Schäuble

Deutsche Doppelmoral?

Die deutsche Öffentlichkeit orakelt bereits über einen staatlichen „Rettungsplan“ für die Deutsche Bank, obwohl eigentlich die Bail-in-Regelung gilt.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte sich immer gewahr sein, dass drei Finger seiner Hand auf ihn selbst weisen. Im Falle der Bail-in-Problematik ist das von besonderer Bedeutung, weil die deutsche Politik und Öffentlichkeit mit Blick auf die Bankenschieflagen in Italien immer darauf gedrungen hat, sich strikt an die vereinbarten Regeln zu halten. Diese sehen zunächst ein Bail-in von Aktionären, Gläubigern und Sparern vor; sie müssen also zunächst Verluste hinnehmen, bevor die Institute mit Staatshilfen gerettet und gegebenenfalls abgewickelt werden dürfen.

Italiens Staatschef Matteo Renzi hat sich immer gegen diese Vorgehensweise gewehrt und die Haltung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dahingehend aufs Schärfste kritisiert. Die Bail-in-Regeln seien, so kann man seine Argumente zusammenfassen, realitätsfern und würden die Lage der Banken eher noch verschlimmern, zudem die Finanzstabilität gefährden und die Volkswirtschaft insgesamt schädigen. Schützenhilfe bekam Renzi zuletzt von einigen anderen Staatschefs und von Ökonomen wie dem deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger.

Nun, da auf einmal die Deutsche Bank im Feuer steht, in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt ist, einige Beobachter sie sogar schon in einer existenzbedrohenden Schieflage verorten, kamen jedoch auch hierzulande verdächtig schnell Rufe nach Staatshilfe auf. Natürlich nicht in Form konkreter Forderungen, sondern in Meldungen verkleidet, Bundesregierung und Deutsche Bank würden an einem „Rettungsplan“ arbeiten.

Die Deutsche Bank steht enorm unter Druck, nachdem bekannt geworden war, dass in den USA eine Strafzahlung von mehr als 14 Mrd. Dollar (12,5 Mrd. Euro) drohen könnte. Ihr Aktienkurs sackte dramatisch ab. Sowohl die Bundesregierung als auch die Bank dementierten sogleich, dass es dahingehende Gespräche gegeben habe. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte, dass die Bank das wohl allein schaffen werde. Eine solche Formulierung lässt indes Interpretationsspielraum offen.

Ganz abgesehen davon, dass von einer existenzbedrohenden Krise der Deutschen Bank bisher wohl noch nicht die Rede sein kann. Der Finanzkonzern erfüllt offenbar alle regulatorisch nötigen Sicherheitsmargen und ist auch aus den diversen Stresstests einigermaßen stabil hervorgekommen. In höchstem Maße irritierend, wenn nicht sogar demaskierend, ist aber, dass gerade in Deutschland im Falle einer sich womöglich anbahnenden neuen Bankenkrise der Reflex der öffentlichen Meinung sogleich in Richtung Staatshilfen oder Verstaatlichung geht. Von einer zunächst vorgeschalteten Bail-in-Kaskade ist gar keine Rede mehr.

Gerade von den Deutschen, die diese Regelung bisher stets verteidigt haben, weil sie verhindert, dass die Banken leichtfertig Hilfen durch die Steuerzahler einpreisen können, und dadurch auch vorsichtiger agieren müssen, hätte man eigentlich eine andere Haltung erwartet. Ist der Bail-in also tatsächlich so „realitätsfern“, wie die Italiener behaupten, weil Politik und Gesellschaften eben anders ticken?

Schnell bei der Hand ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass die USA nach der Finanzkrise einen anderen Weg eingeschlagen haben: Der Staat hat den Banken Staatshilfen aufgezwungen, sie dadurch unmittelbar stabilisiert, was sie offenbar schneller gesunden ließ. Und der Fiskus konnte später obendrein mit Gewinn wieder aussteigen. Ist das tatsächlich ein besseres Konzept als der Bail-in, für den sich Europa entschieden hat und der auf so viele Widerstände stößt?

