Ordnungspolitik

Ökonomen ohne Kompass

Der Wettbewerb als konstituierendes Element der Marktwirtschaft kommt unter die Räder – Wirtschaftswissenschaftler als Anwälte von Oligopolen – Digitalwirtschaft verlangt neues Denken

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Wettbewerb – darum dreht sich alles in der Ökonomie. Es ist der zentrale Mechanismus, ohne den die Marktwirtschaft ihren Namen nicht verdienen würde. Denn ohne die nötige Rivalität auf dem ökonomischen Marktplatz würde der Anreiz zu möglichst innovativen und qualitativ hochwertigen Produkten und Prozessen fehlen, und der Druck auf die Preise würde nachlassen. Aus Sicht der Ökonomen ist dabei entscheidend, dass sich der Staat möglichst weitgehend zurückhält, um die Marktverzerrung möglichst gering zu halten. Je geringer öffentlicher Einfluss, desto besser für die Preisbildung als Steuerungsmechanismus. Hohes Wachstum, mehr Wohlstand sind die Folge. So lautet zumindest das Mantra der Mehrzahl aller Ökonomen im westlichen Kulturkreis.

Doch inzwischen sind Zweifel angebracht, ob die ökonomische Zunft den „Wettbewerb“ weiterhin so absolut ins Zentrum rückt, wie in den Zeiten, als die Meinung vorherrschte, dass das Gemeinwohl in der Marktwirtschaft durch Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung zu erreichen ist. Diese Kampfbegriffe hatten sich tief in die Programme der politischen Parteien hinein gegraben.

Inzwischen erscheint die „Größe“ eines Konzerns etwa auf dem digitalen Markt viel wichtiger, und nimmt man sogar Oligopole und Monopole hin, weil das als geradezu konsumentenfreundlich gilt. Der Präsident der Monopolkommission, Achim Wambach, fabulierte jüngst in einem Interview, die Fusion von Unitymedia und Vodafone schaffe einen großen neuen Spieler auf dem Breitband-Markt, was den Wettbewerb dort beleben werde. „Das wird eine positive Wirkung auf den Breitbandausbau haben.“ Allenfalls bei der Übertragung von TV-Programmen über das Kabel könne es „Probleme“ geben.

Auch bei den Internetkonzernen hat sich eine gewisse wettbewerbspolitische „Beißhemmung“ breitgemacht mit dem Argument, der digitale Markt funktioniere schlicht anders, sei mit herkömmlichen Regularien nicht zu analysieren, würde sich ohnehin erst ausformen; außerdem würden Regulierungen oder eine Zerschlagung von Konzernen zu großer Marktmacht die Innovationsdynamik ersticken. Und schließlich laufe es ja gut – den Kunden entstünden keine Nachteile, weil die meisten Dienste ja kostenfrei seien und sich die Vorteile erst durch Bündelung auf Plattformen breitmachen könnten. Mit dieser Argumentation könnte man sogar einer Verstaatlichung das Wort reden, natürlich nur bei einem Staat, der wie Apple, Google oder Faceboot nur das Gute will.

Hat sich die moderne Ökonomie also nur den neuen Gegebenheiten angepasst? Gelten die bisherigen Grundsätze nicht mehr, wonach Wettbewerb unter allen Umständen geschützt bzw. wiederhergestellt werden muss, um eine faire Preisbildung zu ermöglichen? Oder mangelt es der modernen Ökonomie, die so gerne der Politik die Leviten liest, einfach an ordnungspolitischen Grundsätzen, weil sie sich zu sehr vor den Karren der Konzerne spannen lassen und deren Argumentationen aufnehmen?

Mit der Finanzkrise hatten die Wirtschaftswissenschaftler bereits ihre erste Kehrtwendung vollzogen. Der Zunft wurde schlagartig klar, dass „der Staat“, den sie bisher verteufelt und möglichst aus Spiel halten wollten, nicht per se zu den „Bösen“ zählt. Die einschlägigen Forderungen nach mehr „Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung“ galten als überzogen. Und in der Tat ist der Staat eben nicht immer Bremser, Absahner und Akteur, der nur falsche Anreize setzt und damit Sand ins ökonomische Getriebe streut, die Akteure abhält, ihre Innovationskraft und ihren Ehrgeiz auszuleben. Ohne die nötige Rahmengesetzgebung, welche die Wirtschaft etwa davor schützt, den Wettbewerb auszuhebeln oder dem Staat die Risiken aufzubürden, der für gleiche Wettbewerbsverhältnisse und den humanen Umgang mit den Mitarbeitern sorgt, geht es nun einmal nicht. Auch muss jemand natürlich unterbinden, dass es in einem Wettbewerbsumfeld zu Monopolisierungstendenzen kommt.

Denn Unternehmen haben ein natürliches Interesse, die Härten des Marktes zu mildern – etwa durch Kartelle oder durch schiere Größe mit damit einhergehender politischer Macht. Das wird dann natürlich stets argumentativ verbrämt etwa mit dem Hinweis, dass man schließlich im Weltmaßstab denken müsse und der deutsche/europäische/transatlantische Markt natürlich längst zu klein ist für die globalisierte Wirtschaft, und dass Skalenvorteile habe nötig sind – und das letztlich auch den Kunden zugutekomme.

