Energiewende

Ökonomische Scheuklappen

Geht es nach den derzeit vorliegenden Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), so haben der Bürgerkrieg in der Ukraine und der Rückfall Moskaus in alte Verhaltensmuster keinen oder kaum Effekte auf den Fortgang der Konjunktur in Europa. Die wirtschaftlichen Aussichten werden unisono als recht positiv dargestellt. Auch Stimmungsumfragen bei Unternehmen signalisieren großen Optimismus. Der Ukraine-Konflikt wird nur am Rande thematisiert. Übermächtig ist offenbar der Drang, nun endlich die lange Rezessionsphase hinter sich lassen zu können. Selbst bei europäischen Unternehmern in Russland ist nur ein gewisser Attentismus auszumachen, wie den Osteuropaumfragen der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB) zu entnehmen ist. Russland halten die Investoren nämlich weiter für einen der „attraktivsten Märkte Mittelosteuropas“.

Aus den Prognosen und Umfragen sprechen eine zutiefst unpolitische Haltung und eine zu enge Fokussierung auf das Tagesgeschäft. Es scheint so, als hätten sich alle Marktakteure sektorale Scheuklappen angelegt: Sie unterschätzen die strukturellen Folgen der geopolitisch neuen Lage. Selbst, wenn sich nun eine gewisse Entspannung in der Ukraine andeutet, hat der Konflikt schon jetzt das Handlungsfeld der Unternehmen verändert: Das Vertrauen in Moskau ist erschüttert, ganz Osteuropa lebt in Angst, Unsicherheit macht sich breit, die Perspektiven sind vernebelt. Langfristig wird dies eine ökonomische Umorientierung des Westens erzwingen: weg von Russland, etwas weniger Osteuropa. Das wird Friktionen verursachen und Wachstum kosten.

Zunächst fällt durch den aktuellen Konflikt die binnenwirtschaftliche Wachstumsperspektive Russlands weg. Womöglich müssen auch Investments abgeschrieben werden. Zudem benötigen die gefährdeten Nachbarn Moskaus Finanzhilfen zur Stärkung gegen einen militärisch übermächtigen Gegner. Ein neuer Kalter Krieg ist zwar nicht zu erwarten, aber die Wirtschaftsbeziehungen der westlichen Unternehmen in Osteuropa erodieren – zudem schwindet die Friedensdividende der vergangenen Jahre. Denn Militärausgaben steigen mit der Bedrohungsangst.

Auch die notwendige Verringerung der Abhängigkeit vom russischen Gas ist für Deutschland teuer. Der massive Aufbau regenerativer Energien kann die Umstellungskosten zwar etwas lindern, doch fehlt es noch an Speicher und Energieträgern, die auch bei Windstille und Wolken verlässlich Strom liefern können. Zumal man nicht auf mehr Gaskraftwerke zurückgreifen kann. Schon die Energiewende 1.0 belastet die Verbraucher und lässt den Blick von Unternehmen sehnsüchtig ins Ausland schweifen. Nun kommt noch der Umbau der Gasversorgung hinzu mit mehr Flüssiggas und neuen Pipelines. Auch mit der Energiewende2.0 sind also massive Kostensteigerungen zu erwarten. Dies wird ebenfalls Wachstumsverluste nach sich ziehen und macht den Standort Deutschland unattraktiver.

Zuletzt hatten Wirtschaftsvertreter die Politik immer etwas naserümpfend von oben betrachtet. Ausgeblendet wurde ihre Bedeutung nicht nur für das Wirtschaftsleben selbst, sondern auch im Hinblick auf die Verlässlichkeit der Handelspartner. Denn nur die Politik kann für Stabilität von Wirtschaftsbeziehung sorgen und eine Wertegemeinschaft etablieren, die das nötige Grundvertrauen dafür herstellt. Die Hoffnung der Wirtschaft, allein mit „Handel“ den politischen „Wandel“ befördern zu können, hat sich nämlich als Fehler herausgestellt.

