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Von der Wahrnehmungsverzerrung im Internet

Amazon, so eine Nachricht aus Großbritannien, verlangt von Verlagen auf der Insel neuerdings eine pauschale Nachdruckerlaubnis, wenn Bücher nicht mehr lieferbar oder nicht mehr im Auslieferungslager verfügbar sind. Das Echo in der Öffentlichkeit über diese Vermessenheit ist eher dünn, obwohl die Attacke noch zu dem Skandal über bewusste Lieferverzögerungen Amazons gegenüber Verlagen hinzukommt. Einige Häuser werden offenbar sanktioniert, weil sie nicht gleich auf die Amazon-Wunschliste eingehen im Hinblick auf Rabatte und die Einräumung spezieller Rechte weit über das übliche Maß hinaus. Amazon nutzt hier seine gigantische Marktmacht offen aus.

Auch der öffentliche Aufschrei gegenüber anderen Zumutungen, mit denen Amazon, Facebook, Apple, Google & Co. die Realwirtschaft herausfordern, ist eher verhalten. Das gilt auch für ihr Verhalten gegenüber ihren eigenen Nutzern, wenn sie ihnen etwa bei einem Upate bis auf Bibellänge ausgewalzte neue Nutzungsbestimmungen vorlegen, die sie gefälligst zu akzeptieren haben. Damit räumen sich die Internetkonzerne ganz nebenbei – im Kleingedruckten und via kryptische Formulierungen – von ihren Nutzern weitreichende inhaltliche Rechte ein, die weit über das hinausgehen, was einzelne nationale Gesetzesbestimmungen in der Realwirtschaft zulassen würden und was man selbst Freunden zugestehen würde. Das geschieht vielfach über „kleine“ Änderungen der kaum mehr überschau- und erfassbaren juristischen Texte, die jeder noch so kleinen Änderung am Programm vorgeschaltet werden – teils sogar nur in englischer Sprache. Ein Klick auf den Akzeptiere-Button – und die Rechte sind vergeben. Die Nutzer haben kapituliert, die Konzerne triumphieren. Die Taktik des Vertuschens, Vernebelns und verquasten Formulierens ist aufgegangen.

Die jüngsten öffentlichen Reaktionen auf die Entwicklerkonferenzen der großen Digitalkonzerne – Build von Microsoft, WWDC von Apple und jüngst I/O von Google – waren ebenfalls recht unkritisch, was die dort nonchalant ausgebreiteten Pläne zur Ausweitung der Konzernmacht auf die Nutzer angeht. Dabei geht es letztlich um die Aneignung ganzer Leben. Stattdessen wurde euphorisch über die Möglichkeiten der neuen Techniken schwadroniert. Jede noch so winzige „Verbesserung“ bei Apps, Betriebssystemen und Geräten wurde bejubelt und einer gottesdienstartigen Verehrung gleich von „Medien-Missionaren“ den technologischen Heiden verkündet. Die Konzerne selbst gelten in deren Augen in gewisser Weise für sakrosankt.

Selbst Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) räumte im Interview mit der FAZ zuletzt eine gewisse Beißhemmung ein. Würde ein Energieunternehmen wie Google 95 Prozent des Marktes abdecken, „wären die Kartellbehörden aber ganz schnell auf dem Plan“, sagte er und sieht sich selber als „Teil des Problems“, weil er täglich die googlesche Suchmaschine mit Fragen füttert.

Wie viel sich die Nutzergemeinde inzwischen gefallen lässt, ohne auch nur zu murren, zeigt ein Vergleich mit der Realwirtschaft: Wäre es etwa vorstellbar, dass ein Autohändler so einfach das Modell eines älteren – nicht mehr lieferbaren, weil durch eine neuere Version ersetzten – BMW einfach nachbaut? Amazon maßt sich das im Hinblick auf Verlage an. Oder, wie würden sich Verbraucher verhalten, wenn etwa die Hersteller von Fotoapparaten sich gleich auch die Rechte an den gemachten Bildern einräumen? Das tun etwa Facebook und Google. Längst machen Verbraucherzentralen und Verbraucherministerien Jagd auf kryptische Verträge im Handel, unzulängliche Aufklärungsgespräche etwa in der Finanzindustrie, verlangen Transparenz und Vereinfachung, vor allem aber Verständlichkeit und Offenheit beim Umgang mit Kunden. Bei der Digitalindustrie aber stehen sie eher abseits und fühlen sich irgendwie nicht zuständig. Es wird Zeit, dass sich die Gewichte diesbezüglich verschieben. Die Digitalindustrie unterliegt schließlich den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder anderer Akteur auf dem Markt.

Die Feigheit der EZB vor der Politik

Für die einen ist es hohe Kunst, für die anderen Hexenwerk: Gleich mit einer ganzen Phalanx an geldpolitischen Maßnahmen geht die Europäische Zentralbank (EZB) gegen die im Eurogebiet aufgekommenen deflationären Tendenzen sowie gegen die Kredit- und Wachstumsschwäche vor. Niedrigere Leitzinsen und ein negativer Einlagensatz sollen den Euro schwächen und die Konjunktur stärken, ein attraktiver, aber konditionierter Langfristtender die Kreditvergabe der Banken ankurbeln. Zudem wird der direkte Ankauf von Kreditpaketen (ABS) vorbereitet.

