Politik

Überfällig: Steuerpolitik fürs digitale Zeitalter

Von Stephan Lorz

Neulich im Pendlerzug nach Frankfurt: Diskussion mit einem Volkswirt. Tenor: Unser Steuersystem ist viel zu kompliziert geworden und produziert deshalb immer mehr Ungerechtigkeiten. Steuervereinfachung, mehr Pauschalisierungen und mehr Freibeträge seien unbedingt nötig. Der Aufwand zur Herstellung einer wie auch immer definierten „Gerechtigkeit“ sei immens, Folgewirkungen von Eingriffen überhaupt nicht mehr zu überschauen, gut gemeinte Korrekturen liefen oft aufs Gegenteil hinaus. Letzten Endes würden ja trotzdem nur einzelne Gruppen bevorzugt – und bezahlen müsste jene „Verbesserungen“ ohnehin stets die Mittelschicht. Das Ganze sei obendrein eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Steuerbürokratie und für Anwälte.

Neulich im Pendlerzug zurück nach Aschaffenburg: Diskussion mit einem Anwalt. Tenor: Nein, das Steuersystem sei nicht zu kompliziert. Das sei vielmehr unserer komplexen Gesellschaft geschuldet und eine Folge der politischen Aufgabe, das Steuersystem möglichst gerecht für alle auszugestalten. Pauschalisierungen würden den vielen Einzelfällen ebenso wenig gerecht, wie Vereinfachungen, weil dann nötige Differenzierungen verloren gingen. Und dass sich mit der steigenden Komplexität immer wieder Steuerschlupflöcher auftun würden, sei letztlich nur dem Umstand geschuldet, dass die Bestimmungen nicht wasserdicht formuliert würden, zu wenig an Interpretationen und Folgewirkungen gedacht werde. Der Grund: In der Staatsbürokratie und beim Fiskus fehle schlicht das nötige exzellente Personal dafür. Steuerexperten würden im Staatsdienst eben nicht so gut bezahlt wie in der freien Wirtschaft, weshalb man in letzterer dem Fiskus immer einen Schritt voraus sei.

Eine andere Erklärung: Bürokratie nährt die Bürokratie. Und im Deutschen Bundestag ist ein Berufstypus nun Mal besonders stark vertreten: Beamter und Jurist in Personalunion. Aber sind die Repräsentanten der Unternehmen so viel besser? Viele Berater aus der freien Wirtschaft sind schließlich direkt in den Ministerien zugange; und obendrein wimmelt es dort auch von Lobbyisten. Die warnen schon im Vorfeld neuer Steuergesetze vor dramatischen Folgen für die Gesellschaft (Arbeitsplätze etc.). Aber das Gemeinwohl haben sie dort wohl weniger im Blick als auftragsgemäß das Wohl ihrer Financiers. Auch das Einknicken der Politik vor solchem Lobbyismus trägt zur beklagten Komplexität bei und erschwert jede Steuerreform.

Aber die Zeit drängt. Eine Steuerdiskussion ist angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen von Digitalisierung, der Macht von Algorithmen und der Plattformökonomie (Facebook, Youtube etc.) überfällig. Vor vielen Jahren hatte man damit – gewiss unter anderen Voraussetzungen – schon einmal interessante Ansätze hervorgebracht. Stichwort: Bareis-Kommission, Kirchof’sches Steuergesetzbuch, Negativsteuer, konsumorientiertes Steuersystem. Die Politik zeigte sich aber schon damals wenig beeindruckt und aufnahmefähig. Die meisten Vorschläge wurden zerredet, verwässert und als weltfremd gebrandmarkt. Zumindest hatten Vertreter aus Wissenschaft und Praxis seinerzeit aber den Mut aufgebracht, für die Staatsfinanzierung eine neue zeitgemäße Grundlage zu entwerfen und dies auch öffentlich kundzutun.

Ein solcher Versuch wäre heute wichtiger denn je – nicht zuletzt wegen der Verschiebung der Wertschöpfung hin zu Kapitalinvestitionen und zu virtuellen Gütern. Dies zerstört nämlich sukzessive die Finanzierungsgrundlagen des Steuer- und Sozialstaats. Einseitig belastet werden alle immobilen Personen und Unternehmen, die an der Scholle gebunden sind (als Investor, als Unternehmer und als Arbeitnehmer), während die virtuellen Wertschöpfungsquellen und ihre Geldgeber sich ihren Besteuerungsort quasi frei aussuchen können. Und immer wieder neu gegen die auf diese Weise mögliche Steuervermeidung und -verlagerung vorzugehen, gegen die digitalen Plattform- und Profitmaschinen wie Amazon, Google, Facebook & Co. ins Feld zu ziehen, ohne ein grundlegendes Konzept vor Augen, ist letzten Endes zum Scheitern verurteilt.

Es ist daher an der Zeit, die Blockaden gegen eine große Steuerreform durch festgefahrene Gruppeninteressen und Verhaltensweisen sowie die Bequemlichkeit und Desinteressiertheit der Politik endlich aufzubrechen. Ansonsten erodieren die Finanzgrundlagen des (Sozial-)Staats wegen der Digitalisierung, der rasanten Automatisierung (Roboterisierung) der Wirtschaft sowie der zunehmenden Hegemonie von Plattformökonomien und künftigen Dominanz Künstlicher Intelligenz (KI).

Nebenbei bemerkt: Nicht nur in der Steuerpolitik fehlt es an grundlegenden öffentlichen Debatten als Reaktion auf die sich rasant verändernden Rahmenbedingungen. Das trifft auch die Politik selbst, wo Reformen dafür Sorge tragen müssten, um die Voraussetzungen für und das Funktionieren von Demokratie in einer Zeit der Hassreden, Echokammern und Desinformation in den Sozialen Medien zu gewährleisten. Mehr denn je ist hier die öffentlich finanzierte Wissenschaft aufgerufen, den politischen Repräsentanten Ideen anzubieten, wie die Transformation von analogen in die digitale Marktwirtschaft und von Versammlungsparteien in Wirtshaus-Hinterzimmern zu modernen Plattformparteien gelingen kann, die auch im Cyberraum als „modern“ wahr- und ernstgenommen werden.

Zukunftsvergessenheit als Parteiprogramm

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die Klage über Politikverdrossenheit und das Aufkommen populistischer Parteien jenseits des etablierten Spektrums ist vielgestaltig. Diesbezüglich wurden schon viele tiefenpsychologische Analysen der heimischen Seele angestellt, wird immer wieder die deutsche Historie bemüht oder muss die aktuelle Debatte über soziale Ungleichheit als Erklärungsansatz herhalten. Allerorten suchen Politologen und Politiker nach einem Rezept, um die Menschen wieder mit dem politischen System und seinen Vertretern zu versöhnen. Doch die Gründe für die Krise des politischen Systems sind viel offenkundiger als es die hochkomplexen Analysen vermuten lassen: Ein Blick auf das aktuelle politische Geschehen in der Großen Koalition reicht bereits, um eine Diagnose zu wagen. Denn letztlich geht es um gebrochene politische Versprechen, um das Auseinanderfallen zwischen Wort und Tat, um Klientelpolitik und um Machterhalt um des Amtes willen – im Kern letztlich um die politische Glaubwürdigkeit, die über Jahre verspielt worden ist. Nur eine Verhaltensänderung der politischen Parteien und ein Kulturwandel im politischen Betrieb können die Entwicklung aufhalten und zurückdrehen.

