D-Mark, Drachme, Bitcoins: Ersatzwährungen im Wartestand?

Die deutsch-deutsche Währungsunion vor 25 Jahren hat es gezeigt: Gutes Geld verdrängt schlechtes. Doch wenn ein Land aus der Währungsunion fällt, braucht es Notgeld. Im Kalten Krieg waren die Staaten diesbezüglich vorbereitet.

Deutsche Banknoten

Von Stephan Lorz, Frankfurt

In den Jahrzehnten des Kalten Krieges bis zur deutschen Einigung waren die Notenbanken des Westens und des Ostens auf das Schlimmste gefasst: Sollte der potenzielle Gegner die Wirtschaft durch die massenhafte Infiltration von Falschgeld schwächen, gab es „Ersatzgeld“. Um die damit einhergehende Destabilisierung etwa der D-Mark zu stoppen, hätte die Bundesbank nämlich die laufende Banknotenserie für ungültig erklärt und neue Geldscheine aus einem Vorrat in Umlauf gebracht. Das Notgeld – 15 Mrd. D-Mark in kleinen Scheinen – wurde in einem Bunker unter einem Schulungszentrum der Bundesbank in Cochem gelagert. Der Geldbestand wurde alle drei Monate stichprobenartig kontrolliert. Außer den Bundesbankprüfern durfte niemand den Bunker betreten.

Dass eine gewisse Vorsorge nötig ist, war den Notenbankern aus der Geschichte bekannt. Schon der sowjetrussische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin sagte: „Wer die Kapitalisten vernichten will, muss ihre Währung zerstören.“ Und da die D-Mark im Laufe der fünfziger Jahre bis hin zur Europäischen Währungsunion der ganze Stolz der westdeutschen Nation war, galt sie als potenzielles Angriffsziel geheimdienstlicher Aktionen. Zumal man wusste, dass auch das Hitler-Regime im „Dritten Reich“ in großem Stil Pfund-Noten gefälscht und in Umlauf gebracht hatte.

Auch für den Fall einer neuen Hyperinflation schien eine Ersatzwährung die richtige Vorsorge zu sein. Die Deutschen hatten diesbezüglich ja ihre eigenen Erfahrungen gesammelt und das schier unvorstellbare Leid vor Augen, was sich letztendlich in ihr kollektives Gedächtnis eingebrannt und zu einer ausgeprägten Stabilitätskultur im Hinblick auf die Währungspolitik geführt hat.

Natürlich hatte die damalige DDR ebenfalls vorgesorgt und sogenanntes „Militärgeld“ als Ersatzwährung vorrätig: Alte Scheine wurden – neu gestempelt und überdruckt – in mehreren Depots in Grenznähe sowie in Ost-Berlin untergebracht. Offiziell „zur Verteidigung der Währung“, aber zugleich auch, um sie „in eroberten Gebieten zu verwenden“, wie es laut Bundesbank-Historiker Reinhold Walburg in manchen Dokumenten unverhohlen heißt.

Mit der deutsch-deutschen Währungsunion, die vor bald 25 Jahren am 1. Juli 1990 vollzogen wurde, waren die deutsch-deutschen Ersatzwährungen dann Geschichte. Die Lastwagen der Bundesbank brachten 440 Millionen D-Mark-Scheine in die damals noch existierende DDR. Münzen waren Mangelware, weshalb die im Westen eher weniger genutzten „Fünfer“ als Scheine verstärkt in Umlauf kamen.

Schon damals hatte man angesichts der steigenden Menge an Banknoten Zweifel, dass die nötige Anzahl für eine Ersatzwährung überhaupt herzustellen wäre. Deshalb wurde das Konzept aufgegeben. Man setzte bei der nächsten D-Mark-Serie stattdessen auf eine immer höhere Fälschungssicherheit durch immer neue technische Kniffe.

Auch für den Euro gibt es offiziell keine Ersatzwährung für den Krisenfall. Die Ausgabe neuer, noch fälschungssicherer Noten soll das überflüssig machen. Doch im Falle eines Auseinanderbrechens der Währungsunion oder im Falle des Exits eines Landes, wie er aktuell mit Griechenland droht, wäre man wohl froh, wenn es bereits gedrucktes Notgeld gäbe, das man schnell ersatzweise ausgeben könnte. Vielleicht haben andere Staaten und – konkret – Athen diesbezüglich bereits vorgesorgt. Entsprechende Druckplatten dürfte wohl jede Notenbank im Tresor haben. Hilfsweise müssten existierende Euro-Scheine einfach überstempelt werden, was eine Wertvernichtung darstellen würde, oder alte noch nicht zerstörte Drachmen-Noten würden neu ausgegeben.

Das wäre überflüssig, wenn das digitale Geld schon allumfassend eingesetzt und nutzbar wäre. Bislang mangelt es hier noch an der entsprechenden Ausstattung der Bürger und der Kassen, um via Handy oder Chip den Zahlungsvorgang durchzuführen. Dann genügte schon ein Update der Bankensoftware, um – ähnlich wie auf den Umstellungskonten der DDR-Bürger – den Euro in die Drachme umzumünzen. Die könnte dann sofort im Zahlungsverkehr eingesetzt werden. Für den unbaren Zahlungsverkehr wäre das schon heute kein Problem, aber bei der Barzahlung hapert es eben an entsprechenden physischen Noten.

Doch ob diese Entwicklung tatsächlich so positiv für die Bürger ist, wie es derzeit so manche Ökonomen hinstellen, ist fraglich. Abgesehen davon, dass damit auch der Freiraum der Bürger beschnitten wird, sie von staatlichen Stellen auf Schritt und Tritt erfasst und analysiert werden könnten, würde auch das Vertrauen in die Währung untergraben, wenn das Volk etwa stabilitätsgefährdendem Wirken der Notenbanken nicht mehr entrinnen könnte. Negativzinsen könnten per Tastendruck allumfassend durchgesetzt werden. Wenn das um sich greift, bliebe nur noch die Flucht in eine tatsächlich staatsfreie Währung: Bitcoins. Je mehr Notenbanken staatliche Gefälligkeitspolitik betreiben und durch unkonventionelle Instrumente langfristig die Preisstabilität untergraben, desto eher könnten Bitcoins zu einer echten Alternative und zu einer wahren Ersatzwährung heranreifen.