Der weitgehend auf unerprobtem Gelände stattfindende geldpolitische Rundumschlag der EZB dürfte in die Geschichtsbücher eingehen – falls das dahinterstehende Kalkül aufgeht! Und daran bestehen begründete Zweifel. Der mickrige Zinsschritt löst allenfalls einen Placeboeffekt aus, der Negativzins könnte sogar mehr schaden als nützen, wenn deswegen die Bankgebühren zulegen. Und der Markt für europäische ABS ist so klein, dass ein Ankauf von Papieren allenfalls symbolische Bedeutung hat. Die Wirkung auf die Realwirtschaft ist also eher begrenzt. Lediglich die Banken dürfen sich ungeteilt freuen, erhalten sie doch erneut billiges Geld für lau. Dabei herrscht an Liquidität kein Mangel.

Gleichzeitig begibt sich die EZB auf gefährliches Terrain: Denn die gebotene Kontrolle der Kreditkonditionen gebiert ein bürokratisches Monster. Fehlentscheidungen werden nicht ausbleiben und an der Glaubwürdigkeit der Notenbank nagen. Dabei ist diese das Zentrum ihrer Macht: Nur das Vertrauen der Marktteilnehmer und Eurobürger in die Neutralität und Unabhängigkeit der Notenbank hält die Geldordnung stabil. Wenn nun aber die EZB über die Kreditvergabe in die Realwirtschaft eingreift, durch ihre Geldpolitik viele Menschen um ihr Erspartes bringt, woran ganze Lebensentwürfe zerbrechen, zudem neue Unsicherheiten aufkommen, wird das Misstrauen sähen und ihre Instrumente abstumpfen lassen. Ganz abgesehen von dadurch heraufbeschworene Gefahren neuer Finanzblasen.

Die EZB hat zugleich eine gigantische Umverteilungsmaschinerie in Gang gesetzt. Das Bankenwohl steht an erster Stelle – und der Politik wird ein Freifahrtschein ausgestellt. Sie kann nun alle Reformanstrengungen fahren lassen. Die Eurobürger indes zahlen die Zeche. Es sind diese Rangordnung und die Feigheit der Notenbank, die Politik endlich durch geldpolitisches Stillhalten in die Verantwortung zu pressen, welche die größten Gefahren für die Eurozone darstellen.

Salon-Revolutionär Marx

Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, biedert sich wieder einmal bei seinen Schäfchen an. Waren es noch vor einigen Jahren ¨die Kapitalisten¨, denen er moralische Argumente zur Rechtfertigung ihres Tuns lieferte. Dafür wurde er von ihnen hoffiert und als ¨Kapitalismusversteher¨ gehandelt, der die Marktwirtschaft – natürlich in ihrer sozialen Variante – verstanden hat und verteidigt.

Nun hat sich mit dem neuen Papst allerdings der Wind gedreht – für die Kirche und für ihn. Deshalb sind jetzt all jene Opferlämmer an der Reihe, moralisch bedacht zu werden, die irgendwie unzufrieden sind über ihre aktuellen Lebensverhältnisse und die Lage in Deutschland insgesamt. Die Finanzkrise, die Bankenhilfen, die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik für die Peripherieländer bietet sich ja geradezu an – die Hintergründe und Ursachen dafür spielen ja keine Rolle. Das Feindbild ist klar. Und deshalb forderte Marx zum Katholikentag in Regensburg auch nicht weniger als die Überwindung des Kapitalismus und erklärte: „Wir müssen über die Neubestimmung der Gesellschaft und des Staates auf globaler Ebene diskutieren, über den Kapitalismus hinausdenken, denn Kapitalismus ist nicht das Ziel, sondern wir müssen ihn überwinden.“

Kein Wort allerdings über die Alternativen, die ihm vorschweben. Soll es der Staat richten, der auch – wie praktisch – die Kirchensteuer einzieht und an die Katholische Kirche weitergibt? Oder ein wohlmeinender Herrscher, der über Gut und Böse entscheidet und natürlich – wie die Kirche – über den gesellschaftlichen Niederungen steht, über dem „Markt“, über demokratisch verfasste Institutionen? Marx wird nicht konkret. Offenbar geht es – wieder einmal – nur um eine Fensterrede, um in die öffentliche Meinung für sich einzunehmen und sich für ein populäres Thema adeln zu lassen: Kapitalismus-Bashing. So wie Politiker gerne in Sonntagsreden Europa hochleben lassen, in den Hinterzimmern aber ihre nationalen Interessen durchzudrücken versuchen.

Denn wenn Marx seine Äußerungen ernst nehmen würde, müsste am Anfang das Bekenntnis stehen, sich vom Staat loszusagen – also auch von der Finanzierung der Bischöfe und Religionslehrer durch den Steuerzahler. Der Verzicht auf die Kirchensteuer wäre dann der nächste Glaubwürdigkeitsakt, gefolgt vom Bekenntnis, die Kirchenfinanzierung auf einen freiwilligen Beitrag umstellen zu wollen. Und schlussendlich müssten das Multi-Milliarden-Vermögen der Kirchen auf den Prüfstand gestellt und eine Diskussion über dessen sozialen Einsatz orchestriert werden. Schließlich hat doch gerade sein neuer Dienstherr, Papst Franziskus, verkündet, dass nur eine ¨arme Kirche für die Armen¨ die wahre Bestimmung dieser Organisation ist.

