Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen wegen des digitalen Wandels neue Strukturen zur Finanzierung des Sozialstaats finden.
Leere Briefkästen, keine Pakete – Briefträger und Zusteller hatten in den vergangenen Tagen immer wieder gestreikt. Nicht die ganze Branche, sondern viele Mitarbeiter der Post AG, des ehemaligen Monopolisten. Sie wenden sich gegen die Gründung von 49 Regionalgesellschaften, in denen die Konzernspitze günstigere Lohntarife durchdrücken und damit die Arbeitskosten senken möchte. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert zudem für die 140 000 Tarifbeschäftigten 5,5 % mehr Lohn und eine Arbeitszeitverkürzung von 38,5 auf 36 Stunden bei vollem Lohnausgleich.
Der Konzern verweigerte diese Zugeständnisse bislang und scheint auch in den aktuell laufenden Tarifverhandlungen hart zu bleiben, weil er befürchtet, ansonsten im Wettbewerb auf der Strecke zu bleiben. Denn die Zustellkonkurrenten müssen nicht so hohe Löhne wie die Post AG zahlen, weil sie die niedrigeren Tariftabellen der Speditions- und Logistikbranche heranziehen können, günstigere Verträge mit Unterauftragnehmern abgeschlossen haben oder weitgehend auf den Einsatz von „Selbständigen“ bauen. Der Druck auf die Löhne wird auch deshalb immer größer, weil die Kunden durch Internetvergleiche angespornt auf immer niedrigere Zustellpreise dringen und die Unternehmen immer wieder zu Sparrunden zwingen.
Zustellung auf Fingerdruck
Szenenwechsel: Die Kaffeehauskette Starbucks hat unlängst einen Vertrag mit Postmates abgeschlossen, einem Start-up aus den USA. Per App im Smartphone sollen Kunden von Starbucks künftig ihren Kaffee bestellen können. Der wird dann per Fahrradkurier noch heiß dampfend zugestellt. Um die Kosten im Rahmen zu halten, wählt ein Algorithmus jenen Kurier aus, der am nächsten dran und günstig ist. Was für den Kaffee gilt, wird bereits auf viele andere Produkte ausgeweitet. Amazon experimentiert derzeit etwa mit der Zustellung per Kurier via U-Bahn und Apple will offenbar ebenfalls mit Postmates zusammenarbeiten. Die Grenzen auf dem Logistiksektor verschwimmen zusehends.
Der Markt wächst, aber das heißt nicht, dass nun für die Zusteller selbst goldene Zeiten anbrechen. Die Gewerkschaften registrieren, dass die Arbeitsbedingungen eher immer prekärer werden. Denn bei den neuen Jobs im Zustellgewerbe handelt es sich meist um Niedriglohnarbeitsplätze. Das Salär für den Kurier reicht oft nicht zum Leben, stellt allenfalls ein schönes Zubrot für Schüler, Studenten und Arbeitslose dar. Tarifverträge, wie sie derzeit beim Poststreik im Fokus stehen, sind für die neuen Wettbewerber ein Fremdwort. Gewerkschaften, die streiken und die Löhne nach oben drücken könnten, gibt es auch nicht. Denn die Beschäftigten sind quasi selbständig und werden nur auf Zuruf eingesetzt.
Gewerkschaften unter Druck
Sieht so der Arbeitsmarkt der Zukunft aus? Haben die Gewerkschaften bereits verloren, weil der bisherige Status wegen des Strukturwandels nicht mehr zu halten ist? Ist die aktuelle Tarifauseinandersetzung bei der Post also nur noch ein Rückzugsgefecht? Denn wie der Fahrtenvermittlerdienst Uber das Geschäftsmodell des Taxigewerbes in Frage stellt und der Wohnungsmietservice AirBnB das der Hotellerie, werden auch auf dem Logistikmarkt digitale Techniken eingesetzt, um neue Angebote zu schneidern, die der alten Ordnung zuwiderlaufen.
Ökonomen feiern dies als Siegeszug des Marktes gegen die Regulierung und staatliche Bevormundung. Die Jünger der über die Smartphones wiederauferstandenen „New Economy“ sprechen lieber von der Befreiung der Menschen, von einem Sieg der Selbstbestimmung gegen die Inkarnation der Gängelung.
Dabei haben sie aber wohl eher die Kunden im Blick. Denn sie sind es, die ihre Wünsche via Mausklick und Fingerdruck tatsächlich schneller wahr werden lassen können als früher und obendrein in der Lage sind, so günstig wie nie Logistikdienste zu buchen.
Die Zusteller, welche die im Netz bestellten Dienstleistungen dann in die reale Welt umsetzen, können von dieser Entwicklung am wenigsten profitieren. Denn die Konkurrenz ist groß. Gewerkschaften warnen vor einem „race to the bottom“ bei den Löhnen. Arbeitnehmer ohne Ausbildung scheinen die Verlierer zu sein: Einfache Jobs nehmen zahlenmäßig zwar zu, aber die Bezahlung sackt weiter ab.
Auch der Staat steht dieser Entwicklung zunehmend skeptisch gegenüber. Denn zum einen funktioniert dieses Geschäftsmodell oft nur so lange, wie auch die Löhne der Zusteller und Kuriere, der Chauffeur- und Taxidienste niedrig genug sind, um das feinmaschige und hochverfügbare Transportnetzwerk auch rentabel betreiben zu können. Und das funktioniert zum anderen oft nur, weil die Auftragnehmer keine oder wenig Steuern zahlen bzw. gar nicht oder kaum zur Finanzierung des Sozialsystems beitragen.