Diese politische Blindheit setzt sich nun auch in den Prognosen und Stimmungen von Ökonomen und Wirtschaftsakteuren fort, die viel zu optimistisch ausfallen und politische Instabilitäten ausblenden, wie sie etwa auch im Hinblick auf die Parteidiktatur China existieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise rückt deshalb wieder die EU in den Fokus. Brüssel ist eben mehr wert als die Summe der in der Gemeinschaft versammelten Einzelinteressen. Viele Ökonomen unterschlagen das gerne und machen eine rein pekuniäre Rechnung auf für den „Wert“ der EU. Stattdessen sollte es gerade jetzt darum gehen, die europapolitische Basis weiter zu stärken und handlungsfähiger zu machen – auch als Instanz zur Wahrung kontinentaler Interessen. Die EU ist schließlich mehr als ein Tummelplatz für Verbandslobbyisten: Sie ist Garant für das wirtschaftliche Überleben. Und auch viele Kritiker einer transatlantischen Freihandelszone dürften nun etwas kleinlauter werden.

Energiepolitisch erzwungene Beißhemmung

Noch vor etwa 30 Jahren war der Wunsch nach Versorgungssicherheit und möglichst geringer Abhängigkeit gegenüber einzelnen Lieferländern die innere Leitschnur der deutschen Energiepolitik. Nur dann, so die Argumentation, sei es möglich, außenpolitische Haltungen unbefangen von ökonomisch erzwungenen Rücksichtnahmen zum Ausdruck bringen zu können. Die starke Fokussierung auf die Atomenergie sollte bis in die 80er Jahre hinein sogar eine gewisse Autarkie sicherstellen, weil wegen der hohen Energiedichte des Spaltmaterials bei entsprechender Vorratshaltung ein mehrjähriger Weiterbetrieb der Meiler möglich ist. Die Arbeiten an einer Wiederaufarbeitungsanlage und an einem Brüter-Reaktor waren ebenfalls dazu angelegt, die Gefahr einer politischen Erpressbarkeit weiter zu verringern. Die erste Ölkrise 1973 und die Förderkürzungen im Zuge der islamischen Revolution im Iran 1979 bestärkten dann die damalige Bonner Regierung in der Richtigkeit dieser Politik.

Später wurde die Energiepolitik indes immer mehr von der Umweltpolitik überlagert, und nach dem Ende des Kalten Krieges wurde auch der Versorgungssicherheit angesichts ohnehin vorhandener mannigfaltiger weltweiter Abhängigkeiten und Handelsverflechtungen keine so große Wichtigkeit mehr beigemessen. Und nach dem Reaktorunglück in Fukushima wurde sogar eine grundlegende Energiewende eingeleitet: der Atomausstieg. Während der jahrzehntelangen Ausstiegsphase sollte die Versorgungssicherheit durch die Differenzierung der Lieferländer gesichert und im Verlauf der Entwicklung durch Dezentralisierung und Konzentration auf erneuerbare Energieträger gewährleistet werden. Im Endeffekt, so die Hoffnung, könnte der Einsatz der regenerierbaren Energieträger sogar die Autarkievision vieler Energiepolitiker noch eher realisieren als seinerzeit die Atompolitik – noch dazu ohne Umweltbelastungen.

Wie die gegenwärtige Lage im Hinblick auf mögliche Sanktionen gegenüber Russland im Zuge der Krise in der Ukraine jedoch zeigt, ist die deutsche Energiewirtschaft gerade in der gegenwärtigen Phase in einer kritischen Lage. Sie hat die Wahl: noch umweltschädlicher als ohnehin schon zu produzieren oder noch abhängiger von Importenergien zu werden.

Im vergangenen Jahr stieg der Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid um 20 Mill. Tonnen an. Das liegt etwa daran, weil alte Kohlemeiler weiterlaufen, neue nur zögerlich gebaut werden wegen der großen Widerstände in der Öffentlichkeit, und weil sich der Neubau von modernen Gaskraftwerken nicht mehr lohnt. Vorhandene Kapazitäten werden eher stillgelegt. Zudem: Weil es an Stromspeichern mangelt und die Stromnetze nicht für den Transport etwa von Windstrom ausreichen, sinkt der Strompreis mit jedem neuen Windrad, was die Heranziehung von abgeschriebenen, alten Kohlekraftwerken befördert.

