Investitionslücke

An der Investitionsschwäche beißt sich die Notenbank die Zähne aus

InvesstitionsschwaecheFür viele Finanzmarktbeobachter ist es ein großes Mysterium: Da sinken die Zinsen nahe an oder sogar unter die Nullgrenze, die Gewinne der Unternehmen sprudeln, ihre Finanzierungsspielräume wachsen, die Notenbank stimuliert Banken zudem mit diversen Aufkaufprogrammen sogar zu wieder etwas risikoreicheren Engagements in der Realwirtschaft – aber bei den Investitionen tut sich kaum etwas. Die Klage über eine allgemeine Investitionsschwäche wird eher lauter, es ertönt der Ruf nach dem Staat, der mit höheren Ausgaben der Privatwirtschaft Impulse geben müsse. Vor allem in Deutschland reiben sich viele die Augen, weil hier im Gegensatz zu manchen Euro-Ländern das Wirtschaftswachstum seit Jahren robust ist – und trotzdem wird zu wenig investiert.

Tatsächlich hat die Investitionsbereitschaft der Unternehmen deutlich nachgelassen. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt die nominale Investitionsquote noch bei knapp 20<ET>%. Um die Jahrtausendwende waren es 23<ET>%. Auch wenn im Ausland eine Investitionsschwäche ebenfalls nachweisbar ist, hat sie sich in Deutschland doch viel stärker niedergeschlagen (siehe Grafik). Die Nettoanlageninvestitionen sind auf rund 2<ET>% zurückgefallen – ein Niveau, auf dem der Erhalt des Kapitalstocks nicht mehr zu gewährleisten ist. Gerade vor dem Hintergrund des Wandels zur digitalen Wirtschaft ist diese Entwicklung noch viel dramatischer, als es die reinen Investitionsdaten veranschaulichen.

Fast scheint es, als würden die bisherigen ökonomischen Zusammenhänge nicht mehr gelten. „Die alten Geldmultiplikatoren passen nicht mehr“, wundert sich etwa der Chefvolkswirt der Berenberg Bank Holger Schmieding auf einer Tagung des „Monetären Workshops“. Haushalte und Unternehmen trauten sich offenbar nicht, die außerordentlich guten Finanzierungsbedingungen zu nutzen, um in ein zweites Haus oder in neue Maschinen zu investieren. Hat sich die Makroökonomie der Notenbanker zu wenig um die Mikroökonomie in den Unternehmen gekümmert? Ist die ökonomische und politische Unsicherheit gar so groß, dass selbst niedrigste Zinsen zu keiner Investitionsidee verleiten? Oder fehlt es schlicht an solchen Ideen?

Folgen der Finanzkrise?

Letzteres vermuten einige Ökonomen, die eine „säkulare Stagnation“ der Volkswirtschaften vermuten, einen Zustand zu hoher Sparvolumina und strukturell zu geringer Investitionen, der das Wachstum langfristig zum Erliegen bringt. Doch es deutet vieles darauf hin, dass es sich bei der beobachteten Entwicklung „nur“ um eine Folgewirkung der jüngsten Finanzkrise und tiefen Rezession handelt. Die Stagnation sei das Resultat der Aufarbeitung früherer Exzesse, ist sich der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters Flossbach von Storch, Thomas Mayer, sicher. Entscheidender Wachstumstreiber sei „der Wille zum Investieren“. Und der sei in der derzeitigen Situation, da die Staaten und der Privatsektor nach wie vor eine dramatisch hohe Verschuldung aufweisen, da der Regulator obendrein die Daumenschrauben für Banken immer weiter anzieht, um künftige Auswüchse zu vermeiden, und da zusätzlich politische Unsicherheiten um sich greifen, eben nicht gerade ausgeprägt.

