hat über ihre Geldpolitik ebenfalls großes Interesse an einer Stabilisierung des Landes. Doch selbst unter der Troika kamen die Reformen nur schleppend voran. Die Regierung verteilte die geforderten Kürzungen zudem einseitig auf die Normalbürger, so dass sich deren Hass nun auf Brüssel und Berlin richtet.

Dass es nach dem Ausbooten der Troika in Griechenland jetzt besser laufen könnte, ja sogar von einem Neuanfang die Rede ist, glaubt am Ende wohl selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht. Athen würde die neue Bewegungsfreiheit eines wie immer gearteten Kompromisses nur zu neuen Exzessen ausnutzen, wie die ersten Reformrücknahmen der neuen Regierung bereits erahnen lassen.

Damit die Athener Regierung ihr Modell eines Staatssozialismus umsetzen kann, müsste der Regierung aber die Zentralbank willfährig sein. Denn ohne weitere EU-Finanzhilfe wären die Ausgabenwünsche nur noch mit der Notenpresse erfüllbar. Am Verhalten der EZB in diesen Tagen wird sich deshalb zeigen, wie unabhängig die Notenbank tatsächlich noch ist und inwieweit sie sich bereits als Erfüllungsgehilfe der Staaten sieht, wenn sie über die monetäre Finanzierung der griechischen Banken zu entscheiden hat. Unabhängig davon ist dies auch ein Lackmustest dafür, ob die Konditionalität von Finanzhilfe gegen Reformen überhaupt noch gilt. Wird das aufgekündigt, hätten sich die Grundlagen der Währungsunion verflüchtigt.

Digitale Ökonomie: Deutschland braucht ein Firmware-Update

Die Politik hinkt der digitalen Umgestaltung hinterher – Flächendeckende schnelle Internetverbindungen sind nur ein erster Schritt – Der Strukturwandel steckt fest

Von Stephan Lorz

Die Sensoren sitzen überall am Körper – im Armband, in der Uhr, im Brillengestell und künftig wohl auch unter der Haut. Sie fühlen, protokollieren, regeln und verbinden uns Menschen mit dem Internet, wo wir einsortiert werden mit unserer Gesundheit, Leistungskraft, unseren Verhaltensweisen – und mit einem ominösen Durchschnitt verglichen werden. Die Digitalisierung des Menschen, wie sie im sogenannten Life-Logging zum Ausdruck kommt, hat aber nicht nur Auswirkungen auf das persönliche Umfeld, sondern in ihrer Formenvielfalt auch das Potenzial, die Gesellschaft insgesamt, soziale Institutionen und die ökonomische Basis völlig zu verändern. Die neuen Machtverhältnisse werfen Fragen nach dem Wesen und dem Ziel des Wirtschaftens auf, nach der Funktionalität ökonomischer Strukturen und dem Schutz der Privatsphäre. Zugleich geschieht der Wandel mit einer Geschwindigkeit, mit der demokratisch verfasste Gesellschaften kaum mithalten können.

Irritiert müssen sie etwa hinnehmen, dass schon jetzt Versicherungen ihren Kunden besonders günstige Tarife anbieten, sofern sie sich bereiterklären, ihre Gesundheit und sportliche Aktivitäten durch eine App überwachen zu lassen. Die einen sprechen von einer Gesundheitsdiktatur, die anderen von den nötigen Anreizen für ein gesünderes Leben. Der Datenschutz wird ausgehebelt, der Mensch gibt sich – vielfach aus Bequemlichkeit – Konzernen preis, die auf dieser Basis ihrerseits zu mächtigen Marktakteuren heranreifen. Das gefährdet für sich genommen wiederum das Kernelement einer Marktwirtschaft, den Wettbewerb. Die offenkundigen Monopolisierungstendenzen im Digitaluniversum haben bereits das Europaparlament auf den Plan gerufen, das wegen der Marktdominanz sogar die Zerschlagung etwa des Suchmaschinenbetreibers Google fordert.