Kampfansage an Karlsruhe

Das EZB-Urteil des Europäischen Gerichtshofs verändert den Charakter der Währungsunion und untergräbt mittelfristig ihre Stabilität.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) brüskiert und der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Freibrief ausgestellt. Während die Karlsruher Richter die Klagen gegen das an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte OMT-Anleihekaufprogramm der EZB für berechtigt halten und den Tatbestand der monetären Staatsfinanzierung für erfüllt sehen, winken die Europarichter die unkonventionellen Methoden der EZB einfach durch. Sie sind ihrer Meinung nach vom Mandat gedeckt und stellen keine Umgehung des Staatsfinanzierungsverbots dar; zumal Geldpolitik ja stets Einfluss auf Zinssätze und Finanzierungsbedingungen habe und haben müsse. Außerdem haben sie den Notenbankern einen nahezu grenzenlosen Ermessensspielraum gelassen, was noch als Geldpolitik anzusehen ist und wie sie dies in der Öffentlichkeit zu begründen gedenken.

Das EuGH-Urteil ist damit auch eine Kampfansage an das BVerfG, das sich das „letzte Entscheidungsrecht“ in diesem Fall ausbedungen hat. Das BVerfG hat nun zwar die Option, das OMT-Programm als Ultra-Vires-Akt anzusehen, der nicht mehr von den Kompetenzübertragungen des Grundgesetzes gedeckt ist. Sie können in diesem Rahmen die Bundesregierung und die Bundesbank sogar verpflichten, auf einen Stopp des Programms hinzuwirken. Doch außer, dass dies neue Unsicherheiten in ein ohnehin schon wackeliges Währungsgefüge bringen würde, was mit hohen politischen Kosten verbunden wäre, würde sich an der Sachlage ohnehin nichts ändern: Die Bundesbank ist in ihrer kritischen Rolle zu Anleihekäufen bereits jetzt in einer Minderheitenposition innerhalb des EZB-Rats; und die Bundesregierung sieht die erweiterte politische Rolle der Notenbank sogar eher mit Wohlwollen. Denn EZB-Chef Mario Draghi hat zum einen durch sein unkonventionelles Handeln die Eurozone zusammengehalten und kann zum anderen mögliche Ansteckungseffekte im Nachgang zu einem möglichen griechischen Ausscheiden aus der Eurozone durch die jetzt richterlich zertifizierten Anleihekäufe eindämmen. Der Machtanspruch des BVerfG ist verpufft. Der EuGH hat obsiegt.

Der Streit um OMT ist allerdings mehr als eine juristische Auseinandersetzung in der Auslegung des EZB-Mandats, weshalb das BVerfG mit Entschiedenheit die eigene Haltung weiter verteidigen sollte. Letztendlich geht es nämlich um die Entscheidungshoheit über die Tektonik der Währungsgemeinschaft sowie um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Und hier stoßen die Auffassungen von BVerfG/Bundesbank auf der einen und EuGH/EZB auf der anderen Seite aufeinander.

Unter maßgeblich deutschem Einfluss wurde bei der Gründung der Währungsunion nämlich die Eigenverantwortung der Staaten hochgehalten. Das sollte fiskalische Fehlanreize minimieren und die Vergemeinschaftung von Staatsschulden blockieren. Nur unter diesen Vorbedingungen könnte die Stabilität der Eurozone trotz ihrer Unzulänglichkeiten langfristig gewährleistet werden, hieß es. Aber schon in der Vergangenheit wurden entsprechende gesetzliche Bestimmungen uminterpretiert, weil solche Regeln politisch unbequem sind und in vielen EuroLändern andere Rechtstraditionen vorherrschen, die eine politisch flexiblere Herangehensweise stützen. Und in einer Schicksalsgemeinschaft souveräner Staaten wie der Eurozone wirkt die Finanzkraft stärkerer Länder schon seit jeher verführerisch.

So wurde etwa das „Beistandsverbot“ im Maastricht-Vertrag flugs in eine freiwillige Beistandsoption umgedeutet. Von der ständigen Nichteinhaltung der Defizitkriterien ganz zu schweigen. Und wie sich der EuGH in Gesamteuropa Urteil für Urteil von Einschränkungen befreite und damit auch den Charakter der EU veränderte, soll nach dem Dafürhalten der Richter nun auch die EZB flexibler handeln können, um das Vakuum zu füllen, das die Politik hinterlassen hat, weil es dieser an Entscheidungskraft mangelt und eine Euro-Regierung fehlt. Mehr und mehr übernehmen demokratisch allenfalls mittelbar legitimierte Institutionen die Geschäftsführung Europas. Schon das wäre alle Kraft wert, dagegen aufzubegehren, weshalb das BVerfG und die Bundesbank aufgefordert bleiben, ihren Widerstand gegen eine so verstandene Währungsunion zu verstärken – auch auf die Gefahr hin, dass es zu einer Verfassungskrise kommt. Schließlich ist noch nicht klar, ob der Freibrief für die EZB die Währungsunion tatsächlich stabilisiert. Womöglich werden dadurch nur die Fliehkräfte gestärkt, die mittelfristig zu einem Zerfall der Eurozone führen.

Die Beißhemmung der Athener Regierung

Der mangelnde Einigungswille von Tsipras & Co. zeigt sich nicht im Widerstand gegen Rentenkürzungen sondern in seinem Umgang mit den Vermögenden

In der hitzigen Debatte über den fehlenden Reformeifer Athens kommt es im Hinblick auf die vorgetragenen „Fakten“ immer wieder zur Konfusion. Zuletzt machte die Aussage die Runde, dass „die Griechen“ bereits mit 56,3 Jahren in Rente gingen. Dafür hätten die Steuerzahler anderer Länder, die das finanzieren müssten, überhaupt kein Verständnis.

 

GriechenlandNun taucht die Zahl tatsächlich in einigen Dokumenten auf, bezieht sich aber auf das Rentenzugangsalter von Staatsdienern. Das liegt auch in anderen Ländern niedriger als das allgemeine Rentenzugangsalter – nach all den von den Gläubigern Griechenlands geforderten Kürzungen hätte man aber erwarten können, dass auch dieses deutlich angehoben wurde. Das ist nicht der Fall.