Der jüngste Schub für den Glaubwürdigkeitsverlust: In Interviews und in diversen Verlautbarungen verspricht die Politik den Deutschen eine Digitalisierungsoffensive , um den internationalen Rückstand endlich aufzuholen, man zelebriert den zwischen Bund und Ländern vereinbarten „Digitalpakt“, damit die Schulen endlich Anschluss an das digitale Zeitalter finden, und es werden hohe Geldsummen ins Schaufenster gestellt, die der Bund in die Künstliche Intelligenz investieren will. Und natürlich soll auch der Verteidigungshaushalt – wie international eigentlich versprochen – angehoben werden, damit Deutschland seine sicherheitspolitischen Verpflichtungen erfüllen kann. Insofern sieht es gut aus für die Zukunft unserer Gesellschaft, weil die notwendigen Investitionen vorgenommen werden, damit das Wirtschaftswachstum auch künftig gesichert ist, aus dem Infrastruktur, Soziale Sicherung und das Wohlergehen der Staatsbürger finanziert wird.

Doch auf der Arbeitsebene sieht es dann ganz anders aus. Hier geht es wie immer zunächst um die Einlösung der vielen sozialpolitischen Versprechungen, die stets Vorrang hatten – und offenbar auch haben wie die „Respektrente“. Und plötzlich, so lässt Bundesfinanzminister Scholz (SPD) verlauten, ist für die Zukunftsinvestitionen leider, leider kein Geld mehr da: nichts für KI, die Digitaloffensive bleibt stecken, und für den Digitalpakt steht weniger bereits als ausgemacht. Selbst an der Integration der Zuwanderer – ein entscheidender Punkt für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft – wird gespart. Und natürlich müssen auch die verteidigungspolitischen Ausgaben gekürzt werden. Die Hoffnung auf eine Zukunftsoffensive zerplatzt. Nicht nur Wirtschaftsvertreter sind enttäuscht, sondern auch alle (jungen) Menschen, denen etwas an nachhaltigem Wachstum und einer gedeihlichen Entwicklung liegt.

Die politische Absicht ist klar: es geht um Wählergruppen, die mit den sozialpolitischen Segnungen gewonnen werden sollen. Doch selbst die Profiteure dieser Politik dürften sich ob der darin zum Ausdruck kommenden Zukunftsvergessenheit von den handelnden Parteien abwenden. Denn auch sie wissen, dass nur eine richtige Balance aus Sozialausgaben und Investitionen den Staatshaushalt langfristig zahlungskräftig halten kann; auch sie haben Kinder, denen daran liegt, dass diese kein ökonomisch kaputtes Land übernehmen müssen.

Man fragt sich, wie es passieren kann, dass sich die Politik einer solch kurzfristigen Denkweise befleißigt. Wie können die Unionsparteien, die sich sonst gern als Erbe der Erhard’schen Wirtschaftspolitik sehen, einen solchen Kurs zulassen? Und wie kann die ehemalige Arbeiterpartei SPD, die über Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter doch eigentlich tief in der Realwirtschaft verwurzelt ist, auf die Idee kommen , dass es nur noch um das Hier und Jetzt und nicht mehr um das Morgen geht in der Politik?

Es ist die Ideologisierung allen Tuns in Berlin und den Abgeordnetenhäusern. Zu sehr schmoren die politischen Akteure im eigenen Saft, speisen sich aus staatsnahen Berufsgruppen und der Beamtenschaft. Viele Politiker, die in kommunaler Verantwortung stehen, wissen, dass es ohne die nötige Erdung nicht geht, wissen ob der Gründe, die „Wutbürger“ hervorbringen – und ecken mit ihren Ansichten deshalb zunehmend im politischen Betrieb an. Wenn die etablierten Parteien die Wähler zurückgewinnen will, müssen sie in ihre Glaubwürdigkeit investieren. Und das geht nicht ohne Ehrlichkeit und einen politischen Kulturwandel.

Die inneren und äußeren Feinde des freien Marktes

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben protektionistische und antiliberale Tendenzen befördert, weil sie schädliche Marktkräfte und kapitalistische Exzesse nicht früh und energisch genug gezügelt haben. Das hat die Menschen unserer Wirtschaftsordnung entfremdet und den Boden bereitet für Populisten und Nationalisten, die nun auch die Destabilisierung der Demokratie zum Ziel haben.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Er ist das Gesicht für den gerade im Gange befindlichen Wendepunkt in der Geschichte des Westens: US-Präsident Donald Trump. Mit seinen von Nationalismus und Protektionismus geprägten Handlungen in den vergangenen Monaten steht er für die Zurückdrängung jener Werte, welche die USA einst haben zur Supermacht werden lassen: Marktliberalismus und Globalisierung, internationale Zusammenarbeit und die Verteidigung der freiheitlich-offenen Gesellschaften. Nicht mehr Verhandlung und Ausgleich gelten ihm als die politischen Instrumente der Wahl, sondern Machtprojektion und Einschüchterung. Der Kapitalismus wird nicht als Wirtschaftsmodell gesehen, sondern als Herrschaftsform und politisches Vehikel verstanden. Kein Wunder, dass die Menschen dann zunehmend auch das Zutrauen in die Gemeinwohl fördernde Wirkung der Institution Marktwirtschaft verlieren und nach Alternativen Ausschau halten, wie sie etwa China mit ihrer Form einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit Staatsaufsicht“ durchaus erfolgreich praktiziert.

Man würde nun Trump zu viel Ehre antun, ihn als den Sargnagel freiheitlicher Märkte zu bezeichnen. Er steht nämlich nicht alleine, hat Vorläufer und Mitläufer – und agiert in einem gesellschaftlichen Klima, das solches Verhalten nicht nur toleriert, sondern weitgehend goutiert. Letztendlich ist er sogar das Produkt einer Entwicklung, die eigentlich im Kern des Kapitalismus ihren Ausgang genommen hat. Denn der gesellschaftliche Rückhalt für marktliberale Ordnungen ist schon vorher erodiert.

Politik, Wirtschaft, aber auch viele Ökonomen, die sich stets als Verteidiger von Kapitalismus und Marktwirtschaft aufschwingen, haben durch Handeln und Unterlassen, durch ihre Hybris, über dem Staat zu stehen, und durch einseitige Betrachtungen und Fachblindheit jene Entwicklungen eher noch befördert, welche die Menschen an der herrschenden Wirtschaftsordnung zweifeln ließen. Kurz: Sie haben die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Tuns aus dem Blick verloren – oder schlicht unterschlagen, weil sich sonst die „ökonomischen Lehren“ nicht so klar hätten formulieren lassen. Und in einem Umfeld, in dem die Sorgen vor einem ökonomischen Kontrollverlust durch Globalisierung und Digitalisierung wachsen, diffuse Ängste vor der Komplexität und Unberechenbarkeit des Kapitalismus insgesamt aufkommen, haben Populisten, Verschwörungstheoretiker und Nationalisten schon immer leichtes Spiel gehabt.

Die Rolle der Ökonomen

Alle Marktakteure haben es vor allem versäumt, die Verlierer des Strukturwandels aufzufangen. Das ist speziell in den USA und in Großbritannien sicht- und spürbar, wo die sozialen Sicherungssysteme weitmaschiger sind als hierzulande. Tendenziell ist diese Schlagseite aber – mit Abstrichen – auch in Deutschland feststellbar, wovon etwa die jüngste Hartz-IV-Diskussion über den Umgang mit den Hilfsempfängern zeugt. Fatal hat sich dabei die einseitige ökonomische Argumentation auswirkt, die jede Kritik an der freien Entfaltung der Marktkräfte abgebügelt hat mit dem Hinweis, dass jedwede Einschränkung Wachstum und Jobwachstum entgegenwirken würde. Vielmehr wurde stets einer noch stärkeren Ökonomisierung der Gesellschaft das Wort geredet, indem etwa über höher Studiengebühren schwadroniert wurde.