Solange das nicht einmal im Ansatz geschieht, das soziale Engagement allenfalls in Aufrufen zu Adveniat, Renovabis und Entwicklungshilfe gipfelt, ansonsten die Kirchenfürsten weiter in Protz und Pomp residieren (der Limburger Ex-Bischof Tebartz van Elst steht hier ja nicht allein, sondern hat, wie dessen Verteidiger immer wieder zeigen, auch viele Fürsprecher), solange ist der Aufruf von Marx nicht für bare Münze zu nehmen, sondern allenfalls als PR-Aktion zu werten. Das Ansehen der Kirche selber wird durch solche Salon-Revolutionäre jedenfalls nicht besser.

Geopolitische Verunsicherung setzt der Konjunktur zu

Blicken die Ökonomen auf die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal, so kommen sie aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: 0,8 % Wachstum zum Quartal davor, gegenüber dem Vorjahr sogar ein Plus von 2,5 %. Außerdem wurde das Wachstum – lange Zeit untypisch für Deutschland – ausschließlich getragen von der Binnennachfrage. Die Kaufkraftgewinne durch deutliche Lohnsteigerungen, die Schaffung neuer Jobs und damit der Abbau der Arbeitslosigkeit haben den Konsum stimuliert. Zugleich erhöhte sich die Investitionsaktivität der Unternehmen. Der milde Winter verhalf ferner der Bauwirtschaft zu ungewöhnlich starker Performance zu dieser Jahreszeit. Der große binnenwirtschaftliche Nachfrageschwung konnte sogar kompensieren, dass der Außenhandel – ebenfalls eher untypisch für die deutsche Wirtschaft – eher bremsend auf das Wachstum einwirkte. Kurz: Der zuletzt immer wieder erhoffte selbsttragende Aufschwung hat sich im ersten Quartal tatsächlich eingestellt.

Mit den neuen Umfragedaten für das deutsche Geschäftsklima wurde den Hoffnungen, dass diese Wachstumskonstellation anhalten könnte, jetzt aber erst einmal ein Dämpfer versetzt. Die Stimmung der deutschen Unternehmen hat sich im Mai eingetrübt. Der vom Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ermittelte Geschäftsklimaindex sank mit 0,8 Punkten stärker als erwartet auf 110,4 Zähler. Während sich die Lageeinschätzung nur um 0,5 Zähler verschlechterte, gingen die Geschäftserwartungen um fast mehr als einen Punkt zurück.

Diese Entwicklung bedeutet noch nicht, dass der Aufschwung nun zusammenfallen wird und sich zyklisch schon die nächste Rezession am Horizont abzeichnet. Vielmehr liegen die Indexwerte weiter deutlich im Aufschwungbereich. Konjunkturbeobachter sprechen denn auch lieber von „Normalisierung“, weil die deutsche Wirtschaft die starke Performance des ersten Quartals einfach nicht habe durchhalten können. Und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn will eher von einer „Verschnaufpause“ reden. Die Unternehmen seien einfach nur „weniger optimistisch“.

Die Gründe für die Stimmungseintrübung sind vielfältig. Dabei ist die Verunsicherung durch die geopolitische Lage im Zuge der Ukraine-Krise sicher an erster Stelle zu nennen. Die Unternehmen sind deshalb einfach vorsichtiger geworden und halten sich mit Investitionsentscheidungen zurück. Eine Entspannung der Situation könnte sich dann später sogar in erhöhten Investitionsausgaben niederschlagen.

Auch die Lage in den Schwellenländern (Unruhen in Brasilien, trübere Wachstumsaussichten in China) lässt Unternehmer eher vorsichtig taktieren. Und auch die Enttäuschung über die schlechte Wirtschaftslage in Frankreich gepaart mit der eher kraftlosen Erholung in den Peripherieländern der Eurozone könnte eine Rolle gespielt haben.

Insgesamt ist vor diesem Hintergrund wohl mit etwas weniger Wachstum im Jahresverlauf zu rechnen. Der Aufwärtstrend aber scheint weiter intakt zu sein, weil vor allem der Privatkonsum als Wachstumstreiber erhalten bleibt wegen der zu erwartenden abermals deutlichen Lohnerhöhungen und der anhaltend niedrigen Zinsen.

„Selbst mit wieder spürbar moderateren Raten ist die Zwei vor dem Komma im Gesamtjahr 2014 sehr wahrscheinlich“, versichert KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner. Das seien sogar „erstaunlich gute Aussichten hierzulande“ angesichts der langsamen Stabilisierung in Europa und weiter ernster Risiken im internationalen Umfeld. Doch müsse die EZB nun beherzt gegen Deflationsrisiken vorgehen, um den Aufschwung zu verstetigen. Die damit einhergehende Abwertung des Euro würde dann für neuen Schwung sorgen.