Marktdominanz nimmt zu

Was bringt die Digitalkonzerne aber in eine solche starke Position? Es sind die Netzwerkeffekte, die im weltumspannenden Internet schneller greifen und stärker wirken als in der Realwirtschaft, weil Transaktionskosten kaum mehr eine nennenswerte Größenordnung darstellen und die Produkte hypermobil sind. Auf diese Weise steigen Unternehmen, welche neue Plattformen im Internet anbieten, wie der Taxivermittler Uber, rasant zu markbeherrschenden Konzernen auf. Durch die steigenden Nutzer- und Anbieterzahlen auf der Plattform erhöht sich nämlich deren Attraktivität. Auch die Qualität der Treffer bei Suchanfragen erhöht sich mit der Zahl der Menschen, die mit Google suchen. Wer zu spät kommt, hat schon fast verloren, weil er nicht an jene kritische Größe heranreicht. Daraus erwachsen schnell monopolartige Strukturen.

Daniel Zimmer, Chef der Monopolkommission, wundert sich hingegen über die scharfe Kritik, die Google entgegenschlägt. Die Europäer hätten ein „zwiespältiges Verhältnis zu amerikanischen Internetkonzernen“ sagt er und warnt vor Schnellschüssen bei der Regulierung. Nicht jedes Monopol sei per se schlecht. Denn gerade die Aussicht auf Monopolrenditen treibe im Internet Erfindergeist und Innovationen an. Komisch, dass man eine solche Argumentation in der Realwirtschaft nicht gelten lässt. Braucht das Internet also eine Regulierungsbehörde? Oder gibt es doch „gute“ Monopole?

Eine Debatte scheint auch deshalb sinnvoll, weil die Digitalisierung die Realwirtschaft immer weiter umformt und dabei althergebrachte Arbeitsmarktbeziehungen zu untergraben droht. Im Internet findet Wertschöpfung immer stärker in virtuellen Zusammenhängen statt. Das macht das Normalarbeitsverhältnis, an dem das ganze Sozialsystem hängt, zunehmend zum Auslaufmodell. Auch der Druck auf den Lohn wird dramatisch ansteigen, weil in der weltweiten Vernetzung etwa Bewerber aus Indonesien und Oberbayern um denselben Auftrag konkurrieren. Entsprechende Plattformen finden sich im Netz etwa unter dem Schlagwort „Amazon Mechanical Turk“, „Faktor 10“ oder „Kaggle“. Die Natur der digitalen Arbeit erhöht zudem die Kontrolle der Jobber, was Kritiker als ein Einfallstor für „modernes Sklaventum“ sehen.

Soziale Schere öffnet sich

Ferner können ganze Tätigkeitsbereiche wegfallen. Die Arbeitswelt polarisiert sich, sagt Arnold Picot von der Universität München. Die Experten an der Spitze der wirtschaftlichen Nahrungskette würden weiter an Einfluss gewinnen. Die am meisten gefährdeten Jobs lägen dabei gerade in der Mitte des Einkommensspektrums. Die soziale Schere – Menschen, die mit Algorithmen umgehen können, wird es sehr gut gehen, Menschen mit anderen Kompetenzen und mit weniger Expertise werden es immer schwerer haben – wird also weiter aufgehen. Muss der Staat deshalb gegensteuern und einen Teil dieser Automatisierungsdividenden absahnen und neu verteilen? Schwierig in einer Welt, in der die digitalen Produktionsprozesse auf einen Mausklick hin verlagert werden können.

Ein Problem der digitalen Ökonomie stellt auch die Wechselwirkung der realen Welt mit der in den Datensätzen dar. Zwar scheinen die Datenanalysen eine immer höhere Treffergenauigkeit zu haben, wenn Algorithmen etwa schon anhand des Klickverhaltens errechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit etwa für die Kündigung eines Mitarbeiters ist. Schon heute setzt die Polizei in vielen Ländern zudem auf die Analyse von Verbrechensmustern. Science-Fiction-Filme wie „Minority Report“ scheinen sich zu bewahrheiten.

