Steuersystem

Kampf gegen die Hydra

Für Berlin ist es wie beim Kampf gegen das Sagenmonster Hydra: „Sie schlagen Köpfe ab, und es wachsen neue Köpfe nach“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert nach den Veröffentlichungen der Paradise Papers, die aggressive Steuergestaltungsmodelle von Unternehmen und Einzelpersonen aufgedeckt haben. Entgegen dem Eindruck, den die öffentliche Empörung vermittelt, sind diese Modelle indes weitgehend legal, allenfalls illegitim. Gleichwohl muss Berlin handeln: Zum einen, weil dadurch Milliarden an Steuereinnahmen verloren gehen, zum anderen, weil normale Steuerzahler zunehmend das Gefühl beschleicht, dass es beim Fiskus unfair zugeht. Und wenn wegen der schwierigen Besteuerung mobilen Kapitals die immobilen Faktoren wie Arbeit noch stärker belastet werden, schwindet die Akzeptanz des Steuersystems noch schneller.

In den vergangenen Jahren war die Politik im Kampf gegen Steuergestaltung deshalb nicht untätig. Im Oktober startete der automatische Finanz-Informationsaustausch. Seit Juni ist das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung rechtskräftig. Es gibt Maßnahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Beps), seit Dezember 2016 den automatischen Informationsaustausch über Tax-Rulings. Und bald kommt das Country-by-Country-Reporting. Bedenklich stimmt indes, dass Berlin nach wie vor regelrechte Steueroasen wie die Isle of Man, die Kanalinseln oder Malta duldet. Dabei müsste Deutschland eigentlich darauf dringen, dass in Europa strengere Regeln nicht bloß für Drittstaaten, sondern auch für EU-Länder gelten, damit sie keine Steuerparadiese mehr sein können.

Was bremst Berlin? Neben europäischer Rücksichtnahme sind das zum einen die eigenen Interessen. Denn viele deutsche Konzerne machen einen großen Teil ihres Geschäfts im Ausland, bezahlen aber den Löwenanteil ihrer Steuern hierzulande. Andernorts nutzen die heimischen Unternehmen Steuerlücken natürlich ebenso, wissen um den Einsatz von Verrechnungspreisen und Lizenzgebühren. Das sichert ihnen die Wettbewerbsfähigkeit. Zum anderen kann der Missbrauch nicht ganz unterbunden werden, weil die Marktfreiheit, immerhin ein konstitutives Element unserer Verfassung, dann weiter beschränkt werden müsste.

Weitere Reparaturen am bestehenden System machen alles aber noch komplizierter und unberechenbarer, was wieder neue Steuerlücken eröffnet. Hinzukommt die Digitalisierung, welche die traditionellen Ansatzpunkte der Besteuerung auflöst. Nachdem bisherigen Besteuerungsprinzip bezahlt ein Konzern die Steuern dort, wo er seine Wertschöpfung generiert. Das ist schon in der analogen Wirtschaft schwer zu verorten, in der digitalen Sphäre aber schier unmöglich. Wo entsteht die Wertschöpfung? Im Kopf der Programmierer im Silicon Valley? Oder dort, wo die Rechner stehen – falls sie überhaupt einen Ort haben? Oder sind es erst die Inputdaten der Kunden, die nutzbar gemacht werden?

Es ist daher Zeit für einen neuen Ansatz: Warum nicht zu einer mehr umsatzbasierten Besteuerung wechseln, die Güter und Dienstleistungen dort besteuert, wo sie verkauft werden, wo also die Kunden sind? Dann schrumpfen die Möglichkeiten zur Steuerminimierung. Anders als Gewinne lassen sich Menschen nämlich nicht beliebig hin- und herschieben. Im Frühjahr wurde diese Idee in den USA schon einmal ventiliert – allerdings mit dem Ziel, die heimische Industrie zu bevorzugen und sich so Exportvorteile zu verschaffen. Deshalb gab es hierzulande einen großen Aufschrei. Jenseits dieser Intention hat die Überlegung aber durchaus Charme. Und anders als bei einer zusätzlichen Mehrwertsteuer dürften Unternehmen bei einer betrieblichen Destination-based Cash-flow-Tax (DBCT) Löhne und Investitionen steuerlich geltend machen.

Mit seinen Vorschlägen einer umsatzbasierten Ausgleichssteuer für Digitalkonzerne geht Brüssel ohnehin schon in diese Richtung. Auch über eine Modernisierung der Definition für „Betriebsstätten“ wird dort nachgedacht. Dadurch kommt man ebenfalls einer verbrauchsorientierten Steuer näher. Statt also weiter Verschärfungen und Anpassungen am alten Steuersystem vorzunehmen, wäre es besser, über dessen Grundmodernisierung zu diskutieren. Knapp 100 Jahre nach den Erzbergerschen Steuerreformen, die heute noch überall durchwirken, ist diese Diskussion längst überfällig. Bloß ist weit und breit in der Politik niemand auszumachen, der systematisch über Soli, Reichen-, Erbschaft- und Vermögensteuer hinausdenkt.