Auch der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel, zeigt sich gelassen: „Ein Beinbruch ist der Ifo-Rückgang nicht.“ Lothar Hessler von HSBC Trinkaus sagt: „Deutschland wächst wieder so schnell wie vor der Finanzkrise. Der Investitionsstau löst sich zunehmend auf.“ Die Aussichten für die nächsten Quartale seien „unverändert positiv“, betont Stefan Kipar von der BayernLB.

Ökonomische Scheuklappen

Geht es nach den derzeit vorliegenden Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), so haben der Bürgerkrieg in der Ukraine und der Rückfall Moskaus in alte Verhaltensmuster keinen oder kaum Effekte auf den Fortgang der Konjunktur in Europa. Die wirtschaftlichen Aussichten werden unisono als recht positiv dargestellt. Auch Stimmungsumfragen bei Unternehmen signalisieren großen Optimismus. Der Ukraine-Konflikt wird nur am Rande thematisiert. Übermächtig ist offenbar der Drang, nun endlich die lange Rezessionsphase hinter sich lassen zu können. Selbst bei europäischen Unternehmern in Russland ist nur ein gewisser Attentismus auszumachen, wie den Osteuropaumfragen der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB) zu entnehmen ist. Russland halten die Investoren nämlich weiter für einen der „attraktivsten Märkte Mittelosteuropas“.

Aus den Prognosen und Umfragen sprechen eine zutiefst unpolitische Haltung und eine zu enge Fokussierung auf das Tagesgeschäft. Es scheint so, als hätten sich alle Marktakteure sektorale Scheuklappen angelegt: Sie unterschätzen die strukturellen Folgen der geopolitisch neuen Lage. Selbst, wenn sich nun eine gewisse Entspannung in der Ukraine andeutet, hat der Konflikt schon jetzt das Handlungsfeld der Unternehmen verändert: Das Vertrauen in Moskau ist erschüttert, ganz Osteuropa lebt in Angst, Unsicherheit macht sich breit, die Perspektiven sind vernebelt. Langfristig wird dies eine ökonomische Umorientierung des Westens erzwingen: weg von Russland, etwas weniger Osteuropa. Das wird Friktionen verursachen und Wachstum kosten.

Zunächst fällt durch den aktuellen Konflikt die binnenwirtschaftliche Wachstumsperspektive Russlands weg. Womöglich müssen auch Investments abgeschrieben werden. Zudem benötigen die gefährdeten Nachbarn Moskaus Finanzhilfen zur Stärkung gegen einen militärisch übermächtigen Gegner. Ein neuer Kalter Krieg ist zwar nicht zu erwarten, aber die Wirtschaftsbeziehungen der westlichen Unternehmen in Osteuropa erodieren – zudem schwindet die Friedensdividende der vergangenen Jahre. Denn Militärausgaben steigen mit der Bedrohungsangst.

Auch die notwendige Verringerung der Abhängigkeit vom russischen Gas ist für Deutschland teuer. Der massive Aufbau regenerativer Energien kann die Umstellungskosten zwar etwas lindern, doch fehlt es noch an Speicher und Energieträgern, die auch bei Windstille und Wolken verlässlich Strom liefern können. Zumal man nicht auf mehr Gaskraftwerke zurückgreifen kann. Schon die Energiewende 1.0 belastet die Verbraucher und lässt den Blick von Unternehmen sehnsüchtig ins Ausland schweifen. Nun kommt noch der Umbau der Gasversorgung hinzu mit mehr Flüssiggas und neuen Pipelines. Auch mit der Energiewende2.0 sind also massive Kostensteigerungen zu erwarten. Dies wird ebenfalls Wachstumsverluste nach sich ziehen und macht den Standort Deutschland unattraktiver.

Zuletzt hatten Wirtschaftsvertreter die Politik immer etwas naserümpfend von oben betrachtet. Ausgeblendet wurde ihre Bedeutung nicht nur für das Wirtschaftsleben selbst, sondern auch im Hinblick auf die Verlässlichkeit der Handelspartner. Denn nur die Politik kann für Stabilität von Wirtschaftsbeziehung sorgen und eine Wertegemeinschaft etablieren, die das nötige Grundvertrauen dafür herstellt. Die Hoffnung der Wirtschaft, allein mit „Handel“ den politischen „Wandel“ befördern zu können, hat sich nämlich als Fehler herausgestellt.

Diese politische Blindheit setzt sich nun auch in den Prognosen und Stimmungen von Ökonomen und Wirtschaftsakteuren fort, die viel zu optimistisch ausfallen und politische Instabilitäten ausblenden, wie sie etwa auch im Hinblick auf die Parteidiktatur China existieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise rückt deshalb wieder die EU in den Fokus. Brüssel ist eben mehr wert als die Summe der in der Gemeinschaft versammelten Einzelinteressen. Viele Ökonomen unterschlagen das gerne und machen eine rein pekuniäre Rechnung auf für den „Wert“ der EU. Stattdessen sollte es gerade jetzt darum gehen, die europapolitische Basis weiter zu stärken und handlungsfähiger zu machen – auch als Instanz zur Wahrung kontinentaler Interessen. Die EU ist schließlich mehr als ein Tummelplatz für Verbandslobbyisten: Sie ist Garant für das wirtschaftliche Überleben. Und auch viele Kritiker einer transatlantischen Freihandelszone dürften nun etwas kleinlauter werden.

