Verfassungsgericht

Karlsruher Pragmatismus

Es ist zutiefst verstörend, wenn immer wieder erst die Verfassungsrichter in Karlsruhe den Bundestag als oberste Repräsentanz des Volkes an seine Aufgabe erinnern und dafür sorgen müssen, dass die demokratischen Grundregeln auch in der Euro-Rettungspolitik gewahrt werden. So geschehen etwa in den Entscheidungen zum Europäischen Stabilisierungsfonds (EFSF), zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt. Immer wieder wurde der Bundestag gerügt, die im Grundgesetz garantierten parlamentarischen Kontrollbefugnisse doch etwas ernster zu nehmen, sich nicht mit fadenscheinigen Begründungen der Bundesregierung zufriedenzugeben und sich unter dem Diktat schneller Entscheidungen nicht die dafür notwendigen Werkzeuge aus der Hand schlagen zu lassen. Kein Ruhmesblatt also für unsere Volksvertreter.Entlang dieser Richtschnur hat das Bundesverfassungsgericht auch in der aktuellen Entscheidung argumentiert: Die Errichtung des ESM, der Fiskalpakt und die dazugehörigen nationalen Begleitgesetze wurden – wie bereits im Eilverfahren – zwar für verfassungsgemäß erklärt, den Parlamentariern aber erneut ins Stammbuch geschrieben, künftig Sorge zu tragen, dass Deutschland sein Stimmrecht im ESM nicht aus Verfahrensgründen verliert. Bundesregierung und Parlament müssten unter allen Umständen die Fäden in der Hand behalten. Europa ergibt sich nach diesem Verständnis insoweit aus den nationalen Parlamenten heraus, ist also kein Gebilde auf eigener Basis. Das hatten die Karlsruher Richter auch bei ihrer Entscheidung zur Europawahl zu verstehen gegeben, in der sie die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt hatten, weil das Europaparlament aus ihrer Sicht von minderer Qualität im Vergleich zum Bundestag ist.

Vor diesem Hintergrund kann die aktuelle Entscheidung durchaus als pragmatisch verstanden werden, weil sie die Frage nach der Finalität der europäischen Einigung noch ein Stück in die Zukunft schiebt – der Etablierung einer Banken- und Fiskalunion, die weitere Souveränität nach Brüssel abfließen lässt, zum Trotz. Denn die Kläger haben ja nicht unrecht, wenn sie anführen, dass dem Rettungsfondskonzept und den Targetverpflichtungen doch ein gewisser Leistungsautomatismus innewohnt. Aber ohne dieses Zugeständnis an die Politik hätten die Richter ihr Verdikt zum Anleihekaufprogramm der EZB nicht so scharf fassen können. Denn in der Beschlussvorlage für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) werfen sie der EZB vor, über ihr Mandat hinauszuschießen. Für die Euro-Rettung trage allein die Politik die Verantwortung. Wie hätten die Richter die Politik aber in diese Rolle drängen können, wenn sie ihr alle Rettungsinstrumente aus der Hand geschlagen hätten? Insofern stellt die Akzeptanz von ESM und Fiskalpakt in den Augen des Bundesverfassungsgerichts wohl das kleinere Übel dar.

Letztendlich drücken sich die Richter um eine klare Ansage zum richtigen Weg in ein integriertes Europa, wie es ja das Grundgesetz aufträgt. Da mögen Ängste vor einem Macht- und Bedeutungsverlust eine gewisse Rolle spielen, wie es in jeder großen Institution der Fall ist, die plötzlich nicht mehr in der Mitte stehen würde. Aber noch viel mehr dürfte es schlicht die Ratlosigkeit sein, wie sich Europa tatsächlich weiterentwickeln wird. Die Euro-Krise hat zwar neue gemeinsame Institutionen mit sich gebracht, doch die Menschen stehen dem Vorhaben angesichts der steten Brüsseler Machtausweitung immer skeptischer gegenüber. Deshalb ist der Rückgriff auf die nationale Verantwortung, dessen sich Karlsruhe befleißigt, die natürliche Reaktion auf die herrschende Unsicherheit.

Nun liegt der Ball wieder im europäischen Spielfeld. Die Akteure in Brüssel müssen das Vertrauen in den europäischen Integrationsprozess wiederherstellen. Dazu gehört eine stärkere Einbindung demokratischer Prozesse über das Europaparlament ebenso wie eine Zügelung des Machthungers von Institutionen. Ein Signal dafür könnte der EuGH senden, der die von Karlsruhe vorgelegte Frage nach der Rechtmäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms zu entscheiden hat. Bisher haben sich die Europarichter das Recht immer so hingebogen, dass die eigene Zuständigkeit ausgeweitet worden ist und europäische Institutionen gestärkt aus den Verfahren hervorgegangen sind. Eine zumindest teilweise Zügelung der EZB-Mandatsausweitung wäre ein Novum, würde den EuGH auch als ehrlichen Interpreten europäischer Rechte ausweisen und könnte dafür sorgen, dass das Bürgervertrauen zu Europa wieder zurückkehrt. (Börsen-Zeitung, 19. März 2014)

Karlsruher Dilemma

Es ist von „Kompetenzüberschreitung“ die Rede, von einer unterschwelligen „Verlagerung von Hoheitsrechten“, es wird die Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht konstatiert und eine „Umgehung“ des Verbots der Staatsfinanzierung kritisiert. Liest man die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu seinem Beschluss, die Frage nach einer Mandatsüberschreitung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Zuge der Eurorettungsmaßnahmen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen, so wird klar, dass die Richter das Anleihekaufprogramm OMT klar als verfassungswidrig eingeordnet und sofort unterbunden hätten – wenn es allein nach ihnen gegangen wäre.