Allerdings stellt sich vor diesem Hintergrund auch die Frage, ob die Notenbank mit den Anleihekäufen dann tatsächlich das richtige Instrumentarium angewandt hat, wie sie immer behauptet. Den EZB-Ökonomen muss die schwierige Investitionslage ja bewusst gewesen sein. Das wirft die Frage auf, ob mit den Anleihekäufen – neben der Währungsabschwächung – womöglich eher ein Ziel außerhalb des Mandats angepeilt worden ist: die Entlastung der Staatsfinanzen.

Ob die jüngsten Finanzdaten der Europäischen Zentralbank (EZB), wonach die Banken erstmals seit 2012 wieder mehr Kredite an den Privatsektor vergeben haben, bereits die Wende signalisieren, ist indessen fraglich. Die Entwicklung ist noch instabil. Jahre der Kreditversagung haben zudem ihre Spuren im Kapitalstock der Volkswirtschaften hinterlassen. Der Maschinenpark ist veraltet, was schon allein das Wachstum drückt. Deutsche Investoren weichen zudem lieber in andere Länder aus, wo stabilere und renditeträchtigere Bedingungen herrschen, wie die Transferbilanz nahelegt.

Obwohl in Deutschland die Kreditbedingungen im Vergleich zu anderen Euro-Staaten geradezu paradiesisch anmuten, haben aber auch hier die Unternehmen oft Probleme, wie Ralf Brunkow, Treasurer bei der Braunschweiger Nordzucker AG, schildert. Banken würden zwar Kredit geben, aber oft nicht für längere Laufzeiten – zumindest weit unterhalb der Investitionsperspektive. Auf dieser Basis sei es dann schwer, das Risiko der Investition abzuschätzen.

Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim hat einen weiteren Investitionskiller in Deutschland ausgemacht: Realinvestitionen würden nach wie vor gegenüber Finanzinvestitionen steuerlich benachteiligt. Die erwartete Rendite müsste hierzulande schon um etwa 1,5 Prozentpunkte höher liegen als eine Kapitalmarktverzinsung mit ähnlichem Risikoprofil. Unternehmenspraktiker verweisen zudem darauf, dass die Niedrigzinspolitik auch negative Folgen für sie hat, etwa bei Pensionsrückstellungen. Folge: Die Personalkosten steigen. Können diese nicht auf den Preis der Produkte oder Dienstleistungen abgewälzt werden, seien Investitionen auch bei niedrigen Kapitalkostenansätzen immer weniger rentabel.

Wird nun die politische Verunsicherung durch die Ukraine-Krise und einen möglichen Euro-Austritt Griechenlands (Grexit) als Verunsicherungsfaktor hinzugerechnet und nimmt man eine demografische Perspektive ein, werden die Probleme eher noch größer. Deshalb braucht man sich über die Investitionszurückhaltung der Privatwirtschaft in Deutschland und vielen anderen Euro-Ländern gar nicht wundern. Die KfW hat in ihrer Mittelstandsumfrage bereits die mannigfachen Facetten der demografischen Investitionsbelastungen (Facharbeitermangel, ältere, weniger investitionsfreudige Unternehmenschefs, ungeklärte Unternehmensnachfolge, schwaches Wachstum) benannt und die Politik zum Handeln aufgefordert.

Glaubwürdigkeit der EZB

Auch die EZB muss nun feststellen, dass ihr immer fulminanter eingesetztes geldpolitisches Instrumentarium ohne eine abgestimmte Reaktion der Wirtschaftspolitik ins Leere läuft, was wiederum die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, wovor der diesjährige Preisträger des „Monetären Workshops“, der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Ernst Baltensperger, schon länger warnt. Und auch so mancher Ökonom, der die EZB gern in eine stärker wirtschaftspolitische Rolle manövrieren möchte und in den Notenbanken eine Art Clearinghouse der Volkswirtschaft sieht, muss sich wohl neu orientieren.