Was das durchschnittliche Rentenzugangsalter in Griechenland angeht, so liegt es mit 61,9 Jahren gar nicht so weit entfernt von dem in Deutschland – aber mit dem Unterschied, dass man auch hier angesichts der Lasten, welche den Steuerzahlern in den Gläubigerstaaten auferlegt werden, als Gegenleistung ein höheres Alter erwartet hätte. In den der Troika vorgelegten griechischen Dokumenten ist gar nur von einem Renteneintrittsalter von 60,6 Jahren die Rede, was schrittweise bis 2020 auf 63,1 Jahren erhöht werden soll.

Die Statistiken der Industrieländerorganisation OECD, auf denen die Vergleiche beruhen, zeigen aber auch, dass das Durchschnittseinkommen der Rentner trotz der Krise vergleichsweise hoch liegt – höher etwa als in Polen, Ungarn oder Estland.

Dass die Armutsquote in Hellas trotzdem größer ist als in jenen Ländern, zeigt, wo das Grundproblem in Griechenland zu suchen ist: in der dramatischen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Insofern widersprechen sich die in der Öffentlichkeit immer wieder gegeneinander ausgespielten Positionen: Auf der einen Seite die Bilder eines Armenhauses, in dem die medizinische Versorgung Dritte-Welt-Niveau erreicht hat und Hilfsorganisationen gerade noch eine Hungersnot verhindern. Und auf der anderen Seite die enorme Kapitalflucht der Vermögenden. Nach Berechnungen des Ifo-Instituts sind inzwischen 99 Mrd. Euro per Überweisung von griechischen Privatkonten abgeflossen, 43 Mrd. wurden in bar ins Ausland gebracht. Das entspricht 79 % des BIP von 2014. Laut griechischen Medienberichten hoben die Griechen allein vom 3. bis zum 5. Juni mehr als 1,2 Mrd. Euro von ihren Konten ab.

Es ist jene Doppelmoral Athens, welche die Steuerzahler der Gläubigerländer zur Zeit in Rage bringt: Auf der einen Seite wird Geld gefordert, damit der Staatssektor sich wieder aufplustern und die Löhne anheben kann. Auf der anderen Seite tut aber eine sozialistisch-kommunistisch geprägte Regierung nichts, um zunächst die Vermögenden des eigenen Landes stärker zur Steuerzahlung heranzuziehen. Vielmehr werden – wie die Reedereien – ganze Sektoren quasi steuerfrei gestellt. Die Beißhemmung der Regierungspartei Syriza unterscheidet sich da in keinster Weise von der Beißhemmung ihrer Vorgängerregierungen

Arbeitskampf zwischen Tradition und Moderne

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen wegen des digitalen Wandels neue Strukturen zur Finanzierung des Sozialstaats finden.

 

Leere Briefkästen, keine Pakete – Briefträger und Zusteller hatten in den vergangenen Tagen immer wieder gestreikt. Nicht die ganze Branche, sondern viele Mitarbeiter der Post AG, des ehemaligen Monopolisten. Sie wenden sich gegen die Gründung von 49 Regionalgesellschaften, in denen die Konzernspitze günstigere Lohntarife durchdrücken und damit die Arbeitskosten senken möchte. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert zudem für die 140 000 Tarifbeschäftigten 5,5 % mehr Lohn und eine Arbeitszeitverkürzung von 38,5 auf 36 Stunden bei vollem Lohnausgleich.

Der Konzern verweigerte diese Zugeständnisse bislang und scheint auch in den aktuell laufenden Tarifverhandlungen hart zu bleiben, weil er befürchtet, ansonsten im Wettbewerb auf der Strecke zu bleiben. Denn die Zustellkonkurrenten müssen nicht so hohe Löhne wie die Post AG zahlen, weil sie die niedrigeren Tariftabellen der Speditions- und Logistikbranche heranziehen können, günstigere Verträge mit Unterauftragnehmern abgeschlossen haben oder weitgehend auf den Einsatz von „Selbständigen“ bauen. Der Druck auf die Löhne wird auch deshalb immer größer, weil die Kunden durch Internetvergleiche angespornt auf immer niedrigere Zustellpreise dringen und die Unternehmen immer wieder zu Sparrunden zwingen.

Zustellung auf Fingerdruck

Szenenwechsel: Die Kaffeehauskette Starbucks hat unlängst einen Vertrag mit Postmates abgeschlossen, einem Start-up aus den USA. Per App im Smartphone sollen Kunden von Starbucks künftig ihren Kaffee bestellen können. Der wird dann per Fahrradkurier noch heiß dampfend zugestellt. Um die Kosten im Rahmen zu halten, wählt ein Algorithmus jenen Kurier aus, der am nächsten dran und günstig ist. Was für den Kaffee gilt, wird bereits auf viele andere Produkte ausgeweitet. Amazon experimentiert derzeit etwa mit der Zustellung per Kurier via U-Bahn und Apple will offenbar ebenfalls mit Postmates zusammenarbeiten. Die Grenzen auf dem Logistiksektor verschwimmen zusehends.

Der Markt wächst, aber das heißt nicht, dass nun für die Zusteller selbst goldene Zeiten anbrechen. Die Gewerkschaften registrieren, dass die Arbeitsbedingungen eher immer prekärer werden. Denn bei den neuen Jobs im Zustellgewerbe handelt es sich meist um Niedriglohnarbeitsplätze. Das Salär für den Kurier reicht oft nicht zum Leben, stellt allenfalls ein schönes Zubrot für Schüler, Studenten und Arbeitslose dar. Tarifverträge, wie sie derzeit beim Poststreik im Fokus stehen, sind für die neuen Wettbewerber ein Fremdwort. Gewerkschaften, die streiken und die Löhne nach oben drücken könnten, gibt es auch nicht. Denn die Beschäftigten sind quasi selbständig und werden nur auf Zuruf eingesetzt.

Gewerkschaften unter Druck

Sieht so der Arbeitsmarkt der Zukunft aus? Haben die Gewerkschaften bereits verloren, weil der bisherige Status wegen des Strukturwandels nicht mehr zu halten ist? Ist die aktuelle Tarifauseinandersetzung bei der Post also nur noch ein Rückzugsgefecht? Denn wie der Fahrtenvermittlerdienst Uber das Geschäftsmodell des Taxigewerbes in Frage stellt und der Wohnungsmietservice AirBnB das der Hotellerie, werden auch auf dem Logistikmarkt digitale Techniken eingesetzt, um neue Angebote zu schneidern, die der alten Ordnung zuwiderlaufen.