Griechischer Lackmustest

Nach dem Wechsel im Athener Finanzministerium vom bunt-schillernden Giannis Varoufakis zum biederen Euklid Tsakalotos ging es ganz flott: Während Ersterer in fünf Monaten das Vertrauen von Investoren, Konsumenten und den anderen Euro-Regierungen verspielte, Griechenland in die Rezession riss und an den Rand eines Grexits brachte, kann Letzterer nach nur drei Wochen Verhandlungen eine Grundsatzeinigung für ein neues Hilfsprogramm vorweisen. Die Gläubigervertreter von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds haben zwar ihre Reformforderungen verschärft, dafür aber die Budgetauflagen deutlich gelockert. Das ist zum einen der dramatisch verschlechterten Wirtschaftslage geschuldet, zum anderen aber auch der Erkenntnis, dass Athen die Einigung den Bürgern erst einmal vermitteln muss. Das Land steht schließlich kurz vor dem Chaos, eine gesellschaftliche Spaltung droht. Sollten nun das Athener Parlament und die Euro-Regierungen dem Ergebnis zustimmen, wäre zumindest ein Grexit vorerst vom Tisch. Die Beteiligten könnten sich um den Wiederaufbau und die Umstrukturierung der Wirtschaft kümmern, dem Land und seinen Menschen eine Perspektive geben – Grundvoraussetzung für eine Wende zum Besseren.

Allerdings wird erst jetzt klar, wie tief die politischen Verletzungen sind, die durch die Athener Provokationen der vergangenen Monate und die anschließende emotionale Eskalation geschlagen wurden: Das Vertrauen in die Reformfähigkeit und Reformwilligkeit Griechenlands hat sich komplett verflüchtigt. Auch wenn Athen sich nun zu Strukturveränderungen bekennt und sogar in Vorleistung tritt – es fehlt schlicht der Glaube, dass die Gesetze auch umgesetzt werden. Zu oft haben Verwaltungen und Gerichte Reformen verschleppt, verwässert, verdreht und missachtet. Nicht nur in Deutschland ist man skeptisch, sondern etwa auch in Finnland oder der Slowakei. Deshalb die Zurückhaltung bei der Bewilligung einer extrahohen ersten Hilfstranche, darum die Forderungen nach „prior actions“, bevor das Geld fließt, und deswegen die Verweigerung von Schuldenerleichterungen bereits zum Start des Hilfsprogramms.

Athen muss jetzt liefern – und zwar zunächst den Beweis, dass es die neuen Vereinbarungen mit Leben erfüllt. Gerade weil er (noch) nicht vom griechischen Clansystem vereinnahmt ist, besteht Hoffnung, dass Regierungschef Alexis Tsipras den Augiasstall ausmisten und dem Land eine neue Perspektive geben könnte. Ein Hoffnungswert – mehr nicht.

Die Eurozone – eine Fußnote in der Geschichte?

Rückblick und Ausblick auf die ökonomischen Debatten über den suboptimalen Währungsraum in Europa – Milton Friedman war Skeptiker von Anfang an.

Die zähen und recht emotional geführten Verhandlungen beim Euro-Gipfel Anfang Juli in Brüssel über das Schicksal Griechenlands haben wieder einmal die Fragilität und Unvollkommenheit der Europäischen Währungsunion offengelegt. Ökonomen halten die im Umgang mit Griechenland und dem Verhalten Athens zutage getretenen Probleme und Verhaltensweisen denn auch nur für ein Symptom eines viel tiefer liegenden Problems. Deutlich zutage getreten ist etwa, wie tief gespalten der Euroraum politisch ist. Denn es geht letztlich um den Charakter der Währungsunion, worüber gestritten worden ist. Soll sie eine Transferunion darstellen oder doch eher ein regelbasiertes Bündnis? Außerdem wurde schmerzlich bewusst, dass es sich bei der Eurozone nicht um einen optimalen Währungsraum handelt, weil es bereits am Mindesten fehlt: neben der Notenbank eine handlungsfähige zentrale politische Entscheidungsgewalt. Stattdessen verhandelten die einzelnen Nationalstaaten darüber, wie man mit einem Mitglied umgehen soll, das sich nicht an Regeln hält. Nicht das gemeinsame Interesse an einem geeinten Europa hat dabei die Hand geführt, sondern die mehr oder weniger mächtigen nationalen Interessen und Vorstellungen einzelner Mitgliedsländer waren entscheidend bei der Kompromisssuche.

Schon lange haben Ökonomen davor gewarnt, dass die Eurozone an ihren – hier wieder zutage getretenen – inneren Widersprüchen scheitern wird. Und deshalb pflegten viele Volkswirte bereits in der Vergangenheit ein eher kritisches Verhältnis zur Europäischen Währungsunion. Star-Ökonom Nouriel Roubini etwa hat immer wieder den „Niedergang der Eurozone“ prophezeit oder ihr „letztes Gefecht“ ausgerufen. Der türkische Volkswirt Kemal Dervis sah die Eurozone bereits „am Abgrund“. Und Daniel Gros vom Brüsseler Center for European Policy Studies hat vor den Gefahren gewarnt, dass eine – wegen ihrer Unzulänglichkeiten – zu technisch und nationalstaatlich ausgerichtete Währungsunion ohne politischen Union nur die Demokratie aushebele.