Vorratsdaten vs. Big Data

Auch Wochen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung halten die Beifallsstürme in den Reihen der so genannten Verteidiger des freien Internet weiter an. Nach wie vor ergießt sich hämische Freude über Polizei und Justiz, die jetzt mit Einschränkungen ihrer Ermittlungsarbeit leben müssen. Unvereinbar mit den Grundrechten und unverhältnismäßig sei die bisherige Form der Vorratsdatenspeicherung, urteilten die Luxemburger Richter Anfang April. Zugleich wurden die Hürden für eine Neuregelung überaus hochgehängt.

Der Staat ist böse, so lautet der Kehrreim der selbsternannten Digital-Elite. Wenn es dann aber darum geht, den Verbreitern und Nutzern etwa von Kinderpornographie das Handwerk zu legen, hört man schnell den Vorwurf, der Rechtsstaat tue zu wenig oder betreibe nur Symbolpolitik – so jetzt wieder anlässlich des neuen Gesetzentwurfs von Bundesjustizminister Heiko Maas zur erhöhten Strafbarkeit bei der Veröffentlichung etwa von Nacktfotos. Da manchen Kommentatoren dann offenbar doch ein wenig mulmig wird, zumal sie sich gleichzeitig freuen, wenn der Polizei eine Datenbremse verpasst wird, wird nun hilfsweise das Argument bemüht, das Quasi-Verbot der Vorratsdatenspeicherung würde es nun halt auch den Geheimdiensten schwermachen, ihrer skandalösen Arbeit nachzugehen. Und vielleicht sei es sogar ein Hebel, um womöglich die transatlantische Spionage zu stoppen. Der Naivität in Bezug auf die Arbeit der Geheimdienste sind offenbar keine Grenzen gesetzt.

Erstaunlich wenig regen sich dieselben Internet-Kreise indes darüber auf, zu welchen weitaus fortgeschritteneren Daten-Abzockereien die Internet-Konzerne Facebook, Google, Apple & Co in der Lage sind, ohne durch Gesetzesbestimmungen oder einem öffentlichen Sturm der Entrüstung irgendwie behelligt zu werden. Dabei gehen sie damit noch viel weiter, als sich Polizei und Justiz auch nur ansatzweise trauen würden. Wo bleibt hier der gesellschaftliche Widerstand gegen diese Form der Freiheitsberaubung?

Nur ein paar „altmodische“ Publikationen wie die FAZ stechen hier mit ihrer aufklärerischen Berichterstattung und Analyse positiv heraus, weil es ihnen gelingt, die nötige Sensibilität für dieses Thema unter ihren Lesern zu erzeugen. Es ist auch der Beweis, dass gerade in hochkomplexen Fragen und Themenstellungen verantwortungsbewusster und seinem gesellschaftlichen Auftrag verpflichteter Journalismus besser in der Lage ist, die nötige Differenzierung und Wertung vorzunehmen als die vielgepriesenen sozialen Medien. Diese frönen vielfach nur dem aktuellen Herdentrieb, stürzen sich auf einzelne leicht zu popularisierende Themen mit klar personalisierbarer Freund-Feind-Zuordnung, um dann im Schutze der Anonymität ihren Urinstinkten und Reflexen nachzugeben.

Dass das Gebaren der Digitalkonzerne an vergleichsweise wenigen Stellen im Internet kritisch beäugt und kommentiert wird, ist vielleicht auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die entsprechenden Autoren auf diesem Auge naturgemäß blind sind. Denn sie nehmen die Nutzung von Facebook & Co als ihr Ökosystem wahr und es fehlt ihnen womöglich, weil sie darin „leben“, die nötige kritische Distanz. Sie müssten dann ja ihre eigene Welt infrage stellen.

Dabei ist von der vielgepriesenen Freiheit im Internet inzwischen ohnehin nicht mehr viel übrig, wenn unter ihrem Mantel dunkle Geschäfte und kriminelle Machenschaften gedeckt werden, ohne dass dies – etwa mangels Vorratsdatenspeicherung – geahndet werden kann. Zugleich schwingen sich neue Machtgebilde auf, den digitalen Marktplatz zu okkupieren, und das Nutzerverhalten – also die Marktakteure – zu manipulieren und auszuspionieren. Das geht weit über das hinaus, was in der „Realwirtschaft“ jemals geduldet worden ist. Würden sich Siemens, BASF oder VW solcher Instrumente bedienen, ein Aufschrei ginge durch die Öffentlichkeit.