Dass ein solches ökonomisches Verständnis womöglich die gesellschaftlichen Schichten eher noch mehr verfestigt statt sie durchlässiger macht, kam ihnen nicht in den Sinn – denn dafür fühlten sich die Wirtschaftswissenschaftler nicht zuständig. Im Ergebnis haben die Menschen zunehmend das Vertrauen in den sozialen Aufstieg verloren, wie Studien immer wieder belegen.

Tarif- vs. Managergehälter

Vollends wurde das Vertrauen in jedwede ökonomische Argumentation verspielt, nachdem die Meinungsmacher der wirtschaftspolitischen Debatte in ihrer Argumentation eine fatale Schlagseite zugunsten den Führungsetagen der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmerschaft an den Tag legten. Während Tariflohnsteigerungen lange Zeit stets als „zu hoch“ kritisiert wurden – durchaus mit einiger Berechtigung im Hinblick auf Arbeitskosten -, wurden die bisweilen obszön hohen Gehälter für Manager (und Investmentbanker) von den gleichen Akteuren regelmäßig „als Marktergebnisse“ verteidigt und wurde Kritik daran als „Neiddebatte“ apostrophiert. Dabei wurde zudem vergessen, dass die exorbitant hohen Gehälter ja eigentlich den Erfolg des Unternehmens widerspiegeln sollen, was wiederum doch das Ergebnis aller anderen Mitarbeiter ebenfalls ist und nicht einigen wenigen Personen zugeschrieben werden kann. Derlei Doppelmoral erschüttert natürlich das Vertrauen der Menschen in die letztendlich auch sozial stabilisierende Kraft der Marktwirtschaft.

Gewiss gibt es in einer Marktwirtschaft keine festen Regeln, welches „Einkommen“ und welche „Einkommensunterschiede“ fundamental gerechtfertigt sind angesichts des Erfolgs oder Misserfolgs des jeweiligen Unternehmens, und welche Personengruppen welchen Anteil an den Leistungen oder Fehlleistungen haben, um sie entsprechend zu würdigen oder zu sanktionieren. Aber es geht hier um Geldsummen jenseits aller Größenordnungen – und dies in der Regel für Unternehmenslenker, die weder mit ihrem Gesamtvermögen für das Unternehmen insgesamt einstehen, wie das etwa bei Familienunternehmen der Fall ist. Letztlich sind auch die hochbezahlten Manager Angestellte wie die Pförtner bei der Einlasskontrolle. Ein Denkanstoß: Wer 10 Mill. Euro im Jahr erhält, könnte täglich rund 27.000 Euro ausgeben. Jenseits von Neidgefühlen: Ist das eine Größenordnung, die noch irgendetwas mit persönlicher Leistung eines Angestellten zu tun hat?

Längst, so scheint es, hat sich durch die Usancen im globalen Finanzkapitalismus eine finanzielle Aristokratie herausgebildet, die einer Marktwirtschaft eigentlich fremd sein sollte. Dieses Zweiklassensystem – die da oben, wir da unten – fordert den Klassenkampf förmlich heraus. Noch wirkt dem allerdings das Mantra entgegen, das der britische Kriegspremier Winston Churchill formuliert hat: „Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleiche Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: die gleichmäßige Verteilung des Elends“. Beides keine attraktiven Vorstellungen. Doch, dass der „Kapitalismus ungesund ist – sogar für Kapitalisten“, das Wort des Philosophen Ernst Bloch könnte sich in der nächsten Entwicklungsstufe erfüllen: die Digitalisierung.

Digitalisierung des Kapitalismus

Denn das Zweiklassensystem wird durch die Digitalisierung noch verstärkt: einerseits entziehen sich die Digitalkonzerne ihrer steuerlichen Pflicht durch schlichte Umleitung der Datenströme. Das erschwert dem Staat die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und seiner sozialen Verpflichtungen; zumal in einer Welt, in denen der sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsplatz wohl irgendwann ausgestorben sein wird. Andererseits setzen sich diese Konzerne über nationale Grenzen hinweg, weil sie sich als überstaatliche Entitäten verstehen. Es gibt sogar Planungen, dass diese Multis eins eigene Offshore-Staaten auf riesigen Plattformen auf dem Meer gründen könnten. Eine staatliche Regulierung wird dann nahezu unmöglich, ohne den Datenverkehr komplett zu kontrollieren, was wiederum der Regierungsform einer Demokratie widersprechen würde. Insofern geht es hier auch um die politische Zukunft unserer Gesellschaft – ein Aspekt, der von Verbänden und Ökonomen in der Regel kaum betrachtet wird.

Und schließlich neigen die Digitalkonzerne dazu, Markt und Wettbewerb insgesamt auszuhebeln, weil sie Netzwerkeffekte ausnutzen können. Der Risikokapitalgeber und einflussreiche US-Unternehmer Peter Thiel erteilte dem Wettbewerbsprinzip sogar eine komplette Absage. „Wettbewerb ist etwas für Verlierer“, sagte er und warb für die segensreiche Gemeinwohl steigernde Wirkung von Monopolen. Inzwischen dominieren Facebook und Google 80% aller digitalen Werbeerlöse außerhalb von China. Diese Entwicklung war schon vor Jahren absehbar, doch der Aufstand der Wettbewerbsökonomen und Kartellwächter blieb aus. Während sie lange Zeit die Schrankenlosigkeit des digitalen Marktes verteidigten, weil so junge Märkte schließlich mehr Frei- und Experimentalräume benötigten (als ob es sich hier nicht um Multi-Milliarden-Märkte handeln würde), werden die „analogen Industrien“ durch etablierte Regeln behindert bei der Positionierung in den digitalen Gefilden.

Nach dem Versagen der Ökonomen im Vorfeld der Finanzkrise signalisiert offenbar auch die Digitalisierung, wie groß die Scheuklappen in dieser Wissenschaft sind, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, wie sehr sich „ihre“ Ökonomie digital wandelt, und wo die Herausforderungen liegen, um das Wettbewerbsumfeld zu schützen und den neuen Entwicklungen anzupassen. Bis sich die Gesetzgebung dann darauf einstellt, sind schon längst Tatsachen geschaffen: neue Oligopole und Monopole.

Diese Verfehlungen in der Gegenwart – das Zulassen von immer größer werdenden Einkommens- und Vermögensungleichheit, die Etablierung einer Finanzaristokratie inmitten einer Marktwirtschaft, das Versagen bei der Regulierung der digitalen Welt – hat die Menschen der Marktwirtschaft entfremdet. Sie schenken dem Werben aus Wirtschaft und Wissenschaft für freie Märkte und dem Wettbewerb keinen Glauben mehr. Zumal die Erfolge Chinas ihnen ja auch vorführen, dass die Menschen mit einem staatlich eingeschränkten Wettbewerb ja auch nicht schlecht fahren, dem Westen sogar die Produktionsmittel (Patente, Technologie, Unternehmen) von chinesischen (Staats-)Unternehmen weggekauft werden – und dies ohne Demokratie im Land.