In verschiedenen Facetten lässt sich ihre Argumentation immer auf ein grundlegendes Muster zurückführen, das Ökonomen bereits 1992 kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht vorgegeben haben. In einem „Manifest“ warnten 62 deutsche Professoren vor einer überhasteten und fehlerhaften Einführung einer Gemeinschaftswährung. Würden die Wirtschaftsstrukturen nicht zuvor angeglichen, würde dies die westeuropäischen Staaten so starken ökonomischen Spannungen aussetzen, dass diese in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen und damit das Integrationsziel gefährden würden.

Im August 1997 schlug der Nobelpreisträger Milton Friedman in die gleiche Kerbe mit einer Denkschrift unter dem Titel „The Euro: Monetary Unity to Political Disunity?“. Frei übersetzt: Ist der Euro eine Art politischer Spaltpilz? Es scheint so, wenn man sich die Vorwürfe der Einzelstaaten und die Diskussionskultur am vergangenen Wochenende (beim Gipfel selbst und in den Medien) vor Augen führt.

Friedman verglich damals die USA mit der Eurozone und betonte, dass es Letzterer schon an der gleichen Sprache, der nötigen Jobmobilität, einer gemeinsamen Identität und vor allem an einer zentralen Instanz mit Durchgriffsrechten fehle. Dieser Mangel werde noch verschlimmert, weil die Eurozone im Gegensatz zu den USA auch einen rigideren Arbeitsmarkt und ein recht starres Lohngefüge aufweise. Alles Entwicklungen, so Friedman, die geradezu nach einem Währungspuffer rufen würden. Daher werde der Euro gerade nicht den erhofften Effekt haben, Deutschland und Frankreich so stark miteinander zu verbinden, dass ein Krieg in Europa künftig undenkbar erscheine. Vielmehr werde das Gegenteil eintreten, prophezeite er: „Die politischen Spannungen würden verschlimmert, weil ökonomische Schocks unterschiedlich verarbeitet und nicht mehr durch den Wechselkurs abgefedert werden.“ Friedmans Urteil: „Politische Einigkeit kann zwar den Weg für eine Währungsunion freimachen. Eine Währungsunion aber, die unter ungünstigen Umständen entstanden ist, wird den Weg zu einer politischen Union eher versperren.“

Im Herbst 2013, als die Krise in der Eurozone bereits viele Spannungsspitzen erlebt und viele Euro-Sondergipfel hinter sich hatte, aber niemand wusste, ob sie nun am Abflauen ist oder nur neue Kraft schöpft, gab es zwei Initiativen, welche vorschlugen, die Europäische Währungsunion auf eine neue – stabilere – Grundlage zu stellen. Eine unparteiische Gruppe deutscher Ökonomen, Rechtsanwälte und Politikwissenschaftler um Henrik Enderlein, Marcel Fratzscher und Clemens Fuest, die Glienecker Gruppe, knüpfte das Überleben der Eurozone an eine politische Union mit einem gemeinsamen Haushalt. Schließlich brauche eine monetäre Union einen Transfermechanismus, um die Folgen schwerer konjunktureller Einbrüche abzumildern, und obendrein eine legitime Regierung, damit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit jederzeit und in allen Ländern gewährleistet werden könnten.

Dagegen hielt der ehemalige Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds (IWF) Ashoka Mody die Etablierung einer politischen Union für unwahrscheinlich, weshalb er riet, sich wieder auf den Grundsatz des No-Bail-out zurückzuziehen – ergänzt um eine Insolvenzordnung für Staaten. Sobald Staaten budgetmäßig über die Stränge schlügen, würden sie von den Märkten sanktioniert. Insofern würden sich die Banken schon darauf einstellen, nicht mehr auf „sichere“ Staatsanleihen setzen zu können. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass Märkte nicht immer zeitnah reagieren, so dass Staaten Gelegenheit haben, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Halbwertszeit der Eurozone dürfte vor diesem Hintergrund eher in Jahren als Jahrzehnten zu messen sein.