Selbstgefälliges Deutschland

Die deutschen Unternehmen leben derzeit in der besten aller Welten: Ihre Exportgüter werden ihnen auf den Weltmärkten förmlich aus den Händen gerissen. Zugleich rennen ihnen die Konsumenten im Heimatmarkt die Bude ein. Kein Wunder, dass die Unternehmensstimmung hierzulande so blendend ist, wie das jetzt das Ifo-Institut in seiner neuesten Umfrage zum Geschäftsklima festgestellt hat. Die Wirtschaft expandiert und auch die Wachstumsaussichten für die nächsten Monate werden in rosigen Farben geschildert. Zumal sich die wegen der Schuldenkrise bisher darniederliegenden Märkte in Europa ebenfalls erholen und sich auch da wieder Absatzchancen für deutsche Produkte auftun.

Allerdings ist der Aufschwung, über den sich die deutsche Wirtschaft derzeit so sehr freut, letztlich nur ein großer Glücksfall. Dass der Ölpreis so tief fällt, um wie ein Konjunkturprogramm zu wirken, ist letztlich dem Frackingboom in den USA sowie geopolitischen Umständen zu verdanken. Wird das dabei gesparte Geld nun nicht für Investitionen in Effizienztechnologien und zur Steigerung der Produktivität hergenommen, um für bald wieder höhere Energiepreise gewappnet zu sein, dürfte das Wehklagen später umso lauter zu hören sein. Die dann einhergehenden Wachstumsverluste könnten die heute bejubelten Wachstumsgewinne weit in den Schatten stellen.

Auch die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten ist nicht das Verdienst der heimischen Industrie, sondern vor allem Resultat der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich damit – nebenbei bemerkt – das Risiko eines Währungskrieges einhandelt und den Boden für neue Finanzkrisen bereitet. Denn die Geldflut der Notenbank schwächt den Euro-Kurs und senkt die Zinsen teilweise bis unter die Nulllinie. Das erhöht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit aller Euro-Exporteure ohne deren Zutun. Und auch der Konsumboom ist ein Reflex darauf, weil das Ersparte kaum mehr Zinsen abwirft und deshalb gleich verausgabt wird. Dass mit dieser Politik aber auch die Altersvorsorge erodiert, was viele Menschen später einmal hart treffen wird, gerät dabei leicht in Vergessenheit.

Obendrein verführt die phänomenale Konjunkturstimmung zu Selbstgefälligkeit. Das gilt für die Politik, welche die Steuermehreinnahmen noch immer zu wenig in investive Projekte steckt und eher konsumtiven und sozialen Ausgaben huldigt. Strukturreformen werden ebenfalls hintangestellt – sie scheinen derzeit ja nicht nötig. Und auch die Unternehmen nutzen die guten Zeiten zu wenig für Investitionen in die Zukunft des Standorts. Die Etats dafür legen zwar etwas zu, das wird dem über Jahre aufgestauten Nachholbedarf aber nicht gerecht. Erneut wird eine Chance vertan. Dabei ist klar: Geht man Reformen und Investitionen zu spät an, wird es umso schmerzlicher. Die Mühen bei der Umsetzung der Agenda 2010 haben es gezeigt.

(erschienen in: Börsen-Zeitung, 26.3.2015)

Digitale Ökonomie: Deutschland braucht ein Firmware-Update

Die Politik hinkt der digitalen Umgestaltung hinterher – Flächendeckende schnelle Internetverbindungen sind nur ein erster Schritt – Der Strukturwandel steckt fest

Von Stephan Lorz

Die Sensoren sitzen überall am Körper – im Armband, in der Uhr, im Brillengestell und künftig wohl auch unter der Haut. Sie fühlen, protokollieren, regeln und verbinden uns Menschen mit dem Internet, wo wir einsortiert werden mit unserer Gesundheit, Leistungskraft, unseren Verhaltensweisen – und mit einem ominösen Durchschnitt verglichen werden. Die Digitalisierung des Menschen, wie sie im sogenannten Life-Logging zum Ausdruck kommt, hat aber nicht nur Auswirkungen auf das persönliche Umfeld, sondern in ihrer Formenvielfalt auch das Potenzial, die Gesellschaft insgesamt, soziale Institutionen und die ökonomische Basis völlig zu verändern. Die neuen Machtverhältnisse werfen Fragen nach dem Wesen und dem Ziel des Wirtschaftens auf, nach der Funktionalität ökonomischer Strukturen und dem Schutz der Privatsphäre. Zugleich geschieht der Wandel mit einer Geschwindigkeit, mit der demokratisch verfasste Gesellschaften kaum mithalten können.