Auch hier haben Unternehmen und Ökonomen zu lange weggeschaut und unterschätzt, wie das „Vorbild China“ auf die hiesigen Gesellschaft wirkt und deren Erfolge im Denken abfärben. Plötzlich scheinen paternalistische oder sozialistische Kommandowirtschaften wieder attraktiv, während die Schwächen der demokratischen Gesellschaften immer stärker in den Vordergrund treten. Insofern schlagen die Loblieder, die über Jahre auf Asien und China gesungen wurden, weil man Umsatz- und Handelserfolge erzielen konnte, plötzlich wieder zurück.

Das lässt die Bürger in demokratischen Staaten am Nutzen der reinen marktwirtschaftlichen Lehre und am Freihandel zweifeln; und der demokratischen Staat kommt in Bedrängnis, weil der nicht in der Lage zu sein scheint, den aktuellen Herausforderungen adäquat zu begegnen, sich ausnehmen lässt von autokratischen Regimen, Digitalkonzernen und einer Finanzaristokratie.

Um das verlorengegangene Vertrauen in die Marktwirtschaft und die Demokratie zurückzugewinnen, und die nationalistischen, populistischen und separatistischen Gruppierungen auch hierzulande zurückzudrängen, braucht es deshalb eine Neubesinnung auf die „Werte des Westens“. Und das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern auch der Wirtschaft und der Wissenschaft. Es geht darum der wachsenden Ungleichheit zu begegnen – und nicht darum, sie bis zur Selbstverleugnung zu verteidigen oder einfach wegzudefinieren. Es geht darum, den Boni-Exzessen einen Riegel vorzuschieben, etwa, indem man analog Zahlungen in entsprechender Höhe an alle Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens zur Verpflichtung macht. Manche deutsche Autohersteller machen das durchaus vor. Und es geht darum, die Liberalität und Freiheit des Marktes zu verteidigen nicht nur gegen den Staat wie bisher, sondern auch gegenüber Unternehmen, die sich als gemeinwohlorientiert darstellen, in Wahrheit aber wie Facebook ein Überwachungs- und Werbekonzern sind.

Viel zu spät wurden die analogen Regeln und Gesetze der digitalen Veränderung angepasst. Und besser heute als morgen muss die Politik Vorschläge ausarbeiten, wie beim Steuerrecht und der Soziale Sicherung entsprechend reagiert. Ob eine Digitalsteuer hier das richtige Instrument ist, darf bezweifelt werden. Wichtig wäre eine – durchaus riskante – aber allumfassende Reform, welche für die analoge wie die digitale Sphäre gleichermaßen gilt.

Signalisiert der Staat, dass er – stets die Sicherheit und Wohlfahrt seiner Bürger im Blick und bereit, diese auch robust zu verteidigen, selbst unter Inkaufnahme von Nachteilen auf anderem Gebiet – sich hier auf den Weg macht, die Marktwirtschaft und Ordnungspolitik neu aufzustellen, dürfte er das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Das bewahrt den freien Markt – und sichert obendrein unsere Demokratie.

Digitale Freiheitsberaubung

Von Stephan Lorz

Die Freiheitsberaubung durch das Internet kommt schleichend daher. Nur wenige Nutzer in den digitalen Gefilden bemerken diesen Angriff auf unsere Selbstbestimmung, weil es sich dabei um eine besondere Form eines Computervirus handelt, das wir uns bei unseren Streifzügen mit dem Rechner, dem Tablet oder dem Smartphone einhandeln. Gemeint ist nicht einer dieser programmierten Quälgeister, die Festplatten löschen, Rechner hijacken und für die „Freilassung“ Lösegeld verlangen, oder persönliche Daten stehlen, um mit fremden Kreditkarten auf Shoppingtour zu gehen. Sondern es ist ein Psycho-Virus, das die Schwächen unserer intellektuellen Immunabwehr ausnutzt: die Bequemlichkeit und die Schnäppchenjägerinstinkte. Beides setzt oft die Vernunft und das kritische Denken außer Kraft.

Was steckt dahinter? Algorithmen lenken immer unverhohlener unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Produkte und Nachrichten, kommen mit dem Versprechen von Authentizität, Objektivität und individuellem Zuschnitt daher. Das freut die meisten Nutzer, weil sich ihre Interessen durchaus decken mit den Vorschlägen von Amazon, Facebook, Google und vergleichbaren Unternehmen in den Weiten des Internet. Dass dafür unser Suchverhalten, unser digitales und analoges Leben ausspioniert und miteinander in den Big-Data-Clouds verknüpft werden, nehmen die meisten dabei sogar in Kauf, weil es ja bequem ist: Der Internet-Browser ist an allen Rechnern identisch konfiguriert, man findet sich sofort zurecht. Überall sind meine Daten, meine Musik, meine Fotos und meine Freunde sowie Kontakte greifbar, weil sie in der Cloud gespeichert und verknüpft sind. Und selbst meinen Warenkorb kann ich überall mit hinnehmen.

Der Mechanismus funktioniert in abgewandelter Form auch für Angebote wie Uber oder AirBnB, die „Mitfahrgelegenheiten“ und „Ferienwohnungen“ bzw. Schlafstätten vermitteln. Wegen ein paar günstigerer Taxifahrten etwa wird hingenommen, dass das Steuer- und Sozialversicherungssystem ausgehebelt wird und sich neue Risiken auftun, die Profite aber weitgehend beim Vermittlungsunternehmen im Ausland landen. Märkte würden lediglich von alten Zöpfen befreit und viel effizienter ausgestaltet, heißt es. Alles werde bequemer – ein Klick genüge. Zwar verlören ein paar Taxifahrer und Hotelangestellte ihre Jobs, dafür aber könne alles billiger angeboten werden. Der Kunde ist König, gibt dafür aber darüber hinaus seine Anonymität preis, wie jüngst bei der Auswertung von Daten zu One-Night-Stands offengelegt worden ist. Das lässt sich prima auswerten.

Auch in der „Industrie 4.0“ werden digitale Schätze gehoben, wenn es etwa um jene Daten geht, die eine Heizungsanlage sammelt, die moderne Autos beim Fahren produzieren oder die eine Smartwatch bzw. ein Fitnessarmband weitermeldet. Versicherungen, Arbeitgeber und Datensammelstellen von Konsumunternehmen sind schon ganz scharf auf diese neuen Schürfmöglichkeiten, die es gilt auszuwerten und mit bestehenden Informationen zu verknüpfen.

Für die Menschen wird das Leben gefühlt tatsächlich leichter, weil der „digitale Butler“ in der Uhr oder im vernetzten Heim aus den gesammelten Informationen der Vergangenheit längst errät, was der Kunde (Proband, Abhängige) will, wonach er sich sehnt. Hat er seine Kreditkarte hinterlegt, kann auch gleich der zur Befriedung der Bedürfnisse notwendige Kauf von Nahrungsmitteln, Filmen oder Gadgets exekutiert werden.

Was die meisten aber nicht wissen und nur wenige ahnen: Die anonyme Auswertung unserer Daten führt zu einer Uniformität und Ausbeutung, die in keinem Verhältnis zu der damit gewonnenen Bequemlichkeit mehr steht. Ausgehend von den in den Daten werden die Menschen durch sanften Druck – Ökonomen sprechen vom Nudging – zu schablonenhaften Verhaltensweisen „erzogen“, was ihnen aber zunächst gar nicht auffällt, weil es sukzessive erfolgt und die Abweichung von ihrer eigenen Prägung zunächst sehr gering ist. Denn sie finden in den „Vorschlägen“ von Apps und Internet-Marktplätzen ja immer wieder eine Bestätigung ihrer eigenen Wünsche. Längst sind sie aber in eine Informationswolke gehüllt, die bereits eine Auswahl darstellt, gleichwohl aber das Gefühl vermittelt, dem freien Willen seinen Lauf zu lassen. Nach und nach werden die Kunden dann in Schubladen ablegt, um sie für den Kommerz besser handhabbar und ausnutzbar zu machen. Das Scoring bei Kreditauskunfteien ist hier nur ein Beispiel von vielen.