Die Persistenz von Übergangslösungen

Auf die Frage, ob die Eurozone noch in fünf Jahren in ihrer aktuellen Form bestehen wird, davon zeigen sich immerhin knapp 71 % der Teilnehmer des European Banking Congress (EBC) in Frankfurt überzeugt. Aber nur die wenigsten erwarten, dass die Krise bis dahin auch schon überstanden ist. Eine knappe Mehrheit hält die unkonventionellen Bemühungen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Wachstumstimulierung zudem für wenig erfolgreich; vier Fünftel glauben, dass die populistischen Parteien in Europa weiteren Zulauf erhalten; und ebenso viele gehen davon aus, dass die Politik sich bis dahin durchwursteln und zu keinem großen Reformakt aufschwingen wird. Das Publikum ist sich zudem einig, dass die Eurozone dafür eigentlich eine Neufassung der EU-Verträge benötigt (66,2 %) und einen eigenen Finanzminister braucht (64,5 %), aber es fehlt der Glaube, dass die Politik das tatsächlich bewerkstelligen kann.

Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zeigt sich im Podiumsgespräch auf dem EBC abgeklärt in seiner Einschätzung über die weitere Entwicklung der Eurozone. Er bekräftigt zwar seine Forderung nach einer Überarbeitung der EU-Verträge, hält dies aber aktuell für nicht mehrheitsfähig. „Wir brauchen dringend Vertragsänderungen“, sagt er. Aber manche Regierung fürchte Vertragsänderungen so sehr „wie der Teufel das Weihwasser“. Derlei tiefgreifende Änderungen seien in der EU nur bei einer weiteren größeren Krise durchsetzbar.

Eine Vertragsänderung ist seiner Meinung nach auch im Falle der europäischen Bankenaufsicht notwendig. Die EZB sei ja nur deshalb mit der Aufsichtsfunktion beauftragt worden, weil sich dies ohne Änderung der EU-Verträge habe durchführen lassen. Die hierdurch entstehenden Interessenkonflikte zwischen Aufsicht und Geldpolitik seien in Kauf genommen worden. Er gesteht aber auch zu, mit der jetzt gefundenen „Übergangslösung“ leben zu können. Damit habe man ja so seine Erfahrungen gemacht, ließ er durchblicken und verwies auf die Zeit bis zum Mauerfall. Es könne dann doch „ganz schnell passieren“.

Die Eurozone zeigt sich nicht nur auf diesem Feld als unvollkommene Währungsunion. Vor allem fehlt es ihr offensichtlich an einer gemeinsamen verantwortlichen Fiskalpolitik als handlungsfähiges Gegenstück zur Geldpolitik. Zugleich herrscht allenthalben Misstrauen der Staaten untereinander. So wird eifersüchtig darüber gewacht, dass kein Mitgliedsland mehr für sich herausholt als andere. Die moralische Versuchung, auf Kosten der Gemeinschaft zu agieren und eigene Lasten dem Kollektiv aufzuhalsen, ist schließlich groß. Und das Misstrauen wächst wegen immer neuer Vorschläge von Regierungen zur Vergemeinschaftung von Haftung. Schäuble attestiert ihnen hierbei „große Kreativität“.

Der Präsident des US-Think-Tank Peterson Institute, Adam S. Posen, sowie der Direktor des Brüsseler Think Tank Bruegel, Guntram B. Wolff, halten Moral Hazard denn auch für eines der größten Risiken der Eurozone überhaupt, weil es Misstrauen säht und die Nationen eher auseinandertreibt. Posen warnt zudem davor, die Unterschiedlichkeit der Staaten zu stark einebnen zu wollen, und Wolff fordert einen neuen „Integrationsschub“.

Schäuble zeigt sich vor diesem Hintergrund überzeugt, dass unter diesen Umständen missliebige Reformen oft nur durch harte Konditionalität etwa von Hilfszusagen durchgesetzt werden können, und spricht dabei von „Peaceful Engineering“. Zugleich dürfe man es nicht bei der Etikettierung neuer Institutionen belassen. Vielmehr müsse etwa auch ein europäischer Finanzminister mit der nötigen Durchsetzungskraft ausgestattet werden, was Schäuble erklärtermaßen unterstützt.

Einen gewissen politischen Realismus legt auch der britische Europaminister David Lidington an den Tag. Er fordert, wie nicht anders zu erwarten, einen Rückbau der Brüsseler Regelungssucht, spricht vom steigenden Frustrationspotenzial in der EU, und wirbt stattdessen für eine Konzentration auf den Binnenmarkt (während er zugleich Einschränkungen bei der Freizügigkeit wegen der Einwanderung in die Sozialsysteme verlangte). Europa müsse letztlich „Wachstum und Jobs liefern“, um sein Dasein zu rechtfertigen. Zugleich zeigte er aber Verständnis dafür, dass für die Eurozonenstaaten eine noch größere Integration überlebenswichtig ist. Dem wolle Großbritannien nicht entgegenstehen.