Irritiert müssen sie etwa hinnehmen, dass schon jetzt Versicherungen ihren Kunden besonders günstige Tarife anbieten, sofern sie sich bereiterklären, ihre Gesundheit und sportliche Aktivitäten durch eine App überwachen zu lassen. Die einen sprechen von einer Gesundheitsdiktatur, die anderen von den nötigen Anreizen für ein gesünderes Leben. Der Datenschutz wird ausgehebelt, der Mensch gibt sich – vielfach aus Bequemlichkeit – Konzernen preis, die auf dieser Basis ihrerseits zu mächtigen Marktakteuren heranreifen. Das gefährdet für sich genommen wiederum das Kernelement einer Marktwirtschaft, den Wettbewerb. Die offenkundigen Monopolisierungstendenzen im Digitaluniversum haben bereits das Europaparlament auf den Plan gerufen, das wegen der Marktdominanz sogar die Zerschlagung etwa des Suchmaschinenbetreibers Google fordert.

Marktdominanz nimmt zu

Was bringt die Digitalkonzerne aber in eine solche starke Position? Es sind die Netzwerkeffekte, die im weltumspannenden Internet schneller greifen und stärker wirken als in der Realwirtschaft, weil Transaktionskosten kaum mehr eine nennenswerte Größenordnung darstellen und die Produkte hypermobil sind. Auf diese Weise steigen Unternehmen, welche neue Plattformen im Internet anbieten, wie der Taxivermittler Uber, rasant zu markbeherrschenden Konzernen auf. Durch die steigenden Nutzer- und Anbieterzahlen auf der Plattform erhöht sich nämlich deren Attraktivität. Auch die Qualität der Treffer bei Suchanfragen erhöht sich mit der Zahl der Menschen, die mit Google suchen. Wer zu spät kommt, hat schon fast verloren, weil er nicht an jene kritische Größe heranreicht. Daraus erwachsen schnell monopolartige Strukturen.

Daniel Zimmer, Chef der Monopolkommission, wundert sich hingegen über die scharfe Kritik, die Google entgegenschlägt. Die Europäer hätten ein „zwiespältiges Verhältnis zu amerikanischen Internetkonzernen“ sagt er und warnt vor Schnellschüssen bei der Regulierung. Nicht jedes Monopol sei per se schlecht. Denn gerade die Aussicht auf Monopolrenditen treibe im Internet Erfindergeist und Innovationen an. Komisch, dass man eine solche Argumentation in der Realwirtschaft nicht gelten lässt. Braucht das Internet also eine Regulierungsbehörde? Oder gibt es doch „gute“ Monopole?

Eine Debatte scheint auch deshalb sinnvoll, weil die Digitalisierung die Realwirtschaft immer weiter umformt und dabei althergebrachte Arbeitsmarktbeziehungen zu untergraben droht. Im Internet findet Wertschöpfung immer stärker in virtuellen Zusammenhängen statt. Das macht das Normalarbeitsverhältnis, an dem das ganze Sozialsystem hängt, zunehmend zum Auslaufmodell. Auch der Druck auf den Lohn wird dramatisch ansteigen, weil in der weltweiten Vernetzung etwa Bewerber aus Indonesien und Oberbayern um denselben Auftrag konkurrieren. Entsprechende Plattformen finden sich im Netz etwa unter dem Schlagwort „Amazon Mechanical Turk“, „Faktor 10“ oder „Kaggle“. Die Natur der digitalen Arbeit erhöht zudem die Kontrolle der Jobber, was Kritiker als ein Einfallstor für „modernes Sklaventum“ sehen.

