Author Archives: Stephan Lorz

Hochstimmung in Zeiten des Kalten Krieges

Da mag es zur Teilung eines Landes mitten in Europa kommen, zu Scharmützel und Geiselnahmen – die Unternehmen in der Eurozone und in Deutschland geben sich weiter unbeeindruckt. Selbst die Androhung schärferer Sanktionen kann sie nicht schrecken. Und auch nicht ihre eigene Abhängigkeit von Gaslieferungen. Die Ukraine-Krise wird schlicht ausgeblendet. Die Wirtschaft sei, schreibt das Wirtschaftsforschungsinstitut Markit zu seiner Einkaufsmanagerumfrage lapidar, beschleunigt in das zweite Quartal gestartet. Und auch die deutschen Unternehmen lassen sich von geopolitischen Risiken nicht schrecken: Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im April trotz der Eskalation im Ukraine-Konflikt erneut auf Traumhöhe gestiegen – und zwar haben sich nicht nur die Einschätzungen zur Geschäftslage noch einmal verbessert, sondern auch die Geschäftserwartungen.

Man kann das Umfrageergebnis positiv sehen: Die Befragten gehen vielleicht davon aus, dass die politische Vernunft angesichts der drohenden Schäden für den Aggressor Russland doch obsiegen und sich eine Verhandlungslösung anbahnen wird. Zudem könnten die gute Konjunkturlage im Inland und die wiederauflebenden Geschäfte mit Südeuropa den Blick für die Gefahren einfach verstellen.

Man kann es aber genauso gut negativ werten: Vielleicht schert die meisten gar nicht, was da in der Ukraine vor sich geht, und sie sind unmittelbar nur an ihren aktuellen Geschäften interessiert. Profit vor Moral also. Und womöglich glauben viele auch gar nicht an die Ernsthaftigkeit der Drohungen des Westens, im Falle einer weiteren Eskalation die Sanktionen noch zu verschärfen. Denn dies würde die Konjunktur durchaus empfindlich treffen und müsste eigentlich für enorme Verunsicherung unter den Unternehmen sorgen. Das wäre dann entweder Ausdruck für politische Kurzsichtigkeit der europäischen und deutschen Führungselite in den Unternehmen, und wäre zudem Ausweis für mangelndes Mitgefühl gegenüber den Menschen in der Ukraine. Profit vor Menschlichkeit, möchte man sagen. Oder es ist die zynische Einschätzung der Unternehmen, dass der europäische Westen gegenüber Moskau ohnehin einknicken wird angesichts seiner großen Energieabhängigkeit. Eigentlich eine Kapitulationserklärung also – Hauptsache, die Konjunktur läuft!

 

Kapitalistische Oligarchie

In den USA ist eine heiße Debatte über die schädlichen Wirkungen zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit entbrannt. Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz geißeln die enormen Vermögensgewinne, welche die ohnehin bereits Vermögenden auf Kosten der ärmeren Schichten angehäuft hätten. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) hat unlängst in einer Studie davor gewarnt, dass Ungleichheit tendenziell auch das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft schmälert – von der sich aufstauenden Unruhe unter den Verliererschichten ganz zu schweigen. Manche Stimmen sprechen bereits von einer Finanz-Oligarchie, die sich in den USA breitgemacht und sich den Staat untertan gemacht habe.

Wie weit diese Entwicklung in den USA bereits fortgeschritten ist weit jenseits der hinlänglich bekannten reinen Einkommensbetrachtung zeigt eine Statistik der OECD. Dort wird der Anteil jener Haushalte angegeben, welcher innerhalb eines Jahres schon einmal nicht genug Geld für Nahrung hatte: In der Türkei war dies bei 32,7 Prozent der Privathaushalte schon einmal der Fall und in den reichen USA mit 21,1 Prozent ebenfalls überraschend viel. Pikant ist die Aufstellung, wenn man die Länder betrachtet, in denen die Haushalte diesbezüglich bessergestellt sind: in Russland sind es 21,0 Prozent, die sich eine Mahlzeit einmal nicht leisten konnten, und selbst in Griechenland waren es nur 17,9 Prozent. Zum Vergleich: in Deutschland waren es dank unseres Sozialstaats nur 4,6 Prozent. Die Krone wird dieser Betrachtung aufgesetzt, wenn man bedenkt, dass der US-Kongress im Februar beschlossen hatte, die finanzielle Unterstützung für arme Haushalte beim Kauf von Essen (Food Stamps) zu kürzen.