Zumal Apple, Facebook und Google gleich mehrere Schritte weiter gehen und den Internetnutzern falsche Wahrnehmung zuspielen: Ihr Wissen über die persönlichen Daten ziehen sie heran, um die Suchergebnisse im Netz auf die Nutzer zuzuschneiden gemäß ihren politischen Einstellungen, ihren Lebensumständen, Geschlecht, Alter, Neigungen etc. Und während der Staat als Feind“ dargestellt wird, wollen sie selber natürlich nur das Beste. „Don’t be evil“, schreibt sich etwa Google auf die Fahne. Das Schlimme ist: Viele glauben das offenbar! Und es ist bequem. Schon seit jeher neigen Menschen zur Bequemlichkeit – und eine insofern „sanfte“ Diktatur ist mit dem Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit natürlich immer „bequemer“ als eine Demokratie in Freiheit, wo sich die Menschen selber um ihr Schicksal kümmern müssen.

Energiepolitisch erzwungene Beißhemmung

Noch vor etwa 30 Jahren war der Wunsch nach Versorgungssicherheit und möglichst geringer Abhängigkeit gegenüber einzelnen Lieferländern die innere Leitschnur der deutschen Energiepolitik. Nur dann, so die Argumentation, sei es möglich, außenpolitische Haltungen unbefangen von ökonomisch erzwungenen Rücksichtnahmen zum Ausdruck bringen zu können. Die starke Fokussierung auf die Atomenergie sollte bis in die 80er Jahre hinein sogar eine gewisse Autarkie sicherstellen, weil wegen der hohen Energiedichte des Spaltmaterials bei entsprechender Vorratshaltung ein mehrjähriger Weiterbetrieb der Meiler möglich ist. Die Arbeiten an einer Wiederaufarbeitungsanlage und an einem Brüter-Reaktor waren ebenfalls dazu angelegt, die Gefahr einer politischen Erpressbarkeit weiter zu verringern. Die erste Ölkrise 1973 und die Förderkürzungen im Zuge der islamischen Revolution im Iran 1979 bestärkten dann die damalige Bonner Regierung in der Richtigkeit dieser Politik.

Später wurde die Energiepolitik indes immer mehr von der Umweltpolitik überlagert, und nach dem Ende des Kalten Krieges wurde auch der Versorgungssicherheit angesichts ohnehin vorhandener mannigfaltiger weltweiter Abhängigkeiten und Handelsverflechtungen keine so große Wichtigkeit mehr beigemessen. Und nach dem Reaktorunglück in Fukushima wurde sogar eine grundlegende Energiewende eingeleitet: der Atomausstieg. Während der jahrzehntelangen Ausstiegsphase sollte die Versorgungssicherheit durch die Differenzierung der Lieferländer gesichert und im Verlauf der Entwicklung durch Dezentralisierung und Konzentration auf erneuerbare Energieträger gewährleistet werden. Im Endeffekt, so die Hoffnung, könnte der Einsatz der regenerierbaren Energieträger sogar die Autarkievision vieler Energiepolitiker noch eher realisieren als seinerzeit die Atompolitik – noch dazu ohne Umweltbelastungen.

Wie die gegenwärtige Lage im Hinblick auf mögliche Sanktionen gegenüber Russland im Zuge der Krise in der Ukraine jedoch zeigt, ist die deutsche Energiewirtschaft gerade in der gegenwärtigen Phase in einer kritischen Lage. Sie hat die Wahl: noch umweltschädlicher als ohnehin schon zu produzieren oder noch abhängiger von Importenergien zu werden.

Im vergangenen Jahr stieg der Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid um 20 Mill. Tonnen an. Das liegt etwa daran, weil alte Kohlemeiler weiterlaufen, neue nur zögerlich gebaut werden wegen der großen Widerstände in der Öffentlichkeit, und weil sich der Neubau von modernen Gaskraftwerken nicht mehr lohnt. Vorhandene Kapazitäten werden eher stillgelegt. Zudem: Weil es an Stromspeichern mangelt und die Stromnetze nicht für den Transport etwa von Windstrom ausreichen, sinkt der Strompreis mit jedem neuen Windrad, was die Heranziehung von abgeschriebenen, alten Kohlekraftwerken befördert.

Zunächst hatte wegen der Taktung der Energiewende die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sogar noch zugenommen: Statt neuer Kohlemeiler setzte man anfangs auf moderne Gaskraftwerke, die weniger klimaschädlich sind. Angesichts des Verfalls der Verschmutzungsrechte an der Energiebörse EEX aber hat sich die Lage nun ins Gegenteil verkehrt. Gaskraftwerke sind out. Dafür wird aber im Wärmemarkt aus Klimagründen immer stärker auf Gasfeuerung und gasbetriebene Blockkraftwerke gesetzt.

Mit der außenpolitischen Unabhängigkeit ist es also nicht weit her. Trotz hoher Kapazitäten bei Gasspeichern und möglichen ansteigenden Liefermengen außerrussischer Produzenten würde die deutsche Volkswirtschaft einen mehrmonatigen Gasstopp aus Russland wohl nicht ohne eine tiefe Rezession verkraften können. Die Situation für Moskau mag vergleichsweise schlimmer sein, was hier aber zählt, ist die Stimmung in Deutschland – und die Folgen, auf die sich die Bürger einzustellen hätten.