Ökonomen feiern dies als Siegeszug des Marktes gegen die Regulierung und staatliche Bevormundung. Die Jünger der über die Smartphones wiederauferstandenen „New Economy“ sprechen lieber von der Befreiung der Menschen, von einem Sieg der Selbstbestimmung gegen die Inkarnation der Gängelung.

Dabei haben sie aber wohl eher die Kunden im Blick. Denn sie sind es, die ihre Wünsche via Mausklick und Fingerdruck tatsächlich schneller wahr werden lassen können als früher und obendrein in der Lage sind, so günstig wie nie Logistikdienste zu buchen.

Die Zusteller, welche die im Netz bestellten Dienstleistungen dann in die reale Welt umsetzen, können von dieser Entwicklung am wenigsten profitieren. Denn die Konkurrenz ist groß. Gewerkschaften warnen vor einem „race to the bottom“ bei den Löhnen. Arbeitnehmer ohne Ausbildung scheinen die Verlierer zu sein: Einfache Jobs nehmen zahlenmäßig zwar zu, aber die Bezahlung sackt weiter ab.

Auch der Staat steht dieser Entwicklung zunehmend skeptisch gegenüber. Denn zum einen funktioniert dieses Geschäftsmodell oft nur so lange, wie auch die Löhne der Zusteller und Kuriere, der Chauffeur- und Taxidienste niedrig genug sind, um das feinmaschige und hochverfügbare Transportnetzwerk auch rentabel betreiben zu können. Und das funktioniert zum anderen oft nur, weil die Auftragnehmer keine oder wenig Steuern zahlen bzw. gar nicht oder kaum zur Finanzierung des Sozialsystems beitragen.

Die Belastung der Sozialsysteme nimmt womöglich sogar noch zu, weil die via Smartphone geflochtenen Zustellnetze darauf bauen, dass jene Teilnehmer, die als Kuriere in Betracht kommen, ihren Lebensunterhalt gegebenenfalls mit ergänzender Sozialhilfe aufstocken. Das geht aber nur so lange gut, wie der Staat diese Leistung noch finanzieren kann. Denn der Wandel in der Arbeitswelt ist ja nicht allein auf das Transport- und Zustellgewerbe beschränkt. Viel hängt also davon ab, ob mit den neuen Jobs die Menschen tatsächlich aus der Arbeitslosigkeit geholt und so die Sozialsysteme sogar entlastet werden oder ob der Niedriglohnsektor sich tatsächlich dramatisch ausweitet, weil die neuen Technologien keinen Mittelbau mehr benötigen, wie dies manche Arbeitsmarktforscher prophezeien. Dann würde die Finanzkraft des Staates und der Sozialversicherungen erodieren.

Wie auf allen Märkten müssen aber ordnungspolitische Elemente zumindest dafür sorgen, dass der Wettbewerb fair abläuft und nicht auf Kosten Dritter wie dem Staat stattfindet. Und dabei geht es auch um die Klärung der Frage, ob auf dem Arbeitsmarkt die Marktkräfte tatsächlich frei walten dürfen oder wegen dessen Besonderheiten gewissen Beschränkungen unterworfen werden müssen. Das ist eine Frage des Menschenbilds, aber auch eine des Vertrauens in die wachstumssteigernde Kraft von Wettbewerb, auf der unsere Volkswirtschaft basiert.

Bislang hat mehr Arbeitsmarktflexibilität immer dazu geführt, dass Strukturwandel ermöglicht und unter dem Strich mehr Beschäftigung geschaffen als vernichtet worden ist – auch wenn es subjektiv oft anders wahrgenommen wird. Ob dies in der digitalen Wirtschaft noch so gilt, muss erst untersucht werden.

Fiskalische Basis erodiert

Womöglich haben wir es auch nur mit Übergangsproblemen bei der Metamorphose in die Digital-Ökonomie zu tun, und es bildet sich schon bald ein neues Gleichgewicht heraus: Die Löhne steigen, und zugleich wächst die Zahl der Arbeitsplätze. Alle Marktteilnehmer – auch der Staat – wären dann zufrieden.

Aber zuvor müssen die Besteuerungsstrukturen und das Sozialsystem noch auf die veränderten Bedingungen einer Netzwerkökonomie angepasst werden, in der es keine Grenzen mehr gibt, das Besteuerungssubstrat nur noch aus Datenströmen besteht und Unternehmen sowie ihre Mitarbeiter virtuell um den Globus vagabundieren. Das spricht für die Umgestaltung unserer fiskalischen Basis in ein Konsumsteuersystem, wie es in einigen Modellen bereits existiert. Zudem müssten die Bedingungen für alle in- und ausländischen Anbieter vergleichbar ausgestaltet sein, was etwa in internationalen Vereinbarungen wie einer transatlantischen Freihandelszone (TTIP) geregelt werden könnte.

Der Politik bei der Gestaltung neuer, innovativer Finanzierungsmodelle für staatliche Angebote behilflich zu sein wäre auch eine noble Geste gerade von jenen Konzernen, die vom bisherigen Regelungsvakuum profitieren. Nicht zuletzt deshalb, weil sich der Staat mit Blick auf seine fiskalischen Grundlagen und des sozialen Friedens ohnehin zu einer Gegenreaktion herausgefordert fühlen dürfte und eingreifen wird. Der Taxi-Dienstleister Uber hat das erkannt und sein neues Angebot bereits in einigen Bereichen regulierungskompatibel gemacht.

Es ist auch deshalb im Eigeninteresse der digitalen Wirtschaft, die Politik beim Strukturwandel zu unterstützen, weil die Unternehmen auf den Wohlstand der Menschen angewiesen sind, die als Kunden ihre Angebote wahrnehmen und finanzieren. Eine Verarmung breiter Schichten und die Herausbildung eines digitalen Proletariats würde nur zu noch größeren Lasten führen, die Nachfrage einbrechen und den Unternehmenswert erodieren lassen – von anderen negativen Folgen etwa im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung ganz zu schweigen.

Steuerreform forcieren

Insofern ist die Auseinandersetzung bei der Post zwar noch kein Stellvertreterkrieg zwischen den Kräften der Tradition und jenen der Moderne, aber sie hinterlässt einen ersten Eindruck von den Problemfeldern. Die Entwicklung zeigt, dass die neuen digitalen Dienstleistungsangebote zudem einen immer größeren Raum einnehmen werden. Darauf müssen der Fiskus und die Politik zügig reagieren, um das Heft des Handelns noch in der Hand zu behalten. Der aktuelle Tarifstreit sollte daher zum Anlass genommen werden, eine ohnehin notwendige Fortentwicklung der Marktwirtschaft, des Steuer- und Beitragssystems und des Arbeitsmarkts zu forcieren.