Auch die Einkommensverteilung spricht für sich. Der US-Ökonom J. Bradford Delong kritisiert, dass inzwischen das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung vom Gesamteinkommen ganze 22 Prozent einstreicht; die reichsten 10 Prozent kommen auf mehr als die Hälfte aller Einkommen in den USA überhaupt. Die Einkommen der 10-Prozent-Topverdiener sei inzwischen zwei Drittel höher als das ihrer „Kollegen“ 20 Jahre zuvor.

Vor wenigen Tagen hat die Debatte nun eine neue Schärfe erhalten mit der These, dass die USA von einer freiheitlichen Marktwirtschaft immer mehr in die Rolle einer oligarchisch geführten Autokratie abgleiten. Der französische Ökonom Thomas Pikkety spricht in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das Krugman als „das wichtigste Wirtschaftsbuch womöglich des Jahrzehnts“ hochleben lässt, von großem Reichtum, der sich immer mehr politischen Einfluss kauft und damit die staatliche Regulierung in seinem Sinne lenkt. Viele Konservative, welche dem Staat Grenzen setzen möchten, lebten zudem in einer intellektuellen Blase von Denkfabriken, die von einer Handvoll extrem reicher Geldgeber finanziert würden, kritisiert Pikkety. Er insinuiert damit auch eine gewisse Lenkung der öffentlichen Meinung, die in Gestalt ökonomischer Fakten und wissenschaftlich gesicherter Zusammenhänge daherkommt und als unabhängig deklariert werde. Wie die Lage der meisten Menschen in der Gesellschaft wirklich ist, unter welchen Mühen sie ihren Unterhalt bestreiten muss, das komme bei den Menschen in dieser Blase gar nicht an, schreibt er vorwurfsvoll. Diese Anklage hat in den USA und in den ökonomischen Blogs einen regelrechten Debattensturm entfacht.

Als Beleg für eine von einer (Kapital-)Machtelite gelenkten Politik führen die Ökonomen etwa die steuerliche Begünstigung von Vermögenseinkommen gegenüber den Einkommen abhängig Beschäftigter an. Oder die Rettungspolitik im Nachgang zur Finanzkrise. Auch die ultralockere Geldpolitik der US-Notenbank Fed, betont etwa Krugman, hätte zusammen mit den Anleihekäufen in diese Richtung gewirkt. Schließlich seien Banken gerettet worden, und zuvorderst würden sie zusammen mit den großen Investoren von dieser Politik profitieren, weil sie kaum Abschreibungen vornehmen müssten. Der international bekannte Wirtschaftshistoriker Harold James verweist auf den Erleichterungsboom, der durch die unkonventionelle Geldpolitik losgetreten worden sei. Von den Kursgewinnen hätte nur eine Minderheit profitiert, die an den Finanzmärkten engagiert sei. Schon jetzt, so Krugman, stelle die Politik die Interessen der Reichen stets über jene der Normalbürger. Überschreite diese Ungleichheit zudem ein gewisses Maß, nähre sie sich stetig selber. Krugman: Reichtum dominiert die Arbeit.

Einen Grund für diese Politik sehen Ökonomen wie Krugman in der Tatsache, dass die handelnden Politiker selbst zu den Top-Vermögenden zu rechnen sind und damit auch Ihresgleichen bevorzugen. 20 Prozent der reichten Amerikaner würden 85 Prozent der Finanzanlagen besitzen. Und fast alle US-Senatoren gehörten schließlich zu den Top-Ein-Prozent der reichsten Amerikaner, weshalb sie ein Interesse hätten, dass die Vermögenseinkommen durch Finanzkrisen oder die Politik eben nicht geschmälert oder gar vernichtet würden.