Die schon seit Jahren geplanten Terminals für die Anlieferung von Flüssiggas könnten erst in einigen Jahren bereitstehen. Hinzu kommt, dass Flüssiggas wegen des höheren Aufwands bei Komprimierung und Anlieferung auf jeden Fall teurer ist als der Pipelinebezug. Die Energiepreise würden also steigen und die Kaufkraft der Menschen empfindlich beschneiden. Allenfalls die Notenbank könnte sich darüber „freuen“, dass es nun mit der Deflationsdebatte ein Ende hätte. Dafür gäbe es aber andere – viel schwerere – wirtschaftliche Probleme.

Es ist derzeit auch noch nicht so weit, dass die nachhaltigen Energieträger die Importabhängigkeit systemstabilisierend senken können. Hierzu fehlen sowohl die nötigen Energiespeicher und die entsprechende Vernetzung. Zumal gegen diese Pläne sowohl die Politik (CSU/Seehofer) als auch viele Bürger Sturm laufen und die Energiewende damit bremsen. Wie beim Berliner Flughafen oder bei der Hamburger Elbphilharmonie dürften Jahrzehnte ins Land streichen, bevor die Erneuerbaren nicht nur bei starkem Wind und hellem Sonnenschein für energetische Entlastung sorgen, sondern zudem auch die nötige politische Versorgungssicherheit gewährleisten würden („gesicherte Kapazitäten“).

Und das Energiesparen? Es ist schlechterdings unmöglich, in wenigen Jahren ganze Großstädte flächendeckend mit Niedrigenergiearchitektur auszustatten. Obendrein gibt es ja auch hier Gegenwind – nicht nur wegen des hohen finanziellen Aufwands, sondern auch in Gestalt etwa der neuen Mietgesetzgebung, die Investitionen in die Bausubstanz erschwert.

Die Krise in der Ukraine und die offenkundig energiepolitisch erzwungene Beißhemmung der Bundesregierung gegenüber russischen Provokationen zeigt das ganze Dilemma, in dem Berlin derzeit steckt: Die Politik steht vor den Scherben ihrer Energiepolitik. Zugleich ist die Umstrukturierung noch nicht so weit vollzogen, als dass sich ein neues Gleichgewicht abzeichnet. Unter der Lupe der außenpolitischen Krise offenbart sich zudem, dass die ganze Energiewende dilettantisch eingefädelt, von aktionistischen Entscheidungen bestimmt wurde, und allenthalben der nötige Masterplan fehlt, die einzelnen Schritte in eine sinnvolle Abfolge zu bringen, die auch von allen verantwortlichen politischen Institutionen (also auch der bayerischen Landesregierung) getragen wird.
Ein Neustart ist notwendiger denn je – aber wie das jüngste EEG-Reförmchen zeigt, das Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel derzeit so vollmundig anpreist, unwahrscheinlicher denn je. Denn die Politik blockiert sich weiter, die Stromkosten für die Bürger steigen an und die deutsche Industrie sucht ihr Heil mehr und mehr im Ausland, wie die nach wie vor manifeste Investitionszurückhaltung zeigt. Für den Standort Deutschland und die außenpolitische Position dieses Landes ist das ein zutiefst enttäuschender Ausblick.

Die Versuchung aus Frankfurt

Von Stephan Lorz
Von Stephan Lorz
Auch wenn Bundesfinanzministger Wolfgang Schäuble nur über 2,5 Mrd. Euro aus dem Bundesbankgewinn direkt verfügen kann und der Rest der insgesamt 4,6 Mrd. Euro in den Investitions- und Tilgungsfonds fließen – eine Versuchung stellt die Überweisung aus Frankfurt aber gleichwohl dar. Zwar sind die 2,5 Mrd. Euro Handgeld ohnehin im Bundeshaushalt „verplant“ gewesen, der Rest aber senkt die Schuldenquote, was fiskalischen Spielraum verschafft und neue Ausgabenideen sprießen lässt. Würde es die Zwangstilgung nicht geben, wäre auch für die gesamten 4,6 Mrd. Euro schnell eine Verwendung gefunden. Wie gefährlich eine solche Haltung allerdings ist, haben die vergangenen zwei Jahre gezeigt, als die Notenbank entgegen den Erwartungen in Berlin nur einen dreistelligen Millionenbetrag ausgeworfen hatte, weshalb die Regierung ihre Planung hastig korrigieren musste. Bleibt die Frage: Warum nicht den ganzen Betrag zur Tilgung hernehmen? Das wäre auf jeden Fall nachhaltiger für den Gesamtstaat. Denn mittelbar käme ein solcher Schritt dem Fiskus durch niedrigere Zinslasten über viele Jahre zugute.

Die kalten Krieger und die Ukraine

Die Sympathie mit den Revolutionären in der Ukraine ist groß. Immerhin haben sie es geschafft, ein kleptokratisches Unrechtsregime zu stürzen. Sie sind nun dabei, demokratische Strukturen im Land einzuziehen und der weit verbreiteten Korruption den Kampf anzusagen. Dass sie hierbei von der westlichen Welt unterstützt werden, ist eigentlich selbstverständlich.