Wer sich dem entziehen will, oder durch abnormes und überraschendes Verhalten auffällt, wird aus diesem Raster getilgt oder mit Sanktionen belegt. Wenn sich nur genug Kunden etwa bei Versicherungen für einen günstigeren Tarif einschreiben, der aber die Auswertung von persönlichen Fitnessdaten zur Voraussetzung macht, dreht sich das Machtverhältnis um. Dann werden alle anderen, die das nicht tun wollen, bewusst in deutlich höhere Tarife eingruppiert – gewissermaßen zur Strafe, weil sie dem Unternehmen ihre intimen Daten vorenthalten. Soziale Kontrolle über den Geldbeutel. Das hat etwas von einer Diktatur.

Doch damit ist die digitale (Uni-)Formierung der Menschen nicht beendet: Algorithmen sorgen dafür, dass das Profitinteresse ihrer Auftraggeber in der Netzökonomie immer weiter in den Vordergrund rückt und immer dreistere Züge nimmt. Inzwischen zeigt auch Google (Leitspruch: Don’t be evil!) hier sein wahres Gesicht. Mittlerweile wird Werbung selbst unter die Suchergebnisse von News-Seiten geschmuggelt. Sie kommt schlicht als Neuigkeit daher und formt das Weltbild mit – im Sinne der Werbetreibenden. Eine Auswertung von Nachrichten in sozialen Netzwerken (FAZ vom 14.3.2015) hat ergeben, dass die Entwicklung bereits weit fortgeschritten ist. Die tatsächlichen Nachrichten werden verdrängt durch belanglose aber werberelevante Informationsschnipsel.

Immer enger umgeben uns die großen Anbieter im Netz mit eine Weltsicht, die uns eine heile Kommerzwelt vorgaukelt, die nur unser Bestes will, und dafür wichtige Informationen vorenthält. Oft kommen sie als treusorgender allgegenwärtiger Schatten daher, der uns jeden Wunsch von den Augen abliest. Etwa Amazons Kommerzspion „Echo“, das im Wohnzimmer aufgestellt als Lautsprecher fungiert, zugleich aber nebenbei geäußerte Produktwünsche automatisch in den Warenkorb des Unternehmens verfrachtet – ein Klick genügt, und Amazon ist um eine Bestellung reicher. Schlimmer: Die neue „Hello Barbie“-Puppe von Mattel spioniert selbst die Kleinsten aus und meldet deren Äußerungen nicht nur den Eltern, sondern auch kommerziellen Anbietern. Man kann sich leicht ausmalen, wie schnell vom Kind geäußerte Wünsche etwa nach einem Inline-Skates und anderem von der Werbung ausgeschlachtet und die Eltern damit über diverse Kanäle malträtiert werden bis sie mürbe geworden sind.

Mit der in der Geschichte der Menschheit hart erkämpften Freiheit ist es unter diesen Umständen dann längst vorbei, weil die Widerstandskraft einfach nicht ausreicht, sich der ständigen Attacken der Konsumindustrie zu erwehren. Über die Ausspähversuche der amerikanischen NSA oder des Bundesnachrichtendienstes (BND) wird hinlänglich und emotional debattiert, weil sie eine Gefahr für die Demokratien dieser Welt darstellten, heißt es. Doch eine Diskussion über die Ausbeutung privater Daten durch Unternehmen und die damit einhergehenden subtilen Mechanismen in der Internet-Kommunikation, die den Freiheitsdrang betäuben und die uniformierten Nutzer in einen Kokon aus Bequemlichkeit einhüllen, darüber wird sich allenfalls in elitären Zirkeln ausgetauscht. Es fehlt hier noch an der Sensibilität für dieses Thema – oder an einem entsprechenden Daten-GAU, der die Problematik allen Menschen bewusst macht.

Wird unsere Freiheit also dahinschmelzen und einer digitalen Gedankenpolizei Platz machen, welche die Menschen dann nicht einmal mehr als einengend empfinden, weil sie schon längst kompatibel gemacht worden sind für die Herrschaft der Internetkonzerne? Denn wer in der Zukunft nicht die nötigen digitalen Fähigkeiten mitbringt, um sich den subtilen Mechanismen zu entziehen, müsste schon in die analoge Welt fliehen. Doch dann ist er von dem oft auch beruflich notwendigen Datenstrom abgenabelt. Es ist deshalb auch eine Frage für unsere demokratische Gesellschaft. Denn die Einflussversuche machen ja nicht halt beim Kommerz, sondern formen auch – bewusst oder unbewusst – unser Wahlverhalten, wie der US-Verhaltensforscher Rob Epstein warnt. So habe der Google-Algorithmus mächtigen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen in Indien und den USA gehabt. Es ist also an der Zeit, dass die Politik sich dieses Themas mit aller Ernsthaftigkeit annimmt – sofern es nicht schon zu spät ist.

Aschaffenburg, den 18. März 2015

Zerstörerische Ratschläge

Die Zudringlichkeit, mit der angelsächsisch geprägte Ökonomen in letzter Zeit die deutsche Politik unter Druck setzen, damit sie zur Konjunkturrettung in Europa die Staatsausgaben drastisch erhöhe, und wie sie die Europäer insgesamt dazu drängen, die Konsolidierung zu stoppen, weil diese Politik eine neuerliche Rezession erst regelrecht heraufbeschwöre, ist schon auffällig. Internationale Institutionen wie zuletzt die Organisation zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), oder (seit langem) der Internationale Währungsfonds sowie diverse Starökonomen wie Paul Krugman und Joseph E. Stiglitz werden nicht müde, die Regierungen im Währungsraum zu kreditfinanzierten deutlichen Mehrausgaben zu treiben und die Europäische Zentralbank aufzufordern, die Schleusen für Quantitative Easing (QE) doch noch weiter zu öffnen.

Die „alten“ Wahrheiten, wonach solide Staatsfinanzen die Grundlage für Wirtschaftswachstum darstellen, weil nur so das Vertrauen von Konsumenten und Investoren gewonnen wird, gelten in ihrem Verständnis nicht mehr. Sparen ist sekundär, weil Geld ja einfach so geschaffen werden kann – von den Notenbanken. Sie werden in diesem ökonomischen Universum zum fiskalischen Außenposten der Regierungen und fluten die Märkte mit immer mehr Geld nach dem Motto: viel hilft viel. Die Fed, die Bank of England und auch die Europäische Zentralbank (EZB) sollen sich zu Maschinenräumen der Volkswirtschaften wandeln, die eine Feinsteuerung der Prozesse möglich macht. Der Schritt zur geldpolitischen Planwirtschaft ist dann nicht mehr weit.