Derzeit, so befürchten Pikkety, Krugman und Stiglitz verschlimmere sich die Lage noch. Zum einen, weil die Wirtschaft in den Industrieländern insgesamt nicht mehr so schnell wächst, weshalb auch die Entwicklung der Lohneinkommen stets hinter den Vermögenseinkommen hinterherhinken würde. Denn letztere würden weltweit angelegt, wo die Renditen noch höher seien, während die Arbeit lokal verhaftet sei und mit Niedriglohnländern konkurrieren müsse. Zum anderen, weil sich zudem ein aggressiv agierender „Erbkapitalismus“ gebildet hätte, wie Krugman kritisiert.

Denn ein immer größerer Teil der Superreichen hat sein Vermögen inzwischen ererbt. Sechs der zehn reichsten Amerikaner seien Erben und keine Unternehmer aus eigener Kraft, führt er an. Die Kommandobrücken der Wirtschaft würden damit nicht vom Reichtum schlechthin, was schon schlimm genug sei, beherrscht, sondern von ererbtem Reichtum. Und Pikkety schreibt vor diesem Hintergrund: „Die Gefahr einer Entwicklung zur Oligarchie ist real und berechtigt zu wenig Optimismus“.

Das von den zitierten Ökonomen skizzierte Gesellschaftsbild, in dem eine gierige reiche Minderheit sich der Wirtschaftskraft einer ganzen Nation bemächtigt hat, mag überzeichnet sein, viele Aspekte und manche Erfahrungen zeigen, dass zumindest der Versuch im Kapitalismus immanent ist, sich gewisse Vorteile zu erschleichen – über Politik, Institutionen aber auch die öffentliche Meinung. Der Kampf vieler Ökonomen gegen die erdrückende Dominanz des Staats auch in der Wirtschaft, gegen Überregulierung und für Privatisierung mag anfangs berechtigt gewesen sein (und ist es in vielen Bereichen und Staaten immer noch), doch ging dieser weit über das notwendige Maß hinaus, als etwa auch die ordnungssetzende Macht des Staates ebenso zurückgedrängt worden ist. Das hat der Spekulation und verbrecherischen Aktivitäten in der Wirtschaft Raum gegeben und Profite in die Taschen von Falschspielern gelenkt, wie jetzt anhand von vielen Prozessen so nach und nach ans Tageslicht kommt.

Konjunkturelle Scheuklappen

Beschwichtigungen allerorten. „Kein Grund zur Panik!“, mahnen die Ökonomen. Von einer Stimmungseintrübung könne „keine Rede“ sein, ebenso wenig von einer sich ankündigenden „Eiszeit“. Man dürfe den Indexrückgang „nicht überbewerten“. Allenfalls eine „Verschnaufpause“ sei nun zu erwarten angesichts des bereits recht reifen Stadiums im Wachstumszyklus der deutschen Wirtschaft. Die zitierten Äußerungen sind eine Reaktion auf den Rückgang des Ifo-Geschäftsklimaindex von 111,3 auf 110,7 Punkte, der nach Einschätzung der Ifo-Experten in erster Linie die pessimistischere Einschätzung wegen der Krim-Krise widerspiegelt.
Das trotz des Krim-Konflikts nach wie vor recht positive Konjunkturbild der Analysten erklärt sich aus dem recht hohen Niveau, auf dem sich die Wirtschaftsaktivitäten in Deutschland derzeit noch befinden. Die binnenwirtschaftlichen Wachstumstreiber Privatkonsum und Investitionen sind nach wie vor intakt, weil sie von niedrigerer Arbeitslosigkeit, steigenden Einkommen und den Modernisierungsnotwendigkeiten der Unternehmen gespeist werden. Auch die Exportaussichten sind wegen des Produktmix deutscher Unternehmen weiterhin positiv, auch wenn in Asien erste Ermüdungserscheinungen auftreten und der Euro-Währungskurs die preisliche Wettbewerbsfähigkeit etwas schmälert.