Zunächst hatte wegen der Taktung der Energiewende die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sogar noch zugenommen: Statt neuer Kohlemeiler setzte man anfangs auf moderne Gaskraftwerke, die weniger klimaschädlich sind. Angesichts des Verfalls der Verschmutzungsrechte an der Energiebörse EEX aber hat sich die Lage nun ins Gegenteil verkehrt. Gaskraftwerke sind out. Dafür wird aber im Wärmemarkt aus Klimagründen immer stärker auf Gasfeuerung und gasbetriebene Blockkraftwerke gesetzt.

Mit der außenpolitischen Unabhängigkeit ist es also nicht weit her. Trotz hoher Kapazitäten bei Gasspeichern und möglichen ansteigenden Liefermengen außerrussischer Produzenten würde die deutsche Volkswirtschaft einen mehrmonatigen Gasstopp aus Russland wohl nicht ohne eine tiefe Rezession verkraften können. Die Situation für Moskau mag vergleichsweise schlimmer sein, was hier aber zählt, ist die Stimmung in Deutschland – und die Folgen, auf die sich die Bürger einzustellen hätten.

Die schon seit Jahren geplanten Terminals für die Anlieferung von Flüssiggas könnten erst in einigen Jahren bereitstehen. Hinzu kommt, dass Flüssiggas wegen des höheren Aufwands bei Komprimierung und Anlieferung auf jeden Fall teurer ist als der Pipelinebezug. Die Energiepreise würden also steigen und die Kaufkraft der Menschen empfindlich beschneiden. Allenfalls die Notenbank könnte sich darüber „freuen“, dass es nun mit der Deflationsdebatte ein Ende hätte. Dafür gäbe es aber andere – viel schwerere – wirtschaftliche Probleme.

Es ist derzeit auch noch nicht so weit, dass die nachhaltigen Energieträger die Importabhängigkeit systemstabilisierend senken können. Hierzu fehlen sowohl die nötigen Energiespeicher und die entsprechende Vernetzung. Zumal gegen diese Pläne sowohl die Politik (CSU/Seehofer) als auch viele Bürger Sturm laufen und die Energiewende damit bremsen. Wie beim Berliner Flughafen oder bei der Hamburger Elbphilharmonie dürften Jahrzehnte ins Land streichen, bevor die Erneuerbaren nicht nur bei starkem Wind und hellem Sonnenschein für energetische Entlastung sorgen, sondern zudem auch die nötige politische Versorgungssicherheit gewährleisten würden („gesicherte Kapazitäten“).

Und das Energiesparen? Es ist schlechterdings unmöglich, in wenigen Jahren ganze Großstädte flächendeckend mit Niedrigenergiearchitektur auszustatten. Obendrein gibt es ja auch hier Gegenwind – nicht nur wegen des hohen finanziellen Aufwands, sondern auch in Gestalt etwa der neuen Mietgesetzgebung, die Investitionen in die Bausubstanz erschwert.

Die Krise in der Ukraine und die offenkundig energiepolitisch erzwungene Beißhemmung der Bundesregierung gegenüber russischen Provokationen zeigt das ganze Dilemma, in dem Berlin derzeit steckt: Die Politik steht vor den Scherben ihrer Energiepolitik. Zugleich ist die Umstrukturierung noch nicht so weit vollzogen, als dass sich ein neues Gleichgewicht abzeichnet. Unter der Lupe der außenpolitischen Krise offenbart sich zudem, dass die ganze Energiewende dilettantisch eingefädelt, von aktionistischen Entscheidungen bestimmt wurde, und allenthalben der nötige Masterplan fehlt, die einzelnen Schritte in eine sinnvolle Abfolge zu bringen, die auch von allen verantwortlichen politischen Institutionen (also auch der bayerischen Landesregierung) getragen wird.
Ein Neustart ist notwendiger denn je – aber wie das jüngste EEG-Reförmchen zeigt, das Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel derzeit so vollmundig anpreist, unwahrscheinlicher denn je. Denn die Politik blockiert sich weiter, die Stromkosten für die Bürger steigen an und die deutsche Industrie sucht ihr Heil mehr und mehr im Ausland, wie die nach wie vor manifeste Investitionszurückhaltung zeigt. Für den Standort Deutschland und die außenpolitische Position dieses Landes ist das ein zutiefst enttäuschender Ausblick.