Die EZB ist bereits auf diesen Kurs eingeschwenkt und bereitet die Öffentlichkeit darauf vor, dass künftig nicht nur Asset-Backed Securities (ABS) und Unternehmensanleihen, sondern bald auch Staatsanleihen erworben werden, um ihre Bilanzsumme in die Höhe zu treiben. Null- und Negativzinsen reichen nicht mehr – jetzt geht es mit der Brechstange weiter. Inwieweit dieser Kurs die damit eigentlich umworbenen kreditgebenden Banken, Unternehmen und Privathaushalte womöglich eher abschreckt, weil die Verunsicherung ob derlei geldpolitischen Aktionismus eher noch zunimmt, wird nicht einmal diskutiert. Von den langfristigen Folgen für das Vertrauen in die Notenbanken, welches die Grundlage für eine stabile Währung darstellt, ganz zu schweigen.

Schon die Negativzinsen und die immense Liquiditätszufuhr zerstören das Grundvertrauen der Bürger in das Bankenwesen, warnte jetzt die Chefvolkswirtin der Helaba Gertrud R. Traud bei der Vorstellung des Kapitalmarktausblicks für 2015. Auch die Tatsache, dass die geldpolitische Liquidität der jüngsten Zeit eher in die Finanzmärkte abgeflossen und die Börsenkurse getrieben hat, dürfte viele Bürger verärgern. Denn davon profitieren in Deutschland bevorzugt die vermögenden Schichten, während in der Realwirtschaft und bei Otto Normalverbraucher wenig ankommt. Die Ungleichheit im Land wird also eher noch vergrößert. Auch die ständigen Vorhaltungen, dass sich Deutschland und Europa „zu Tode“ spare, stehe der gewünschten Aufbruchsstimmung entgegen, moniert Traud.

Dabei sitzt die Fiskalpolitik in Europa längst nicht mehr im Bremserhäuschen und zügelt die Konjunktur. Das geschieht derzeit eher in den USA, wie Traud nachweist. Und warum kommen die vielen besserwisserischen Ratschläge aus den angelsächsisch beeinflussten ökonomischen Kreisen dann trotzdem noch? Weil die Amerikaner eben „hemdsärmeliger“ sind, erklärt sich das Traud. Amerikaner wollten nicht abwarten und wirken lassen, sondern handeln. Vielleicht aber auch, orakelt die Chefvolkswirtin, „geben uns die Amerikaner nur doofe Ratschläge, damit Europa auch weiterhin schlechter dasteht als sie selbst“.

Kapitalistische Oligarchie

In den USA ist eine heiße Debatte über die schädlichen Wirkungen zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit entbrannt. Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz geißeln die enormen Vermögensgewinne, welche die ohnehin bereits Vermögenden auf Kosten der ärmeren Schichten angehäuft hätten. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) hat unlängst in einer Studie davor gewarnt, dass Ungleichheit tendenziell auch das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft schmälert – von der sich aufstauenden Unruhe unter den Verliererschichten ganz zu schweigen. Manche Stimmen sprechen bereits von einer Finanz-Oligarchie, die sich in den USA breitgemacht und sich den Staat untertan gemacht habe.

Wie weit diese Entwicklung in den USA bereits fortgeschritten ist weit jenseits der hinlänglich bekannten reinen Einkommensbetrachtung zeigt eine Statistik der OECD. Dort wird der Anteil jener Haushalte angegeben, welcher innerhalb eines Jahres schon einmal nicht genug Geld für Nahrung hatte: In der Türkei war dies bei 32,7 Prozent der Privathaushalte schon einmal der Fall und in den reichen USA mit 21,1 Prozent ebenfalls überraschend viel. Pikant ist die Aufstellung, wenn man die Länder betrachtet, in denen die Haushalte diesbezüglich bessergestellt sind: in Russland sind es 21,0 Prozent, die sich eine Mahlzeit einmal nicht leisten konnten, und selbst in Griechenland waren es nur 17,9 Prozent. Zum Vergleich: in Deutschland waren es dank unseres Sozialstaats nur 4,6 Prozent. Die Krone wird dieser Betrachtung aufgesetzt, wenn man bedenkt, dass der US-Kongress im Februar beschlossen hatte, die finanzielle Unterstützung für arme Haushalte beim Kauf von Essen (Food Stamps) zu kürzen.

Auch die Einkommensverteilung spricht für sich. Der US-Ökonom J. Bradford Delong kritisiert, dass inzwischen das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung vom Gesamteinkommen ganze 22 Prozent einstreicht; die reichsten 10 Prozent kommen auf mehr als die Hälfte aller Einkommen in den USA überhaupt. Die Einkommen der 10-Prozent-Topverdiener sei inzwischen zwei Drittel höher als das ihrer „Kollegen“ 20 Jahre zuvor.

Vor wenigen Tagen hat die Debatte nun eine neue Schärfe erhalten mit der These, dass die USA von einer freiheitlichen Marktwirtschaft immer mehr in die Rolle einer oligarchisch geführten Autokratie abgleiten. Der französische Ökonom Thomas Pikkety spricht in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das Krugman als „das wichtigste Wirtschaftsbuch womöglich des Jahrzehnts“ hochleben lässt, von großem Reichtum, der sich immer mehr politischen Einfluss kauft und damit die staatliche Regulierung in seinem Sinne lenkt. Viele Konservative, welche dem Staat Grenzen setzen möchten, lebten zudem in einer intellektuellen Blase von Denkfabriken, die von einer Handvoll extrem reicher Geldgeber finanziert würden, kritisiert Pikkety. Er insinuiert damit auch eine gewisse Lenkung der öffentlichen Meinung, die in Gestalt ökonomischer Fakten und wissenschaftlich gesicherter Zusammenhänge daherkommt und als unabhängig deklariert werde. Wie die Lage der meisten Menschen in der Gesellschaft wirklich ist, unter welchen Mühen sie ihren Unterhalt bestreiten muss, das komme bei den Menschen in dieser Blase gar nicht an, schreibt er vorwurfsvoll. Diese Anklage hat in den USA und in den ökonomischen Blogs einen regelrechten Debattensturm entfacht.

Als Beleg für eine von einer (Kapital-)Machtelite gelenkten Politik führen die Ökonomen etwa die steuerliche Begünstigung von Vermögenseinkommen gegenüber den Einkommen abhängig Beschäftigter an. Oder die Rettungspolitik im Nachgang zur Finanzkrise. Auch die ultralockere Geldpolitik der US-Notenbank Fed, betont etwa Krugman, hätte zusammen mit den Anleihekäufen in diese Richtung gewirkt. Schließlich seien Banken gerettet worden, und zuvorderst würden sie zusammen mit den großen Investoren von dieser Politik profitieren, weil sie kaum Abschreibungen vornehmen müssten. Der international bekannte Wirtschaftshistoriker Harold James verweist auf den Erleichterungsboom, der durch die unkonventionelle Geldpolitik losgetreten worden sei. Von den Kursgewinnen hätte nur eine Minderheit profitiert, die an den Finanzmärkten engagiert sei. Schon jetzt, so Krugman, stelle die Politik die Interessen der Reichen stets über jene der Normalbürger. Überschreite diese Ungleichheit zudem ein gewisses Maß, nähre sie sich stetig selber. Krugman: Reichtum dominiert die Arbeit.

Einen Grund für diese Politik sehen Ökonomen wie Krugman in der Tatsache, dass die handelnden Politiker selbst zu den Top-Vermögenden zu rechnen sind und damit auch Ihresgleichen bevorzugen. 20 Prozent der reichten Amerikaner würden 85 Prozent der Finanzanlagen besitzen. Und fast alle US-Senatoren gehörten schließlich zu den Top-Ein-Prozent der reichsten Amerikaner, weshalb sie ein Interesse hätten, dass die Vermögenseinkommen durch Finanzkrisen oder die Politik eben nicht geschmälert oder gar vernichtet würden.