Was in der Prognose der künftigen konjunkturellen Entwicklung dabei vollkommen unterschätzt wird, ist die tektonische Verschiebung, die mit dem geopolitischen Konflikt eingesetzt hat. Die Kapitalflucht, die derzeit in Russland registriert wird, ist nur der Start einer generellen Umorientierung im Welthandel. Und dies wird vor allem die in Russland extrem engagierten deutschen Unternehmen treffen. Da braucht es gar keine weiteren Sanktionen mehr. Das Grundvertrauen der Investoren ist schon jetzt erschüttert. Wer will unter diesen Umständen in einem solchen Land und seinen Anrainern noch guten Gewissens investieren? Zumal dem Vernehmen nach in Russland bereits ein Gesetz in Vorbereitung ist, das Enteignungen und Verstaatlichungen von Unternehmen vereinfachen soll. Die absehbare Umorientierung von Investitionsströmen, die viele Milliardenengagements entwerten wird, und die Neuausrichtung des Außenhandels werden eine Zeit der Unsicherheit mit sich bringen, die in den Staatshaushalten ihren Niederschlag finden wird und in den Unternehmensbilanzen.

Nun wenden viele Beobachter ein, dass von den deutschen Exporten nur etwa 3 % nach Russland und nur 0,5 % in die Ukraine gehen, ein Einbruch also locker wegzustecken wäre, zumal die Erschütterungen wegen des Eigeninteresses der russischen Wirtschaft ja nur vorübergehend sein dürften. Auch über den Kanal steigender Energiepreise sei kein Effekt auf die deutsche Konjunktur zu erwarten, sofern drastischere Wirtschaftssanktionen ausbleiben. Doch wird dabei unterschätzt, dass die Folgen solcher geopolitischen Entwicklungen nie auf bilaterale Einzelbetrachtungen beschränkt bleiben. Wie Schockwellen durchdringen sie viele andere Bereiche, die scheinbar nichts damit zu tun haben. Erst vor kurzem hat die Ratingagentur Moody’s vor der Verwundbarkeit vieler Emerging-Markets-Länder gewarnt wegen ihrer zu hohen Abhängigkeit von externen Investitionen und den Kapitalflüssen. Eine kleine Störung kann hier schon größere Folgen nach sich ziehen. Und die Eurokrisenländer sind auch noch nicht aus dem Gröbsten heraus. Stockt die deutsche Konjunktur oder trübt sich der Welthandel ein, fallen sie erneut in die Rezession.

Schon in der Vergangenheit haben viele Ökonomen die Ansteckungsgefahren solcher geopolitischen Krisen unterschätzt, weil sie ihr Urteil viel zu sehr auf die lokalen und in den Wirtschaftsstatistiken unmittelbar sichtbaren Zusammenhänge abgestellt haben. Psychologische Effekte und die Wirkungen informellen Herdenverhaltens aufgrund beunruhigender Nachrichten wurden verkannt. Auch die Marktakteure scheinen den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben.

Es geht nicht darum, einem konjunkturellen Doomsday-Szenario das Wort zu reden. Davon sind wir noch weit entfernt. Doch ein nicht durch Gesundbeterei getrübter Blick würde dazu zwingen, die politische Neuorientierung des Westens ökonomisch zu begleiten und erkannte Risiken schon im Vorfeld anzugehen. Denn richtig gefährlich wird die Lage nur, wenn man wegen der analytischen Scheuklappen blind in die nächste Rezession stolpert – und dann durch aktionistisches Getue alles nur noch schlimmer macht.

(Börsen-Zeitung, 26.3.2014)

 

 