Die Belastung der Sozialsysteme nimmt womöglich sogar noch zu, weil die via Smartphone geflochtenen Zustellnetze darauf bauen, dass jene Teilnehmer, die als Kuriere in Betracht kommen, ihren Lebensunterhalt gegebenenfalls mit ergänzender Sozialhilfe aufstocken. Das geht aber nur so lange gut, wie der Staat diese Leistung noch finanzieren kann. Denn der Wandel in der Arbeitswelt ist ja nicht allein auf das Transport- und Zustellgewerbe beschränkt. Viel hängt also davon ab, ob mit den neuen Jobs die Menschen tatsächlich aus der Arbeitslosigkeit geholt und so die Sozialsysteme sogar entlastet werden oder ob der Niedriglohnsektor sich tatsächlich dramatisch ausweitet, weil die neuen Technologien keinen Mittelbau mehr benötigen, wie dies manche Arbeitsmarktforscher prophezeien. Dann würde die Finanzkraft des Staates und der Sozialversicherungen erodieren.
Wie auf allen Märkten müssen aber ordnungspolitische Elemente zumindest dafür sorgen, dass der Wettbewerb fair abläuft und nicht auf Kosten Dritter wie dem Staat stattfindet. Und dabei geht es auch um die Klärung der Frage, ob auf dem Arbeitsmarkt die Marktkräfte tatsächlich frei walten dürfen oder wegen dessen Besonderheiten gewissen Beschränkungen unterworfen werden müssen. Das ist eine Frage des Menschenbilds, aber auch eine des Vertrauens in die wachstumssteigernde Kraft von Wettbewerb, auf der unsere Volkswirtschaft basiert.
Bislang hat mehr Arbeitsmarktflexibilität immer dazu geführt, dass Strukturwandel ermöglicht und unter dem Strich mehr Beschäftigung geschaffen als vernichtet worden ist – auch wenn es subjektiv oft anders wahrgenommen wird. Ob dies in der digitalen Wirtschaft noch so gilt, muss erst untersucht werden.
Fiskalische Basis erodiert
Womöglich haben wir es auch nur mit Übergangsproblemen bei der Metamorphose in die Digital-Ökonomie zu tun, und es bildet sich schon bald ein neues Gleichgewicht heraus: Die Löhne steigen, und zugleich wächst die Zahl der Arbeitsplätze. Alle Marktteilnehmer – auch der Staat – wären dann zufrieden.
Aber zuvor müssen die Besteuerungsstrukturen und das Sozialsystem noch auf die veränderten Bedingungen einer Netzwerkökonomie angepasst werden, in der es keine Grenzen mehr gibt, das Besteuerungssubstrat nur noch aus Datenströmen besteht und Unternehmen sowie ihre Mitarbeiter virtuell um den Globus vagabundieren. Das spricht für die Umgestaltung unserer fiskalischen Basis in ein Konsumsteuersystem, wie es in einigen Modellen bereits existiert. Zudem müssten die Bedingungen für alle in- und ausländischen Anbieter vergleichbar ausgestaltet sein, was etwa in internationalen Vereinbarungen wie einer transatlantischen Freihandelszone (TTIP) geregelt werden könnte.
Der Politik bei der Gestaltung neuer, innovativer Finanzierungsmodelle für staatliche Angebote behilflich zu sein wäre auch eine noble Geste gerade von jenen Konzernen, die vom bisherigen Regelungsvakuum profitieren. Nicht zuletzt deshalb, weil sich der Staat mit Blick auf seine fiskalischen Grundlagen und des sozialen Friedens ohnehin zu einer Gegenreaktion herausgefordert fühlen dürfte und eingreifen wird. Der Taxi-Dienstleister Uber hat das erkannt und sein neues Angebot bereits in einigen Bereichen regulierungskompatibel gemacht.
Es ist auch deshalb im Eigeninteresse der digitalen Wirtschaft, die Politik beim Strukturwandel zu unterstützen, weil die Unternehmen auf den Wohlstand der Menschen angewiesen sind, die als Kunden ihre Angebote wahrnehmen und finanzieren. Eine Verarmung breiter Schichten und die Herausbildung eines digitalen Proletariats würde nur zu noch größeren Lasten führen, die Nachfrage einbrechen und den Unternehmenswert erodieren lassen – von anderen negativen Folgen etwa im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung ganz zu schweigen.
Steuerreform forcieren
Insofern ist die Auseinandersetzung bei der Post zwar noch kein Stellvertreterkrieg zwischen den Kräften der Tradition und jenen der Moderne, aber sie hinterlässt einen ersten Eindruck von den Problemfeldern. Die Entwicklung zeigt, dass die neuen digitalen Dienstleistungsangebote zudem einen immer größeren Raum einnehmen werden. Darauf müssen der Fiskus und die Politik zügig reagieren, um das Heft des Handelns noch in der Hand zu behalten. Der aktuelle Tarifstreit sollte daher zum Anlass genommen werden, eine ohnehin notwendige Fortentwicklung der Marktwirtschaft, des Steuer- und Beitragssystems und des Arbeitsmarkts zu forcieren.