Fauxpas der EZB

IMG-20130806-WA0011_edit1Um Insidergeschäfte zu verhindern und weil sie eine öffentliche, demokratisch zu  kontrollierende Einrichtung ist, darf die EZB Medien künftig nicht mehr von Veranstaltungen fernhalten.

 

Da verschafft EZB-Direktor Benoît Coeuré einigen Marktakteuren das Geschäft ihres Lebens, weil er in einer geschlossenen Veranstaltung verkündet, dass die Notenbank vor der Sommerpause verstärkt Anleihen aufkaufen wird, um im Hochsommer bei einem dann ausgedünnten Markt etwas zurückhaltender zu agieren, doch offenbar ist die EZB der Ansicht, dass dafür die Journalisten büßen müssen.

Zumindest hat es diesen Anschein, da die Notenbank just am gestrigen Donnerstag verkündete, dass die Presse künftig nicht mehr vorab gegen Sperrfrist die Reden wichtiger EZB-Akteure erhalten darf. Zwar weisen die Währungshüter die Unterstellung von sich, das sei eine Reaktion auf den Fauxpas von Coeuré. Die Änderung habe man seit Monaten debattiert, weil über soziale Netzwerke Informationen vor Ablauf der Sperrfrist veröffentlicht worden seien. Doch der Zeitpunkt überrascht schon – nur zwei Tage nach dem Kommunikationsdebakel.

Dabei ist die Verteilung von Reden gegen Sperrfrist eine von Zentralbanken seit Jahren geübte Praxis, um gerade sicherzustellen, dass Medien zeitgleich über EZB-Äußerungen berichten. Kein Marktteilnehmer, der sich zufällig auf der dazugehörigen Veranstaltung befindet, soll einen Informationsvorsprung haben. Wie sich aber gezeigt hat, ist der Bruch von Sperrfristen eher das geringere Problem der Notenbank, ein größeres sind vielmehr unbedachte Äußerungen ihres Spitzenpersonals. Oder Kommunikationspannen, wie im aktuellen Fall, weil die Rede erst am nächsten Morgen veröffentlicht wurde. Die Verantwortlichen in der Notenbank sollten sich also an die eigene Nase fassen. Auch der US-Notenbank Fed ist unlängst eine solche Panne unterlaufen, als sie eine Mail versehentlich vorab an Wall-Street-Banken verschickt hatte und es zu Kursreaktionen gekommen war.

Pikant ist zudem, dass Coeuré an jenem Montag in London die Rede in einer geschlossenen Veranstaltung gerade vor Marktteilnehmern wie Hedgefondsmanagern gehalten hatte, deren Umtriebigkeit ja durchaus bekannt ist. Medien waren übrigens nicht zugelassen. Schon während der Veranstaltung ging der Euro zum Dollar auf Talfahrt – moderne Medien machen es möglich. Will man Insiderverstöße verhindern, darf die Öffentlichkeit künftig von keinem EZB-Auftritt mehr ausgesperrt werden.

Monetäre Brachialreparatur

Was nicht passt, wird passend gemacht. Gehen Handwerker auf diese Weise etwa bei der Reparatur eines Geschirrspülers vor, ist das Ergebnis absehbar: Zwar läuft das Gerät dann wieder eine gewisse Zeit, doch nach kurzer Zeit ist nicht nur ein Bauteil defekt, sondern der ganze Geschirrspüler muss verschrottet werden. Eine solche Brachialreparatur unseres Geldwesens scheint auch so manchem Ökonomen vorzuschweben. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat zuletzt – wie einige US-Wissenschaftler vor ihm – die Abschaffung des Bargelds gefordert. Denn die Notenbanken stoßen mit ihrer unkonventionelle Geldpolitik auf eine untere Grenze: Das Bargeld verhindert die Durchsetzung der Negativzinsen. Und weil die Politik des Quantitative Easing (QE) nicht so recht funktioniert, die Investitionen nicht anspringen und die Inflation nur zögerlich anzieht, die Realität also schlicht nicht zu den monetären Modellwelten passt, sollen nun die Rahmenbedingungen verändert werden. Das Bargeld muss weichen – und damit auch das letzte Refugium des freien Wirtschaftsbürgers.

An der Investitionsschwäche beißt sich die Notenbank die Zähne aus

InvesstitionsschwaecheFür viele Finanzmarktbeobachter ist es ein großes Mysterium: Da sinken die Zinsen nahe an oder sogar unter die Nullgrenze, die Gewinne der Unternehmen sprudeln, ihre Finanzierungsspielräume wachsen, die Notenbank stimuliert Banken zudem mit diversen Aufkaufprogrammen sogar zu wieder etwas risikoreicheren Engagements in der Realwirtschaft – aber bei den Investitionen tut sich kaum etwas. Die Klage über eine allgemeine Investitionsschwäche wird eher lauter, es ertönt der Ruf nach dem Staat, der mit höheren Ausgaben der Privatwirtschaft Impulse geben müsse. Vor allem in Deutschland reiben sich viele die Augen, weil hier im Gegensatz zu manchen Euro-Ländern das Wirtschaftswachstum seit Jahren robust ist – und trotzdem wird zu wenig investiert.

Tatsächlich hat die Investitionsbereitschaft der Unternehmen deutlich nachgelassen. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt die nominale Investitionsquote noch bei knapp 20<ET>%. Um die Jahrtausendwende waren es 23<ET>%. Auch wenn im Ausland eine Investitionsschwäche ebenfalls nachweisbar ist, hat sie sich in Deutschland doch viel stärker niedergeschlagen (siehe Grafik). Die Nettoanlageninvestitionen sind auf rund 2<ET>% zurückgefallen – ein Niveau, auf dem der Erhalt des Kapitalstocks nicht mehr zu gewährleisten ist. Gerade vor dem Hintergrund des Wandels zur digitalen Wirtschaft ist diese Entwicklung noch viel dramatischer, als es die reinen Investitionsdaten veranschaulichen.