Letzteres wird gerne bei Unternehmenszusammenschlüssen angeführt, wie jüngst bei der angestrebten Fusion zwischen Vodafone und Unitymedia. Hatten die beiden zuvor noch die Deutsche Telekom ins Visier genommen und über Wettbewerbsnachteile geklagt etwa wegen Blockaden beim Netz der Telekom, hat sich jetzt die gedreht und es wird nur noch über die Vorteile für die Kunden geredet.

In dieser Haltung, die von immer mehr Ökonomen eingenommen wird, scheinen die argumentativen Narrative der großen Konzerne auf. Das zeigt sich auch bei der Digitalisierung. Schon seit längerem schwingen sich Wirtschaftswissenschaftler auf mit Forderungen, der Staat müsse sich bei dem neuen digitalen Markt tunlichst heraushalten. Jeder Versuch einer Regulierung wie mehr Datenschutz oder sozial- und gesellschaftsrechtlicher Verpflichtungen wird vielfach als untauglich, wettbewerbsverzerrend und standortschädlich charakterisiert. Gerade bei der Neubildung eines Marktes, dürfe der Staat dem freien Spiel der Akteure nicht im Wege stehen, heißt es.

Das ist richtig, doch längst sind Google, Facebook und Amazon zu gigantischen Markt dominierenden Digitalkonzerne herangewachsen und haben jeden Wettbewerber förmlich aufgesaugt. Viel zu spät hat hier das Wettbewerbsrecht reagiert und die Eingriffsschwelle gesenkt. Auch die Bürger hatten die Entwicklung viel zu sorglos betrachtet. Während jeder Versuch des Staates, mehr Kompetenzen bei der Datenanalyse zu erhalten, mit Massendemos erstickt wurde, lieferten die Kunden (und Demonstranten) Facebook & Co. die Daten frei Haus und erfreuten sich deren „kostenloser“ Dienstleistungen.

Nun steht die Datenschutzgrundverordnung der EU an, und wieder ist die Spitze der Kritik an die Politik gerichtet, weil das Ganze zu kompliziert, zu aufwändig und gegenüber anderen Hoheitsgebieten wie den USA und Asien schädlich für den Wettbewerb sei. Außerdem würde die Innovationskraft geschädigt; Investitionen würden aus Europa verlagert, wenn es darum geht, die Datenwirtschaft voranzutreiben.

Netzökonomien funktionieren in der Tat nach etwas anderen Gesetzmäßigkeiten. Das gilt für jene, die physische Netze ausspannen für Öl, Gas und die Telekommunikation, genauso wie für jene, die direkt mit digitalen Gütern handeln wie Google & Co. und obendrein als virtuelle Plattform dienen wie AirBnB oder Facebook. Bei ersterer Kategorie hat sich ein Modus-vivendi bei der Regulierung eingespielt. Es geht um Durchleitung, um Lizenzen und eine strenge Form der Ausschreibung. Bei den digitalen Gütern und Plattformen hat sich indes noch keine allgemein verbindliche Umgangsform herausgebildet.

Aber klar muss sein: Zum einen müssen auch die Digital- und Plattformkonzerne im direkten Wettbewerb wie die „traditionelle“ Wirtschaft die gleichen Pflichten erfüllen, was etwa Haftung und soziale Sicherung angeht. Zum anderen ist dafür Sorge zu tragen, dass die verbrieften Grundrechte nicht verletzt werden. Das gilt etwa für den Datenschutz und die Steuerpflicht. Umso fataler ist die Zögerlichkeit bei der Durchsetzung der geltenden Bestimmungen, weil den digitalen Konzernen dadurch Vorteile gegenüber der etablierten Wirtschaft erwachsen. Und schließlich muss der Wettbewerb als konstituierendes Element gewährleistet und geschützt werden.

Es wäre die noble Aufgabe der Ökonomie hier an einer Ordnungspolitik zu arbeiten, welche die (grund-)rechtliche, soziale, steuerliche Pflichten der Digitalkonzerne ebenso mit einbezieht wie die tradierten Normen für die bisherigen Formen der Ökonomie. Die haben sich nämlich in der Sozialen Marktwirtschaft durchaus bewährt – zum Vorteil aller „Stakeholder“. Und selbst unter Berücksichtigung der neuen (?) Gegebenheiten von Netzwerk- und Plattformeffekten, den anderen Anreizeffekten einer Share- und Kostenlosökonomie muss klar sein, dass der Wettbewerb der Akteure auf dem Marktplatz nicht ausgehebelt werden darf – unter welchem Umständen und mit welchen Ausreden auch immer. Ansonsten könnte man gleich ein Loblied auf den schrankenlosen Frühkapitalismus oder der Staatswirtschaft anstimmen. Denn die wären dann nicht mehr weit.