Karlsruher Pragmatismus

Es ist zutiefst verstörend, wenn immer wieder erst die Verfassungsrichter in Karlsruhe den Bundestag als oberste Repräsentanz des Volkes an seine Aufgabe erinnern und dafür sorgen müssen, dass die demokratischen Grundregeln auch in der Euro-Rettungspolitik gewahrt werden. So geschehen etwa in den Entscheidungen zum Europäischen Stabilisierungsfonds (EFSF), zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt. Immer wieder wurde der Bundestag gerügt, die im Grundgesetz garantierten parlamentarischen Kontrollbefugnisse doch etwas ernster zu nehmen, sich nicht mit fadenscheinigen Begründungen der Bundesregierung zufriedenzugeben und sich unter dem Diktat schneller Entscheidungen nicht die dafür notwendigen Werkzeuge aus der Hand schlagen zu lassen. Kein Ruhmesblatt also für unsere Volksvertreter.Entlang dieser Richtschnur hat das Bundesverfassungsgericht auch in der aktuellen Entscheidung argumentiert: Die Errichtung des ESM, der Fiskalpakt und die dazugehörigen nationalen Begleitgesetze wurden – wie bereits im Eilverfahren – zwar für verfassungsgemäß erklärt, den Parlamentariern aber erneut ins Stammbuch geschrieben, künftig Sorge zu tragen, dass Deutschland sein Stimmrecht im ESM nicht aus Verfahrensgründen verliert. Bundesregierung und Parlament müssten unter allen Umständen die Fäden in der Hand behalten. Europa ergibt sich nach diesem Verständnis insoweit aus den nationalen Parlamenten heraus, ist also kein Gebilde auf eigener Basis. Das hatten die Karlsruher Richter auch bei ihrer Entscheidung zur Europawahl zu verstehen gegeben, in der sie die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt hatten, weil das Europaparlament aus ihrer Sicht von minderer Qualität im Vergleich zum Bundestag ist.

Vor diesem Hintergrund kann die aktuelle Entscheidung durchaus als pragmatisch verstanden werden, weil sie die Frage nach der Finalität der europäischen Einigung noch ein Stück in die Zukunft schiebt – der Etablierung einer Banken- und Fiskalunion, die weitere Souveränität nach Brüssel abfließen lässt, zum Trotz. Denn die Kläger haben ja nicht unrecht, wenn sie anführen, dass dem Rettungsfondskonzept und den Targetverpflichtungen doch ein gewisser Leistungsautomatismus innewohnt. Aber ohne dieses Zugeständnis an die Politik hätten die Richter ihr Verdikt zum Anleihekaufprogramm der EZB nicht so scharf fassen können. Denn in der Beschlussvorlage für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) werfen sie der EZB vor, über ihr Mandat hinauszuschießen. Für die Euro-Rettung trage allein die Politik die Verantwortung. Wie hätten die Richter die Politik aber in diese Rolle drängen können, wenn sie ihr alle Rettungsinstrumente aus der Hand geschlagen hätten? Insofern stellt die Akzeptanz von ESM und Fiskalpakt in den Augen des Bundesverfassungsgerichts wohl das kleinere Übel dar.

Letztendlich drücken sich die Richter um eine klare Ansage zum richtigen Weg in ein integriertes Europa, wie es ja das Grundgesetz aufträgt. Da mögen Ängste vor einem Macht- und Bedeutungsverlust eine gewisse Rolle spielen, wie es in jeder großen Institution der Fall ist, die plötzlich nicht mehr in der Mitte stehen würde. Aber noch viel mehr dürfte es schlicht die Ratlosigkeit sein, wie sich Europa tatsächlich weiterentwickeln wird. Die Euro-Krise hat zwar neue gemeinsame Institutionen mit sich gebracht, doch die Menschen stehen dem Vorhaben angesichts der steten Brüsseler Machtausweitung immer skeptischer gegenüber. Deshalb ist der Rückgriff auf die nationale Verantwortung, dessen sich Karlsruhe befleißigt, die natürliche Reaktion auf die herrschende Unsicherheit.

Nun liegt der Ball wieder im europäischen Spielfeld. Die Akteure in Brüssel müssen das Vertrauen in den europäischen Integrationsprozess wiederherstellen. Dazu gehört eine stärkere Einbindung demokratischer Prozesse über das Europaparlament ebenso wie eine Zügelung des Machthungers von Institutionen. Ein Signal dafür könnte der EuGH senden, der die von Karlsruhe vorgelegte Frage nach der Rechtmäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms zu entscheiden hat. Bisher haben sich die Europarichter das Recht immer so hingebogen, dass die eigene Zuständigkeit ausgeweitet worden ist und europäische Institutionen gestärkt aus den Verfahren hervorgegangen sind. Eine zumindest teilweise Zügelung der EZB-Mandatsausweitung wäre ein Novum, würde den EuGH auch als ehrlichen Interpreten europäischer Rechte ausweisen und könnte dafür sorgen, dass das Bürgervertrauen zu Europa wieder zurückkehrt. (Börsen-Zeitung, 19. März 2014)