Fast scheint es, als würden die bisherigen ökonomischen Zusammenhänge nicht mehr gelten. „Die alten Geldmultiplikatoren passen nicht mehr“, wundert sich etwa der Chefvolkswirt der Berenberg Bank Holger Schmieding auf einer Tagung des „Monetären Workshops“. Haushalte und Unternehmen trauten sich offenbar nicht, die außerordentlich guten Finanzierungsbedingungen zu nutzen, um in ein zweites Haus oder in neue Maschinen zu investieren. Hat sich die Makroökonomie der Notenbanker zu wenig um die Mikroökonomie in den Unternehmen gekümmert? Ist die ökonomische und politische Unsicherheit gar so groß, dass selbst niedrigste Zinsen zu keiner Investitionsidee verleiten? Oder fehlt es schlicht an solchen Ideen?

Folgen der Finanzkrise?

Letzteres vermuten einige Ökonomen, die eine „säkulare Stagnation“ der Volkswirtschaften vermuten, einen Zustand zu hoher Sparvolumina und strukturell zu geringer Investitionen, der das Wachstum langfristig zum Erliegen bringt. Doch es deutet vieles darauf hin, dass es sich bei der beobachteten Entwicklung „nur“ um eine Folgewirkung der jüngsten Finanzkrise und tiefen Rezession handelt. Die Stagnation sei das Resultat der Aufarbeitung früherer Exzesse, ist sich der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters Flossbach von Storch, Thomas Mayer, sicher. Entscheidender Wachstumstreiber sei „der Wille zum Investieren“. Und der sei in der derzeitigen Situation, da die Staaten und der Privatsektor nach wie vor eine dramatisch hohe Verschuldung aufweisen, da der Regulator obendrein die Daumenschrauben für Banken immer weiter anzieht, um künftige Auswüchse zu vermeiden, und da zusätzlich politische Unsicherheiten um sich greifen, eben nicht gerade ausgeprägt.

Allerdings stellt sich vor diesem Hintergrund auch die Frage, ob die Notenbank mit den Anleihekäufen dann tatsächlich das richtige Instrumentarium angewandt hat, wie sie immer behauptet. Den EZB-Ökonomen muss die schwierige Investitionslage ja bewusst gewesen sein. Das wirft die Frage auf, ob mit den Anleihekäufen – neben der Währungsabschwächung – womöglich eher ein Ziel außerhalb des Mandats angepeilt worden ist: die Entlastung der Staatsfinanzen.

Ob die jüngsten Finanzdaten der Europäischen Zentralbank (EZB), wonach die Banken erstmals seit 2012 wieder mehr Kredite an den Privatsektor vergeben haben, bereits die Wende signalisieren, ist indessen fraglich. Die Entwicklung ist noch instabil. Jahre der Kreditversagung haben zudem ihre Spuren im Kapitalstock der Volkswirtschaften hinterlassen. Der Maschinenpark ist veraltet, was schon allein das Wachstum drückt. Deutsche Investoren weichen zudem lieber in andere Länder aus, wo stabilere und renditeträchtigere Bedingungen herrschen, wie die Transferbilanz nahelegt.

Obwohl in Deutschland die Kreditbedingungen im Vergleich zu anderen Euro-Staaten geradezu paradiesisch anmuten, haben aber auch hier die Unternehmen oft Probleme, wie Ralf Brunkow, Treasurer bei der Braunschweiger Nordzucker AG, schildert. Banken würden zwar Kredit geben, aber oft nicht für längere Laufzeiten – zumindest weit unterhalb der Investitionsperspektive. Auf dieser Basis sei es dann schwer, das Risiko der Investition abzuschätzen.

Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim hat einen weiteren Investitionskiller in Deutschland ausgemacht: Realinvestitionen würden nach wie vor gegenüber Finanzinvestitionen steuerlich benachteiligt. Die erwartete Rendite müsste hierzulande schon um etwa 1,5 Prozentpunkte höher liegen als eine Kapitalmarktverzinsung mit ähnlichem Risikoprofil. Unternehmenspraktiker verweisen zudem darauf, dass die Niedrigzinspolitik auch negative Folgen für sie hat, etwa bei Pensionsrückstellungen. Folge: Die Personalkosten steigen. Können diese nicht auf den Preis der Produkte oder Dienstleistungen abgewälzt werden, seien Investitionen auch bei niedrigen Kapitalkostenansätzen immer weniger rentabel.

Wird nun die politische Verunsicherung durch die Ukraine-Krise und einen möglichen Euro-Austritt Griechenlands (Grexit) als Verunsicherungsfaktor hinzugerechnet und nimmt man eine demografische Perspektive ein, werden die Probleme eher noch größer. Deshalb braucht man sich über die Investitionszurückhaltung der Privatwirtschaft in Deutschland und vielen anderen Euro-Ländern gar nicht wundern. Die KfW hat in ihrer Mittelstandsumfrage bereits die mannigfachen Facetten der demografischen Investitionsbelastungen (Facharbeitermangel, ältere, weniger investitionsfreudige Unternehmenschefs, ungeklärte Unternehmensnachfolge, schwaches Wachstum) benannt und die Politik zum Handeln aufgefordert.

Glaubwürdigkeit der EZB

Auch die EZB muss nun feststellen, dass ihr immer fulminanter eingesetztes geldpolitisches Instrumentarium ohne eine abgestimmte Reaktion der Wirtschaftspolitik ins Leere läuft, was wiederum die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, wovor der diesjährige Preisträger des „Monetären Workshops“, der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Ernst Baltensperger, schon länger warnt. Und auch so mancher Ökonom, der die EZB gern in eine stärker wirtschaftspolitische Rolle manövrieren möchte und in den Notenbanken eine Art Clearinghouse der Volkswirtschaft sieht, muss sich wohl neu orientieren.

Das Kanzleramt im digitalen „Neuland“

Es ist ein verstörendes Bild, welches das Kanzleramt in der neuen BND-Affäre abgibt. Da werden Vorwürfe laut, dass der US-Geheimdienst NSA in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) womöglich nicht nur nach Terroristen gefahndet, sondern auch vertrauliche Informationen von europäischen Spitzenunternehmen abgeschöpft hat, doch mehr als Beschwichtigungen und Aufklärungsbekundungen sind der deutschen Staatsführung nicht zu entlocken. BND-Chef Gerhard Schindler bestreitet pauschal, dass sein Dienst Landesverrat begangen habe. Doch inhaltlich entkräftet er die Vorwürfe nicht, dass die im Auftrag der NSA durchsuchten europäischen Kommunikationsdaten auch Schlüsselbegriffe aus Politik und Wirtschaft enthalten haben könnten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel? Sie scheint von der Affäre seltsam unbeeindruckt. Dabei hatte sie in ihrem Amtseid versprochen, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Schlimmer: Es scheint fast so, als würden alle Aufklärungsbemühungen eher noch torpediert und allerlei Nebelkerzen gezündet, um die Öffentlichkeit in die Irre zu leiten.