Doch Karlsruhe sah sich offensichtlich diversen Zwängen ausgesetzt. Zum einen hatten die Richter wohl Bedenken, dass ein solches Verdikt die Euro-Krise in ihrer ganzen Schärfe hätte wiederaufleben lassen; womöglich mit der Folge, dass die Währungsunion ganz zerbrochen wäre. Das hätte man dann allein ihnen zur Last gelegt. Das Risiko einer solchen Katastrophe wollten sie offensichtlich nicht tragen. Zum anderen ist für die Rechtsaufsicht der EZB formal allein der EuGH zuständig. Schon in der Vergangenheit hatten sich die Karlsruher Richter in europapolitischen Fragen zurückgehalten und sich hilfsweise auf die nationalen Folgen für die heimischen Verfassungsorgane konzentriert. Ausfluss dieser Haltung war immer ihre Forderung, dem Parlament mehr Mitsprachemöglichkeiten in Europafragen einzuräumen. Im Falle der EZB hätte das BVerfG nun aber eine Europainstitution direkt maßregeln müssen, was auf eine europäische Verfassungskrise hinausgelaufen wäre.

Vor diesem Hintergrund ist der Vorlagebeschluss an den EuGH zumindest klug eingefädelt, indem man den Richtern dort zugleich die eigene Sicht der Lage vor Augen führt. Bislang hatten die Luxemburger nämlich jedwede Kritik an Kompetenzüberschreitungen europäischer Institutionen abtropfen lassen und diesen sogar einen weiten Interpretationsspielraum eingeräumt. Auch im Fall des OMT ist deshalb vom EuGH eher ein „Freispruch“ zu erwarten. Allerdings können die Luxemburger Richter die Argumente der Karlsruher Kollegen nun nicht einfach übergehen. Tun sie das trotzdem, ist der Konflikt programmiert. Denn die deutschen Richter können dann nicht einfach hinter ihre bisherige Position zurückfallen, sondern müssen ihrer Rechtsauffassung gemäß deutschen Institutionen – also auch der Bundesbank – dann die institutionelle Mitwirkung im Europaverbund untersagen. Das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH bezieht sich nur auf das Europarecht.

Diese Konstellation dürfte auch die Europarichter nicht kaltlassen und sie dazu bewegen, dem Fingerzeig ihrer Karlsruher Kollegen zu folgen. Die signalisieren nämlich durchaus Kompromissbereitschaft: Wenn das OMT-Programm gedeckelt, die mittelbare Staatsfinanzierung unterbunden, die Inkaufnahme eines Schuldenschnitts ausgeschlossen und der EZB rechtliche Grenzen aufgezeigt würden, wären sie zufrieden. Anderenfalls stünde Europa die nächste politische Eskalation bevor.

Die teilweise heftigen Reaktionen zum Verhalten des Bundesverfassungsgerichts sind symptomatisch für die latente Instabilität der Europäischen Währungsunion: Die Integration hat inzwischen eine Tiefe erreicht, die sich weder in der Verfasstheit der gemeinsamen Institutionen widerspiegelt noch in der Haltung der Europäer. Verschiedene Mentalitäten und Rechtstraditionen prallen aufeinander. In der Euro-Krise haben sich die Gesellschaften eher noch mehr auseinandergelebt, sich wieder auf nationale Interessen besonnen. Jeder Konflikt führt zu noch mehr Animositäten. Auch von politischer Seite ist keine Überwindung der Konflikte zu erwarten.

Die Verfassungsrichter haben letztlich nur ihre institutionellen Grenzen formal anerkannt, wonach der EuGH inzwischen die oberste Rechtsprechung in Europa darstellt. Für viele eher national ausgerichtete Beobachter ist diese Erkenntnis zunächst einmal ein Schock – vielleicht ein heilsamer. Nun müssen die Richter am EuGH beweisen, dass sie dieser Machtposition auch gewachsen sind. Es darf nicht sein, dass ihre Rechtsprechung immer nur darin besteht, europäischen Institutionen Recht zu geben und diesen immer mehr Kompetenzen zuzuschanzen. Der Ärger über Europa insgesamt könnte sonst ein Ausmaß annehmen, das alle Schreckensszenarien in den Schatten stellt, über die in der Euro-Krise fabuliert wurde.

(Börsen-Zeitung, 8.2.2014)