Doch wie bei jeder Revolution liegen auch hier Licht und Schatten eng beeinander: So demokratisch, wie es hierzulande gerne dargestellt wird, geht es nämlich auch unter den Revolutionären nicht zu – geschweige denn, dass sie alle gleichsam die Etablierung einer Demokratie nach westlichem Vorbild im Land anstreben. Viele der Revolutionäre haben lediglich wirtschaftliche Interessen und erhoffen sich mit dem Regimewechsel persönliche Vorteile. Andere wieder vertreten eine bestimmte Volksgruppe und wollen an der neuen Machtposition andere Volksgruppen unterdrücken. Von einer nationalen Einheit ist die Ukraine ohnehin weit entfernt. Und schließlich gehören zu den Revolutionären auch Rechtsextreme, Faschisten und Terroristen – eine Kategorie, in welche die Moskauer Staatsführung und das russische Staatsfernsehen gern alle ukrainische Revolutionäre stecken möchte. Die Faschisten stellen den Korrespondentenberichten zufolge allerdings nur eine Minderheit dar. Gleichwohl muss der im Westen vermittelte positive Eindruck über die Widerständler auf dem Majdan ein Stück weit zurechtgerückt werden. Bestenfalls ist in der Ukraine eine demokratische Firniss sichtbar.

Obendrein stellt sich die Frage, mit welchem moralischen Recht der Westen – vor allem die USA und Großbritannien – jetzt das Vorgehen der russischen Staatsführung verurteilen, nachdem sie sich selbst – ähnlich wie Russland – mit Lug und Trug die Rechtfertigung für den Einmarsch in den Irak geholt hatten oder einem Hilfeersuchen des afghanischen Staatschefs gefolgt waren. Worin unterscheidet sich ihr Verhalten jetzt vom dem Moskaus, das vorgibt auf ein Hilfeersuchen des gestürzten bzw. abgewählten ukrainischen Staatschefs zu reagieren und die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine – aber vor allem auf der Krim – vor Übergriffen schützen zu wollen?

Gewiss, Russland verhält sich völkerrechtswidrig, bricht Verträge und verdient dafür die Verachtung aller Staaten – besonders jener, die sich bisher rechtschaffen verhalten haben. Aber eines ist klar: eine einfache Lösung wird es in diesem Konflikt nicht geben. Die Ukraine ist – nicht zuletzt durch Umsiedlungen in der Zaren- und Sowjetzeit – ein Vielvölkerstaat geworden; die Krim wurde innerhalb des Sowjetreiches sogar erst in den 50er Jahren der ukrainischen Verwaltungseinheit zugeschlagen. Und das Land selbst erhielt erst Anfang der 90er Jahre seine Unabhängigkeit – inklusive der Krim mit deren Sonderstatus. Dass hier Grenzen, gefühlte Zugehörigkeiten und Verwaltungshandeln oftmals nicht zusammenpassen, versteht sich von selbst. Nur ein „runder Tisch“ aller Gruppierungen in der Ukraine kann das Land noch vor der Spaltung bewahren und einen Bürgerkrieg vermeiden. Dabei ist der gegenseitige Respekt und der Aufbau von Vertrauen der Ukrainer untereinander die entscheidende Voraussetzung – woran es derzeit aber zu mangeln scheint, weil auch die Führer der jeweiligen Gruppierungen unterschiedliche Interessen haben und irgendwie nach einer „hidden agenda“ vorgehen.

Das scheinen sich die „alten“ Großmächte Russland und die USA in den vergangenen Monaten zunutze gemacht zu haben. Die eine – Russland – versucht ihre Grenzen zu erweitern und sie gleichzeitig zu arrondieren, indem sie an den bisherigen Außengrenzen die russisch stämmige Bevölkerung „heim ins Reich“ holt. Die andere – die USA (mit Großbritannien) – sieht die Möglichkeit, „den Westen“ weiter „nach Osten“ zu verschieben (wenn nicht das Territorium der ganzen Ukraine, dann zumindest auf einem Teil von ihr). Die EU musste in den Verhandlungen lediglich als Steigbügelhalter herhalten, eine Rolle, welche die amerikanische Botschafterin in der Ukraine ja deutlich mit „Fuck the EU“ beschrieben hatte.

Der „kalte Krieg der Systeme“ scheint damit wieder zurück zu kehren. Es ist deshalb an der Zeit, dass sich eine Staatenkoalition ehrlicher Makler zusammenfindet, um die Scharfmacher auf beiden Seiten zu stoppen und einen politischen Kompromiss auszuarbeiten, der die Demokratie stärkt, das Miteinander der Völkerschaften in der Ukraine befördert und den Militärstrategen auf beiden Seiten Grenzen aufzeigt. Die Drohung der USA mit einem Rauswurf Russlands aus der Ländergruppe der G8 und einer Aufkündigung des Gipfels in Sotschi Anfang Juni ist daher gerade der falsche Weg – liegt aber womöglich im Kalkül der Scharfmacher in Washington begründet. Denn wo gäbe es einen besseren Ort, um mit Moskau Tacheles zu reden, als in Sotschi, also auf russischem Territorium, wo Putin als Gastgeber etwas zurückhaltender reagieren müsste und in der Defensive stünde? Eher sollte man also darauf drängen, den Gipfel noch um einige Monate vorzuziehen.