Dabei hätten die Erkenntnisse, welche die US-Geheimdienste aus der Zusammenarbeit mit dem BND erhalten haben könnten, allemal das Zeug, Deutschland massiv zu schaden. Zumal sich die europäische Wirtschaft derzeit in einer heiklen Phase befindet, weil sie gerade dabei ist, mit ihrem Konzept der „Industrie 4.0“ und einer „europäischen Cloud“ den US-Digitalkonzernen Paroli zu bieten. Den Kampf bei digitalen Standardprogrammen, um die Dominanz bei den Suchmaschinen und um den Einfluss der sozialen Netze hat sie bereits verloren. Dass die US-Verhandlungsführer bei den Gesprächen über eine transatlantische Freihandelszone (TTIP) auf der Basis der digitalen Spähfrüchte obendrein besser taktieren könnten, um die künftigen Marktbedingungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, erscheint ebenfalls naheliegend – und ist zutiefst verstörend.

Terrorabwehr oder Spionage?

Schon 2013, als Edward Snowden das ganze Ausmaß der US-Spitzeltätigkeit offenbarte, irritierte der erstaunlich naive Umgang der Bundesregierung mit der NSA. Man ließ sich abspeisen mit vagen Beteuerungen, deutschen Staatsbürgern nicht nachstellen zu wollen. Alles geschehe nur zur Terrorabwehr. Schon bald erklärte etwa der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) die NSA-Affäre für beendet. Selbst als im Monat darauf Informationen auftauchten, wonach sogar das Handy der Bundeskanzlerin abgehört wurde, brachte das Berlin nur kurz aus seiner transatlantischen Ruhe. Man schien der Zusicherung zu glauben, dass das Telefon fortan nicht mehr in die Zielfahndung aufgenommen wird. Die Bundeskanzlerin hakte das Thema ab. An weiterer Aufklärung schien die Bundesregierung schon damals nicht interessiert zu sein. Dem NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag wurden Mitgliedern zufolge vielmehr immer wieder Hürden in den Weg gelegt. Auch die Öffentlichkeit scheint aktiv getäuscht worden zu sein, als man ihr vorgaukelte, mit den USA sei ein No-Spy-Abkommen in Reichweite. Dabei hatten die Amerikaner, wie sich jetzt zeigte, von vornherein ein solches ausgeschlossen. Wie verträgt sich ein solches Verhalten mit dem Auftrag der Bundesregierung, diesem Land zu dienen?

Und nun die Nachricht, wonach der BND entweder von der NSA hintergangen wurde oder sich ihr als Helfershelfer angedient haben soll, um den deutschen und europäischen Datenpool anzuzapfen. Das wäre in beiden Fällen ein Skandal. Ist Industriespionage also nur eine Art Beifang der – durchaus notwendigen und auch geheimdienstlich anzugehenden – Terrorismusabwehr? Oder wird sie bewusst eingesetzt, wie Snowden anhand des ihm zugänglichen Datenmaterials behauptet hat?

Die Beißhemmung der Bundesregierung ist vor diesem Hintergrund zutiefst beunruhigend. Geht es ihr nur darum, die transatlantische Wertegemeinschaft mit den USA, wie sie bei den TTIP-Verhandlungen so oft beschworen wird, vor unliebsamen Kritikern zu schützen? Dann müsste man fragen, was die Amerikaner unter diesen Werten verstehen, wenn sie in Europa offenbar so agieren, als ob es sich bei Deutschen, Belgiern und Franzosen nur um Vasallen handelte? Oder hat die Bundesregierung schlicht ihre „Dienste“ nicht im Griff? Dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für die Ankündigung einer Geheimdienstreform. Die aber scheint nicht in Sicht.

Bleibt noch die letzte Erklärungsvariante: Naivität und Unbedarftheit im Hinblick auf die digitalen Herausforderungen unserer Zeit. Offenbar sind Internet, Industrie 4.0 und Cyberwar für die Merkelsche Regierungsmannschaft immer noch „Neuland“, weshalb man die Brisanz der Affäre und ihre Folgen für Deutschland nicht einmal im Ansatz zu erkennen scheint. Diese Erklärung liegt insofern nahe, als sich auch die deutsche Bevölkerung seltsam naiv anstellt, wenn es um den Datenschutz geht. Zwar äußern die Bürger in Umfragen stets ihren Unmut über die Ausspähversuche von NSA und BND, den Googles, Amazons & Co. geben sie aber ganz freiwillig viel tiefere Einblicke in ihr Leben.

Kampf um den Cyberspace

Politik und Gesellschaft in Deutschland scheinen nicht verstanden zu haben, dass sich in der digitalen Welt die Spielregeln geändert haben. Dabei entscheiden die informationstechnischen Fähigkeiten von Institutionen, Unternehmen und Bürgern künftig über die ökonomische Zukunft der ganzen Nation. Der in den Programmen und Maschinen niedergelegte Digitalcode ist die DNA für Wachstum und Wohlstand. Unsere Unternehmen sind inzwischen hochgradig abhängig vom digitalen Informationsfluss, so dass der Spionageabwehr auf diesem Feld allerhöchste Bedeutung zukommen müsste.

Nach den Snowdenschen Veröffentlichungen hätte man eigentlich erwarten müssen, dass die Bundesregierung sich an die Spitze einer Bewegung setzt, um den Datenschutz zu stärken. Deutschland und Europa hätten zum Mekka für digitale Sicherheitsprodukte werden können. Wenn aber nun der BND der NSA irgendwie behilflich ist (oder sich hat übertölpeln lassen), in die nationalen Netzwerke einzudringen, wird das Vertrauen in die Unversehrtheit der heimischen Produkte erschüttert. Ist den am Markt befindlichen und regierungsamtlich abgesegneten Sicherheitslösungen überhaupt noch zu trauen? Vielleicht ist ja doch eine Hintertür für die NSA eingebaut? Die deutsche Wirtschaft ist also ganz auf sich allein gestellt – ein großer Wettbewerbsnachteil gegenüber den US-Konzernen.