Soziale Schere öffnet sich

Ferner können ganze Tätigkeitsbereiche wegfallen. Die Arbeitswelt polarisiert sich, sagt Arnold Picot von der Universität München. Die Experten an der Spitze der wirtschaftlichen Nahrungskette würden weiter an Einfluss gewinnen. Die am meisten gefährdeten Jobs lägen dabei gerade in der Mitte des Einkommensspektrums. Die soziale Schere – Menschen, die mit Algorithmen umgehen können, wird es sehr gut gehen, Menschen mit anderen Kompetenzen und mit weniger Expertise werden es immer schwerer haben – wird also weiter aufgehen. Muss der Staat deshalb gegensteuern und einen Teil dieser Automatisierungsdividenden absahnen und neu verteilen? Schwierig in einer Welt, in der die digitalen Produktionsprozesse auf einen Mausklick hin verlagert werden können.

Ein Problem der digitalen Ökonomie stellt auch die Wechselwirkung der realen Welt mit der in den Datensätzen dar. Zwar scheinen die Datenanalysen eine immer höhere Treffergenauigkeit zu haben, wenn Algorithmen etwa schon anhand des Klickverhaltens errechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit etwa für die Kündigung eines Mitarbeiters ist. Schon heute setzt die Polizei in vielen Ländern zudem auf die Analyse von Verbrechensmustern. Science-Fiction-Filme wie „Minority Report“ scheinen sich zu bewahrheiten.

Der Algorithmus lernt zwar nur aus der Vergangenheit, zugleich aber bestimmt er damit auch künftiges Verhalten. Wenn Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Einkaufs- und Nachrichtenportale stets passgenaue Angebote liefern, beeinflussen sie unsere Entscheidungen, unser Denken und Handeln. Der Mensch ist dann irgendwann nur noch das, was eine Rechenvorschrift aus seinem vergangenen Verhalten für die Zukunft extrapoliert hat. Es finde eine Machtverlagerung statt durch technologische Prozesse, warnt Hendrik Speck, Professor für digitale Medien an der FH Karlsruhe.

Nach Ansicht von KI-Expertin Yvonne Hofstetter hat Europa längst die Kontrolle über seine Daten verloren – und zwar an US-amerikanische Konzerne wie Google, Amazon oder Apple sowie an Geheimdienste wie die NSA. Und schon bald würden Nutzer nicht einmal mehr das Recht haben, sich aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Hofstetter kennt Fälle aus den USA, wo eine Krankenversicherung ihre Prämien schon erhöht, wenn ein Kunde kein Profil bei einem sozialen Netzwerk mehr hat.

Wie häufig bei Innovationen zeigt sich auch hier die Janusköpfigkeit der Entwicklung: Die „Datafizierung“ des Menschen macht zwar auch personalisierte Medizin möglich, mit der Krankheiten geheilt werden, die bisher zum Tode führen, verbilligt Produkte und vereinfacht das Leben, doch zugleich wird der Mensch auch durchökonomisiert, verliert seine Privatsphäre und womöglich auch seine Freiheit. Der „mündige Bürger“ wird zur Farce, weil er an unsichtbaren Fäden hängt und durch die Ausnutzung seiner Bequemlichkeit entmündigt wird. Das stellt auch eine Gefahr für die Demokratie dar.

Es ist deshalb Zeit für die Politik, nicht nur mit Schlagworten und mit großen Gesten über Industrie 4.0 zu palavern, sondern einen Diskussionsprozess anzustoßen, der in eine Reform der Gesellschaft mündet, wo digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert und die politischen und sozialen Institutionen sowie die Bildungseinrichtungen auf die neuen Herausforderungen vorbereitet werden. Allein mit der Herstellung eines breitbandigen Internetzugangs ist es nicht getan. Das gesamte politische und ökonomische Regelungssystem benötigt ein Firmware-Update.