Der Algorithmus lernt zwar nur aus der Vergangenheit, zugleich aber bestimmt er damit auch künftiges Verhalten. Wenn Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Einkaufs- und Nachrichtenportale stets passgenaue Angebote liefern, beeinflussen sie unsere Entscheidungen, unser Denken und Handeln. Der Mensch ist dann irgendwann nur noch das, was eine Rechenvorschrift aus seinem vergangenen Verhalten für die Zukunft extrapoliert hat. Es finde eine Machtverlagerung statt durch technologische Prozesse, warnt Hendrik Speck, Professor für digitale Medien an der FH Karlsruhe.

Nach Ansicht von KI-Expertin Yvonne Hofstetter hat Europa längst die Kontrolle über seine Daten verloren – und zwar an US-amerikanische Konzerne wie Google, Amazon oder Apple sowie an Geheimdienste wie die NSA. Und schon bald würden Nutzer nicht einmal mehr das Recht haben, sich aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Hofstetter kennt Fälle aus den USA, wo eine Krankenversicherung ihre Prämien schon erhöht, wenn ein Kunde kein Profil bei einem sozialen Netzwerk mehr hat.

Wie häufig bei Innovationen zeigt sich auch hier die Janusköpfigkeit der Entwicklung: Die „Datafizierung“ des Menschen macht zwar auch personalisierte Medizin möglich, mit der Krankheiten geheilt werden, die bisher zum Tode führen, verbilligt Produkte und vereinfacht das Leben, doch zugleich wird der Mensch auch durchökonomisiert, verliert seine Privatsphäre und womöglich auch seine Freiheit. Der „mündige Bürger“ wird zur Farce, weil er an unsichtbaren Fäden hängt und durch die Ausnutzung seiner Bequemlichkeit entmündigt wird. Das stellt auch eine Gefahr für die Demokratie dar.

Es ist deshalb Zeit für die Politik, nicht nur mit Schlagworten und mit großen Gesten über Industrie 4.0 zu palavern, sondern einen Diskussionsprozess anzustoßen, der in eine Reform der Gesellschaft mündet, wo digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert und die politischen und sozialen Institutionen sowie die Bildungseinrichtungen auf die neuen Herausforderungen vorbereitet werden. Allein mit der Herstellung eines breitbandigen Internetzugangs ist es nicht getan. Das gesamte politische und ökonomische Regelungssystem benötigt ein Firmware-Update.

Deutsche Konjunktur: Hoffnungswerte

Die heimische Wirtschaft sonnt sich derzeit in einer für ihre Verhältnisse geradezu grandiosen Wachstumszahl: Um 1,5 % hat die Wertschöpfung 2014 zugelegt, so viel wie seit drei Jahren nicht mehr. Seinerzeit hatte sich Deutschland gerade vom tiefen Einbruch durch die Finanzkrise erholt. Anschließend war die Enttäuschung groß, dass sich danach nur noch ein Miniwachstum eingestellt hatte. Insofern sind die gleich nach Bekanntgabe der Wachstumsdaten geäußerten euphorischen Kommentare nachvollziehbar. Zumindest optisch scheint das Konjunkturtief nun überstanden. Und die Hoffnung ist riesig, dass das Wachstum 2015 auf ähnlich hohem Niveau verlaufen wird. Die Beschäftigungs- sowie die Lohnentwicklung und auch die Exporte scheinen eine solch rosige Sicht durchaus nahezulegen.
Aber schon der Blick auf die Quartalszahlen zeigt, dass die optimistischen Prognosen nur Hoffnungswerte darstellen. Denn das relativ hohe Wachstum war fast ausschließlich einem phänomenalen ersten Quartal und einem enormen statistischen Überhang aus dem Jahr davor zu verdanken. Schon im Frühjahr legte die heimische Wirtschaft eine Vollbremsung hin. Bis jetzt trauen die Unternehmen der Entwicklung nicht, wie die ausgedünnten Investitionspläne signalisieren. Die globalen politischen Krisen, die Sanktionspolitik des Westens, die dilettantisch eingefädelte und kostspielige Energiewende sowie jüngste sozialpolitische Entscheidungen haben eine große Verunsicherung in der Unternehmerschaft hinterlassen. Die Angst vor höheren Belastungen ist überall spürbar. Diese Verunsicherung kann nur aufgebrochen werden, wenn die Bundesregierung durch eine klug eingefädelte Reform- und Steuerpolitik sowie flankierende Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung erkennen lässt, dass sie die Sicherung der ökonomischen Grundlagen nicht ganz aus den Augen verloren hat.

