Um die Gefahren, die sich derzeit für die Bürger- und Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter abzeichnen, abschätzen zu können, muss man bloß ein paar Nachrichten der vergangenen Tage aufzählen: Eine kanadische Firma liefert die digitale Filtertechnologie, um die Bürger in Somalia, einem failed state, besser überwachen zu können. Es hat sich zudem herausgestellt, dass die Geheimdienste bei Wikileaks nicht nur gezielt nach Edward Snowdon gefahndet, sondern gleich alle Besucher gespeichert und kategorisiert haben. Außerdem wurde jüngst ein LED-Beleuchtungssystem vorgestellt, das auf die Präsenz von Personen reagieren, Räume überwachen und diese Daten dann weitermelden kann. Dass hier auch Bewegungsprofile, Verhaltensmuster etwa in Büros oder auf öffentlichen Flächen aufgezeichnet und ausgewertet werden, versteht sich von selbst. Wohlgemerkt ist die Technik in Lichtsystemen installiert – der Bürger merkt also gar nichts davon. Unser Big Brother nutzt also bereits Stealth-Technologie: Die digitale Überwachung soll gar nicht mehr wahrgenommen werden, was es dann auch erschwert, dagegen vorzugehen, weil sie in Systemen integriert ist, die andere Vorzüge haben, welche die meisten Bürger nicht missen möchte. Der Widerstand gegen eine solche Aufrüstung mit Überwachungstechnik dürfte zudem auch deshalb schwach ausfallen, weil die wenigsten die Überwachung registrieren. Anders noch die Lage als Polizisten Demonstrationen ostentativ gefilmt haben, oder bei der Debatte über die Präsenz von Überwachungskameras in öffentlichen Räumen.
Mehr und mehr zeichnet sich ab, dass (viele) Staaten und immer mehr Unternehmen unter „Big Data“ letztlich einem schrankenlosen Informations-Totalitarismus huldigen und mit diversen Algorithmen versuchen, die Umwelt zu instrumentalisieren: die Staatsorgane im Sinne eines von ihnen selbst definierten Sicherheitsbedürfnisses, und die Unternehmen zur Maximierung ihrer Gewinne. Schon bald könnte vor diesem Hintergrund Wirklichkeit werden, was in der Kurzgeschichte „Minority Report“ 1956 von Philip K. Dick (2002 mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt) noch als Schrecken einer ferner Zukunft dargestellt worden ist: Computer lassen potenzielle Verbrecher schon vor ihrer Tat verhaften oder eliminieren, weil die Wahrscheinlichkeit für eine entsprechende Tat besonders hoch erscheint. Kurz: Bisher wertet die NSA aus, wo wir gerade sind und mit wem wir wohl in Kontakt stehen. Doch bald wird sie auch für sich beanspruchen wollen zu wissen, wo wir bald sein werden.
Schon jetzt suchen Polizeidienststellen mit Überwachungskameras den öffentlichen Raum nach Verhaltensanomalien ab und lassen ihre Beamten präventiv einschreiten. Sie zeigen Präsenz an gewissen Plätzen, um Taten zu verhindern. Was zunächst durchaus wohlmeinend daherkommt, kann sehr schnell umschlagen. Schon bald können anhand von aufgezeichnetem Datenmaterial Menschen versehentlich in die Schusslinie der Ordnungshüter geraten, weil sie etwa einmal auf ein falsches Link geklickt haben, oder es zu Fehlwahrnehmungen der Computer kommt, Adressen vertauscht, Personen verwechselt werden oder Verhalten schlicht fehlgedeutet wird. Gerät der Verdacht dann – wissentlich oder unwissentlich – in die Öffentlichkeit, ist faktisch eine Beweislastumkehr eingetreten. Der Verdächtige muss seine Unschuld beweisen, nicht der Staat dessen Schuld. Der Rechtsstaat ist zum Unrechtsstaat geworden – nicht plötzlich, nicht durch einen Regimewechsel, sondern schleichend. Der vor dem Bundesgerichtshof entschiedene Fall einer Person, die wegen einer Verwechslung bei der Kreditauskunftei Schufa keinen Kredit bekam, zeigt ja bereits, wie die rechtlichen Automatismen den Rechtsstaat so nach und nach aushöhlen.