Derzeit, so befürchten Pikkety, Krugman und Stiglitz verschlimmere sich die Lage noch. Zum einen, weil die Wirtschaft in den Industrieländern insgesamt nicht mehr so schnell wächst, weshalb auch die Entwicklung der Lohneinkommen stets hinter den Vermögenseinkommen hinterherhinken würde. Denn letztere würden weltweit angelegt, wo die Renditen noch höher seien, während die Arbeit lokal verhaftet sei und mit Niedriglohnländern konkurrieren müsse. Zum anderen, weil sich zudem ein aggressiv agierender „Erbkapitalismus“ gebildet hätte, wie Krugman kritisiert.

Denn ein immer größerer Teil der Superreichen hat sein Vermögen inzwischen ererbt. Sechs der zehn reichsten Amerikaner seien Erben und keine Unternehmer aus eigener Kraft, führt er an. Die Kommandobrücken der Wirtschaft würden damit nicht vom Reichtum schlechthin, was schon schlimm genug sei, beherrscht, sondern von ererbtem Reichtum. Und Pikkety schreibt vor diesem Hintergrund: „Die Gefahr einer Entwicklung zur Oligarchie ist real und berechtigt zu wenig Optimismus“.

Das von den zitierten Ökonomen skizzierte Gesellschaftsbild, in dem eine gierige reiche Minderheit sich der Wirtschaftskraft einer ganzen Nation bemächtigt hat, mag überzeichnet sein, viele Aspekte und manche Erfahrungen zeigen, dass zumindest der Versuch im Kapitalismus immanent ist, sich gewisse Vorteile zu erschleichen – über Politik, Institutionen aber auch die öffentliche Meinung. Der Kampf vieler Ökonomen gegen die erdrückende Dominanz des Staats auch in der Wirtschaft, gegen Überregulierung und für Privatisierung mag anfangs berechtigt gewesen sein (und ist es in vielen Bereichen und Staaten immer noch), doch ging dieser weit über das notwendige Maß hinaus, als etwa auch die ordnungssetzende Macht des Staates ebenso zurückgedrängt worden ist. Das hat der Spekulation und verbrecherischen Aktivitäten in der Wirtschaft Raum gegeben und Profite in die Taschen von Falschspielern gelenkt, wie jetzt anhand von vielen Prozessen so nach und nach ans Tageslicht kommt.

Die Demontage der Demokratie

Das wird in zehn Jahren eintreten
Quelle: IfD Allensbach

Wie morsch das Gebälk der Demokratie in einigen Staaten der westlichen Welt inzwischen geworden ist, zeigt eine neue Veröffentlichung zu den Aktivitäten des US-Geheimdienstes NSA und seinem britischen Gegenstück GCHQ. Heise-Online berichtete mit Verweis auf einer neuen Enthüllung des US-TV-Senders NBC, dass die eigentlich demokratischen Werten verpflichteten Regierungsstellen in den genannten Ländern weit über „Horch & Guck“ hinausgehen. Sie beobachten also nicht nur, verknüpfen die Informationen und geben sie dann gewissermaßen veredelt weiter zum Vorteil ihrer jeweiligen Regierung, sondern greifen aktiv in die Datenstrukturen und den Internet-Verkehr ein, verunglimpfen Personen, machen sie mundtot, verändern Informationen und zerstören Menschen, indem sie ihnen falsche Äußerungen unterschieben sowie einen Verdacht gegen sie in die Welt setzen und diesen dann streuen. Und solche Taktiken werden nicht nur gegen Terroristen und Verbrechersyndikate genutzt, sondern auch gegen – wie auch immer definierte – missliebige Personen, wie es heißt.

Es ist erschreckend und in höchstem Maß verstörend, wie durch solche Handlungen die westliche Demokratie insgesamt desavouiert und von innen heraus zerstört wird. An der Oberfläche sonnt sich US-Präsident Barack Obama noch im Licht der Werte von Freiheit und Demokratie, die als Vorbild für andere Staaten gelten sollen und den dunklen Regimen etwa in Russland und China entgegen gesetzt werden. Doch im Inneren hat die Demontage der Demokratie längst begonnen, wenn der freie Informationsfluss gelenkt, missliebige Personen diskreditiert, den Menschen eine andere Welt vorgespiegelt wird. Was unterscheidet NSA und GCHQ dann noch von der „Stasi“, der Staatssicherheit in der DDR – und so manch dunkler Zukunftsvision aus Science-Fiction-Romanen? Es braucht nur wie in Ungarn ein „Volkstribun“ vom Schlage eines Viktor Orbán „demokratisch“ an die Macht kommen. Mit diesen Beeinflussungsmöglichkeiten versehen, verkommt eine Demokratie dann schnell zur hohlen Phrase.

Umso verstörender ist, dass Politik und Öffentlichkeit diesen Themen so wenig Interesse entgegenbringen. Das steht im krassen Gegensatz zur Selbstgefälligkeit, mit der sich Bürger wie Politiker in der westlichen Welt so gerne als „Demokraten“ begreifen. In allen europäischen Staaten spielt das Thema einer Presseschau zufolge keine große Rolle mehr. Man arrangiert sich, geht zur Tagesordnung über. Es scheint, dass eine gewisse Sättigung erreicht ist. Offenbar wird das Risikopotenzial dieser neu entstandenen Lage nicht erkannt. Das zeigt auch eine aktuelle Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts. 69 Prozent der Befragten meinen danach, dass die Menschen sich wohl damit abfinden werden, dass ihre persönlichen Daten im Internet nicht sicher sind. 66 Prozent erwarten schlicht, dass Forscher und Wissenschaftler schon neue technische Möglichkeiten entwickeln werden, damit Datenmissbrauch besser unterbunden wird. Dann müsste sich die Politik aber wohl mehr um das Thema kümmern. Gleichzeitig gehen aber 63 Prozent davon aus, dass die Menschen noch mehr persönliche Informationen preisgeben als heute. Sie schätzen sich selbst also so ein. Nur 37 Prozent setzen auf den Staat, dass dieser für einen besseren Schutz für persönliche Daten im Internet schon sorgen wird.

Ist das bereits eine Kapitulation? Es scheint fast so. Und Politik sowie Intellektuelle, die sich sonst bei jedem noch so kleinen Skandälchen aufregen und die Talkshows bevölkern, zeigen sich stoisch und irgendwie desinteressiert. Warum nur?

Karlsruher Dilemma

Es ist von „Kompetenzüberschreitung“ die Rede, von einer unterschwelligen „Verlagerung von Hoheitsrechten“, es wird die Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht konstatiert und eine „Umgehung“ des Verbots der Staatsfinanzierung kritisiert. Liest man die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu seinem Beschluss, die Frage nach einer Mandatsüberschreitung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Zuge der Eurorettungsmaßnahmen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen, so wird klar, dass die Richter das Anleihekaufprogramm OMT klar als verfassungswidrig eingeordnet und sofort unterbunden hätten – wenn es allein nach ihnen gegangen wäre.