Fast scheint es so, als ob die Bundesregierung aus klassischen sicherheitspolitischen Erwägungen die USA schont, weil man US-Unterstützung benötigt, um den russischen hegemonialen Ambitionen glaubwürdig entgegentreten zu können. Das ist zwar ebenfalls ökonomisch von Belang, weil es hier auch um die Sicherung westlicher Märkte geht, bloß wird dabei vergessen, dass im Schatten des Konflikts mit Moskau andernorts bereits um die Märkte von morgen gekämpft wird. Es geht um die Standards und Marktzugänge von Konzernen, welche die Ambitionen haben, den globalen digitalen Markt zu dominieren. Und im Cyberspace sind die Interessensphären offenbar nicht nach dem klassischen Ost-West-Schema ausgerichtet.

Die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts

In den Fabrikhallen agieren die Roboter immer häufiger nicht mehr in Käfigen, sondern als blecherner Kollege nebenan im Direktkontakt mit dem „Humankapital“. Programmierte Rücksichtnahme und eine bessere Sensorik machen das möglich. Sie gehen den Menschen zur Hand. Manchmal bestimmen sie auch den Takt. Die Daten landen dabei in einer Datenwolke. Dort findet sich dann das Erfahrungswissen der Ingenieure und Produktionsarbeiter wieder, sogar ihre Stärken und Schwächen sowie die Vorlieben einzelner Kollegen sind dort niedergelegt, was künftiges Handeln berechenbar macht.

Auch außerhalb der Produktion gibt es immer neue Anwendungsfelder für die Rechenknechte vom Vertrieb bis hin zum Kundenservice. Algorithmen bestimmen mehr und mehr die Arbeitswelt – aber auch die Freizeit. Sie regeln die häusliche Heizung, rufen den Arzt an, wenn der Puls unregelmäßig wird. Das Internet der Dinge nimmt Gestalt an. Studien sagen voraus, dass in wenigen Jahrzehnten die Hälfte aller Berufe automatisiert – also: verschwunden – sein wird. Doch sind diesmal nicht mehr nur die einfachen Tätigkeiten betroffen wie zu Zeiten der ersten Automatisierungswelle, sondern Jobs aus der Mitte der Gesellschaft: die der Fach- und Geistesarbeiter.

Ob die Entwicklung zu einer neuen Welle der Massenarbeitslosigkeit führt oder die menschliche Arbeit vielmehr „humaner“ macht, ob die pekuniäre Ungleichheit in der Gesellschaft dadurch weiter befördert oder eher eingeebnet wird oder ob die Sozialsysteme für diesen Wandel gewappnet sind oder der Staat einspringen muss – das ist inzwischen nicht mehr nur eine Debatte in elitären Zirkeln, sondern beschäftigt immer mehr auch die Politik und die Tarifparteien wie am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion der Rhein-Main-Runde im Haus der IG Metall.

Alles, was routiniert-buchhalterisch abläuft, wird verschwinden, prophezeite der Münchner Wissenschaftsphilosoph Klaus Mainzer. Und je mehr Daten produziert würden und je weiter die Programmierer in Neuland vorstießen, desto mehr Ansatzpunkte fänden Algorithmen, um aus der amorphen Datenmasse Datenmuster und Korrelationen herauszufiltern für den Ersatz menschlicher Tätigkeit. Automatisierungsfest, so Frank Rieger vom Chaos Computer Club, dürften allenfalls die Berufe Manager, Programmierer und Konstrukteure sein, also die bestimmenden und kreativen Tätigkeiten. Selbst Erfahrungswissen, das bisher gerade längerfristig Beschäftigte auszeichnet, sei inzwischen digitalisiert und damit mobil geworden. Der menschliche Faktor wird in immer weiteren Teilen austauschbar, was auch die Machtposition der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt verfestigen dürfte.

Digitales Prekariat

Rieger geht davon aus, dass zudem eine Entkoppelung der Produktivitätsentwicklung von der menschlichen Arbeit stattfindet. Ein immer größerer Teil der Wertschöpfung werde vom „Kapital“ erzeugt und damit auch als Ertrag vereinnahmt. Das drücke die Löhne, was die Finanzierung der Sozialsysteme immer schwieriger mache, je größer das „digitale Prekariat“ werde und je weniger vollwertige Arbeitsplätze angeboten würden. Die Jobs würden ferner dem jeweils günstigsten Anbietern rund um den Globus zugeschlagen. Die Billiglohnkonkurrenz tritt damit in eine neue Dimension ein.

Nach Ansicht der Gewerkschaften sollten die Früchte dieser Automatisierung aber nicht allein beim Kapital verbleiben, sondern verteilt werden. Auch die sozialen Sicherungssysteme, verlangte etwa der Vize-Chef der IG Metall Jörg Hofmann, sollten von der Digitalisierungsdividende profitieren. Die Gestaltung der Arbeitswelt sei schließlich eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Stolz berichtete er vom Erfolg der vergangenen Tarifrunde, als die IG Metall den Einstieg in die tarifliche Bildungsteilzeit vereinbaren konnte.

Vorteil Demografie?

Womöglich aber ist Deutschland in den nächsten Jahren sogar froh, wenn die Digitalisierung große Fortschritte macht. Grund dafür ist die demografische Entwicklung, die einen immer größeren Facharbeitermangel hervorruft. „Kollege Roboter“ oder „Kollege Computer“ könnten einspringen und zugleich die Produktivität des menschlichen Mitarbeiters drastisch in die Höhe schrauben. Insofern könnte Deutschland im Hinblick auf die Digitalisierung der Arbeitswelt sogar seine Standortattraktivität steigern – ohne dass der Staat mit den sozialpolitischen Kosten (mehr Arbeitslosigkeit) konfrontiert würde.

Findet sich indes keine Lösung bei der Verteilung der digitalen Dividende, nimmt die Gefahr gesellschaftlicher Unruhen zu. Denn politischen Umwälzungen gingen in der Vergangenheit stets technische Revolutionen voraus, weil sie in Teilen der Bevölkerung Massenarmut und Arbeitslosigkeit mit sich brachten: Die Manufakturen waren die Vorläufer der Französischen Revolution, und die Industrialisierung brachte die sozialistischen Bewegungen hervor. An einer für alle Schichten als einigermaßen „gerecht“ empfundenen Lösung dürften daher auch alle politischen und wirtschaftlichen Akteure durchaus ein Interesse haben.