Insofern war der Essay des SPD-Europaabgeordneten und Präsidenten des Europaparlaments Martin Schulz in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 6. Februar 2014 ein wichtiger politischer Anstoß, um nun endlich von Grund auf in den Berliner Fluren über die Sicherstellung der Grundrechte auch im digitalen Zeitalter zu beraten. Schulz erkennt die Digitalisierung nicht allein als technisches Problem, sondern als politische Herausforderung und fordert Regierungen und politische Gremien zum Handeln auf.
Nicht allzu viel zu erwarten ist indes in diesem Zusammenhang vom neu konstituierten Bundestagsausschuss für die „digitale Agenda“. Schon die Zusammensetzung des Gremiums zeigt, dass zu wenig Kenner der Materie in das Gremium Eingang gefunden haben. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt; und jedem Volksvertreter in wichtigen Funktionen sollte man zunächst den ehrlichen Willen unterstellen, sich in die Materie auch einarbeiten zu wollen.
Doch die Zeit drängt. Staaten und ihre Geheimdienste, vor allem aber Weltkonzerne vom Schlage eines Google, Facebook oder Apple sind dabei, Fakten zu schaffen. An dem nötigen Widerstand in der Öffentlichkeit fehlt es aber nach wie vor. Lammfromm geben die Menschen ihre Daten drein, um sich darüber zu freuen, dass sie einen kleinen Service, eine App, scheinbar kostenlos erhalten. Der Aufschrei jedenfalls im Umfeld des NSA-Skandals und mit dem Bekanntwerden immer dreisterer Methoden zur Absaugung der Persönlichkeitsdaten von Seiten der Digitalkonzerne ist ausgeblieben. Wenn dann erst einmal Haushaltsgeräte, Lampen, Uhren, Schmuckstücke und Autos alle miteinander vernetzt sind, wird es aber zu spät sein, im Nachhinein noch gesetzliche Regeln aufzustellen und die Fangarme der Datenkraken wieder zu kappen.
Denn die meisten Menschen haben sich bereits an den Zustand des digitalen Exhibitionismus gewöhnt, sie heben die praktischen Vorteile hervor, ohne sich bewusst zu machen, dass sie längst an der Leimrute der Konzerne und Staaten hängen. „Das könnte Ihnen auch gefallen“. „Andere Kunden haben auch bestellt …“ Sie befinden sich in seinem Wohlfühlraum. Ausbruch zwecklos. Denn abweichendes Verhalten wird damit ganz automatisch unterdrückt, weil echte Alternativen gar nicht angeboten werden – und wenn es dann doch einmal geschieht, könnte es schnell als feindliches bzw. schädliches Verhalten interpretiert werden mit Entzug der bisherigen Vorteile oder Meldung an den staatlichen Aufpasser.
Es ist an der Zeit, das Anliegen von Martin Schulz ernst zu nehmen, ihm zur Seite zu springen und seinen Worten nicht mit Häme zu begegnen, wie es derzeit viele selbsternannte „digital Natives“ tun. Denn viel zu viele Politiker denken noch in physischen Produkten und persönlichen Dienstleistungen, sind verhaftet in landwirtschaftlichen Produktionsquoten, debattieren über Arbeitslosenquoten und Produktivität, fordern eine bessere Sozialpolitik oder den Ausbau von Bahngleisen und Brücken. Dass allen traditionellen Politikbereichen aber längst eine digitale Käseglocke übergestülpt wird, ist wohl den wenigsten in Berlin, München oder sonstwo bewusst.