Doch Karlsruhe sah sich offensichtlich diversen Zwängen ausgesetzt. Zum einen hatten die Richter wohl Bedenken, dass ein solches Verdikt die Euro-Krise in ihrer ganzen Schärfe hätte wiederaufleben lassen; womöglich mit der Folge, dass die Währungsunion ganz zerbrochen wäre. Das hätte man dann allein ihnen zur Last gelegt. Das Risiko einer solchen Katastrophe wollten sie offensichtlich nicht tragen. Zum anderen ist für die Rechtsaufsicht der EZB formal allein der EuGH zuständig. Schon in der Vergangenheit hatten sich die Karlsruher Richter in europapolitischen Fragen zurückgehalten und sich hilfsweise auf die nationalen Folgen für die heimischen Verfassungsorgane konzentriert. Ausfluss dieser Haltung war immer ihre Forderung, dem Parlament mehr Mitsprachemöglichkeiten in Europafragen einzuräumen. Im Falle der EZB hätte das BVerfG nun aber eine Europainstitution direkt maßregeln müssen, was auf eine europäische Verfassungskrise hinausgelaufen wäre.

Vor diesem Hintergrund ist der Vorlagebeschluss an den EuGH zumindest klug eingefädelt, indem man den Richtern dort zugleich die eigene Sicht der Lage vor Augen führt. Bislang hatten die Luxemburger nämlich jedwede Kritik an Kompetenzüberschreitungen europäischer Institutionen abtropfen lassen und diesen sogar einen weiten Interpretationsspielraum eingeräumt. Auch im Fall des OMT ist deshalb vom EuGH eher ein „Freispruch“ zu erwarten. Allerdings können die Luxemburger Richter die Argumente der Karlsruher Kollegen nun nicht einfach übergehen. Tun sie das trotzdem, ist der Konflikt programmiert. Denn die deutschen Richter können dann nicht einfach hinter ihre bisherige Position zurückfallen, sondern müssen ihrer Rechtsauffassung gemäß deutschen Institutionen – also auch der Bundesbank – dann die institutionelle Mitwirkung im Europaverbund untersagen. Das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH bezieht sich nur auf das Europarecht.

Diese Konstellation dürfte auch die Europarichter nicht kaltlassen und sie dazu bewegen, dem Fingerzeig ihrer Karlsruher Kollegen zu folgen. Die signalisieren nämlich durchaus Kompromissbereitschaft: Wenn das OMT-Programm gedeckelt, die mittelbare Staatsfinanzierung unterbunden, die Inkaufnahme eines Schuldenschnitts ausgeschlossen und der EZB rechtliche Grenzen aufgezeigt würden, wären sie zufrieden. Anderenfalls stünde Europa die nächste politische Eskalation bevor.

Die teilweise heftigen Reaktionen zum Verhalten des Bundesverfassungsgerichts sind symptomatisch für die latente Instabilität der Europäischen Währungsunion: Die Integration hat inzwischen eine Tiefe erreicht, die sich weder in der Verfasstheit der gemeinsamen Institutionen widerspiegelt noch in der Haltung der Europäer. Verschiedene Mentalitäten und Rechtstraditionen prallen aufeinander. In der Euro-Krise haben sich die Gesellschaften eher noch mehr auseinandergelebt, sich wieder auf nationale Interessen besonnen. Jeder Konflikt führt zu noch mehr Animositäten. Auch von politischer Seite ist keine Überwindung der Konflikte zu erwarten.

Die Verfassungsrichter haben letztlich nur ihre institutionellen Grenzen formal anerkannt, wonach der EuGH inzwischen die oberste Rechtsprechung in Europa darstellt. Für viele eher national ausgerichtete Beobachter ist diese Erkenntnis zunächst einmal ein Schock – vielleicht ein heilsamer. Nun müssen die Richter am EuGH beweisen, dass sie dieser Machtposition auch gewachsen sind. Es darf nicht sein, dass ihre Rechtsprechung immer nur darin besteht, europäischen Institutionen Recht zu geben und diesen immer mehr Kompetenzen zuzuschanzen. Der Ärger über Europa insgesamt könnte sonst ein Ausmaß annehmen, das alle Schreckensszenarien in den Schatten stellt, über die in der Euro-Krise fabuliert wurde.

(Börsen-Zeitung, 8.2.2014)

Zwischen „Neuer Drachme“ und „Hart-Euro“

Die weiterhin schwelende Euro-Krise hat gleich mehrere Dimensionen: Zunächst waren die Banken betroffen wegen geplatzter Investments und fauler (Bau-)Kredite, dann viele Staaten, die ihnen aus der Patsche geholfen, sich damit aber verhoben hatten, und zu guter Letzt zeigte sich unter der erhöhten Wahrnehmung der Marktakteure, dass einige Volkswirtschaften jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt haben. Letzteres war vor allem in Griechenland der Fall, weshalb viele Ökonomen darüber nachsinnen, wie man die Lage in den Griff bekommen kann, ohne dass Athen aus der Währungsunion ausscheiden muss.

Die Einführung einer Parallelwährung wäre so ein Vorschlag, der sich in jüngster Zeit immer größerer Beliebtheit erfreut. Wie der Mannheimer Ökonom Roland Vaubel unlängst in einem Vortrag vor dem Center for Financial Studies (CFS) darlegte, gibt es dafür zahlreiche Beispiele angefangen im Altertum, über das staatliche Papiergeld in England, Preußen und Frankreich der Neuzeit, den „Continental Bills“ in den USA und den privaten Banknoten während der Weimarer Hyperinflation. Vorschläge für eine Parallelwährung wurden überdies in den siebziger Jahren unterbreitet, um die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung über einen Wettbewerb der Währungen zu orchestrieren.

Zu Letzterem ist es bekanntermaßen nicht gekommen. Der Euro wurde verhandelt, vertraglich festgelegt und staatlich verfügt, obgleich die Inflationsdifferenzen zwischen den Ländern immer größer wurden und die Stabilitätsmentalität in der Gemeinschaft so heterogen blieb wie zuvor. Inzwischen hat sich ein enormer Wechselkursänderungsbedarf aufgestaut, der nach Meinung von Vaubel nur durch die Einführung etwa einer „Neuen Drachme“ in Griechenland als Parallelwährung oder – umgekehrt – einem „Hart-Euro“ für Deutschland, wie jüngst vom Münsteraner Ökonom Ulrich van Suntum vorgeschlagen, entspannen könnte.

Im Fall Griechenlands hätte eine sukzessiv abwertende Parallelwährung vor allem den Vorteil, die notwendige Anpassung der Löhne nach unten noch weiter zu treiben. Denn dieser Prozess ist ins Stocken geraten. Zum einen, weil die Bevölkerung blockiert und Reformpolitikern den Laufpass gibt. Zum anderen, weil immer häufiger Gerichte Lohnkürzungen einfach für verfassungswidrig und damit für nichtig erklären. Mit einer abwertenden Drachme könnte dieser Prozess durch die Hintertür fortgeführt werden.

Doch diese Idee ist nur auf dem ersten Blick elegant – und in der Praxis eher riskant. Warum sollten die Bürger in Griechenland darauf eingehen? Die Tarifparteien würden wohl einfach einen Automatismus einbauen, um die Löhne in Drachme stets auf Höhe des Euro zu halten. Zudem würden die Märkte schon beim geringsten Gerücht über ein solches Vorhaben verrückt spielen. „Eine Lösung der Krise“, weiß Vaubel selbst, „kommt letztlich nur durch die innere Einsicht der Bürger zustande“. Um die schwierige politische Überzeugungsarbeit kommen die Euro-Retter also nicht herum. Und die Chancen, dass es ihnen gelingt, stehen schlecht. Die Abstimmung bei der Europawahl im Mai dürfte ihnen die Arbeit nicht gerade erleichtern.