Ein solches Signal ist schon daher überfällig, weil die verbreiteten Prognosen auf eher vergänglichen Grundlagen fußen wie den abgestürzten Ölpreisen. Oder sie wurden durch die EZB-Politik künstlich erzeugt wie der sinkende Euro-Kurs. Ihnen stehen auch große politische und ökonomische Risiken gegenüber. Stichworte sind die Ukraine und die Wahlen in Griechenland mit Implikationen weit in die Eurozone hinein. Das macht es umso wichtiger, die Robustheit der heimischen Wirtschaftsstrukturen zu stärken durch Reformen und Investitionen, was ohne die nötigen Berliner Weichenstellungen nicht passieren wird.

EuGH: Der Blankoscheck

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) einen Blankoscheck ausgestellt bekommen, künftig die Grenzen der Geldpolitik nach eigenem Gusto festlegen zu dürfen. Auch wenn das Plädoyer des Generalanwalts noch kein Richterspruch ist, kann die Notenbank jetzt hinsichtlich unkonventioneller Maßnahmen bis hin zu Anleihekäufen schalten und walten, wie sie möchte. Denn erfahrungsgemäß weicht das in einigen Monaten zu erwartende Urteil kaum vom Plädoyer ab.
Die wenigen „Bedingungen“ des EuGH sind – vielleicht mit Ausnahme der Forderung nach einem Ausscheiden der EZB aus der Troika – windelweich. Sie kann man als Argumentationskosmetik gerichtet an die Adresse der EZB-Kritiker abtun. Denn die Verpflichtung zu mehr Transparenz und mehr Stringenz in der Begründung unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen ist zügig formuliert. Zumal die Richter sich selbst aus der inhaltlichen Prüfung heraushalten wollen, wie sie selber angekündigt haben. Sie fühlen sich nämlich in geldpolitischen Dingen nicht kundig genug, um die Wirkung von EZB-Maßnahmen abschätzen zu können. Bloß komisch, dass sie sich in anderen Rechtsfragen sehr wohl eine Einschätzung zutrauen, die schon oft zu recht umstrittenen Urteilen geführt hat. Zugleich halten sie sich aber für kompetent genug für die Feststellung, dass das OMT-Programm durchaus geeignet sei, den Krisenstaaten die Wiedererlangung „einer gewissen finanziellen Normalität“ zu ermöglichen. Was stellen sie sich bloß unter „Normalität“ vor? Das Aushebeln von Marktmechanismen?

Jetzt liegt es allein beim Bundesverfassungsgericht, den Kulturwandel der Notenbanker von Währungshütern hin zu Fiskalhütern noch zu bremsen. Doch die Möglichkeiten der Karlsruher sind begrenzt. Sie können allenfalls das Handeln der Bundesbank beeinflussen – und die Bundesregierung zu einer Neuverhandlung der EU-Verträge zwingen. Letzteres würde aber angesichts der aktuellen antieuropäischen Strömungen gleich den Bestand der Eurozone aufs Spiel setzen. Es ist deshalb zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht dieses Risiko eingehen würde. Zumal sowohl Vertragsneuverhandlungen als auch die Hinnahme eines unbequemen Urteils wohl aufs Gleiche hinauslaufen: seine Entmachtung. Entweder den deutschen Richtern wird die Oberhoheit der Luxemburger Kollegen vertraglich aufgezwungen, oder sie erkennen sie faktisch an. Die Bundesbank als Institution hat diesen Erkenntnisprozess schon hinter sich.