Reform rückwärts

Die geplante Rentenreform der großen Koalition destabilisiert die Sozialsysteme gerade in Zeiten der größten demografischen Herausforderung.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Noch vor einem Vierteljahr stand Deutschland wegen der demografischen Stabilität seiner sozialen Sicherungseinrichtungen fast schon als Musterknabe da. Nur Lettland, Estland und Italien waren besser auf die Herausforderungen der demografischen Veränderungen vorbereitet, hatte eine Arbeitsgruppe der Stiftung Marktwirtschaft zur Generationenbilanzierung herausgefunden. Viele europäische Volkswirtschaften hatten die nötigen Reformen noch nicht einmal angefangen, um die soziale Absicherung ihrer Bürger auch in Zeiten einer alternden Bevölkerung gewährleisten zu können.
Doch den Großkoalitionären genügt ein Federstrich, um die Reformerfolge der vergangenen Jahre zunichtezumachen. Die jetzt vorgelegten Rentenreformpläne nämlich, die für langjährige Beitragszahler einen früheren Rentenbeginn ermöglichen, Erziehungszeiten vermehrt anerkennen und Altersarmut vermeiden sollen, werden nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums bis zum Jahr 2020 rund 60 Mrd. Euro kosten; bis 2030 sind es dann gar 160 Mrd. Euro. Das allein stellt schon eine Horrorzahl dar, doch Ökonomen gehen davon aus, dass die Kosten noch höher liegen werden – von den damit in Zusammenhang stehenden wirtschaftlichen Kollateralschäden ganz zu schweigen.

Nun steht die deutsche Wirtschaft derzeit blendend da, die Steuereinnahmen fließen in breiten Strömen Richtung Fiskus, und insofern könne sich die Gesellschaft, wie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nicht müde wird zu betonen, derlei „sinnvolle“ Ausgaben auch leisten. Doch zum einen sind die vorgelegten Pläne noch nicht einmal geeignet, die eigentlich ins Auge gefassten Zielgruppen auch wirklich mit den erforderlichen Leistungen zu beglücken, wie viele Kritiker bemängeln. Zum anderen bleiben uns die Mehrausgaben auch dann erhalten, wenn es der Wirtschaft einst nicht mehr so gut geht und die demografischen Lasten erst so richtig spürbar werden. Letztere kommen erst in den nächsten Jahren so richtig zur Entfaltung. Und passiert beides zugleich, können die Kostenlasten, über die derzeit so leichtfertig hinweggegangen wird, der deutschen Wirtschaft noch das Rückgrat brechen. Sieht sich der Staat dann obendrein gezwungen, den Unternehmen über die schlimmsten Folgen hinwegzuhelfen, wäre es auch um die Konsolidierung der Staatsfinanzen geschehen – Schuldenbremse hin oder her. Ob in einer solchen Lage, Deutschland noch attraktiv sein wird für Zuwanderer, auf die unsere Unternehmen gerade in dieser Phase angewiesen sind, oder für Standortinvestitionen ist fraglich. Zudem droht großen Bevölkerungsgruppen dann erst recht jene Altersarmut, die zu vermeiden die Reformarchitekten heute vorgeben.

Die geplanten Änderungen bei der Rente entfalten ihre verheerende Wirkung aber nicht erst in einigen Jahren, sondern hinterlassen schon jetzt tiefe Spuren. Weshalb sollten Unternehmen ältere Mitarbeiter noch fortbilden und bis ins hohe Alter fit halten, wenn sich diese schon bei der nächsten Gelegenheit aufs Altenteil zurückziehen können? Obendrein wird damit der schon jetzt beklagte Fachkräftemangel weiter verstärkt. Und die mit der Reform steigenden Beitragslasten tragen auch nicht dazu bei, den Standort Deutschland aufzuhübschen.

Schon jetzt wird allenthalben über die Investitionszurückhaltung der Unternehmen geklagt. Absehbar immer schneller steigende Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen, ein sich noch verstärkender Facharbeitermangel und eine höhere Steuerbelastung tragen aber sicher nicht dazu bei, dass sich der Attentismus verflüchtigt. Womöglich sieht sich der Staat dann noch zu Steuerbeihilfen für Investitionen gezwungen, was seinerseits den Haushalt zusätzlich belasten und womöglich Steuererhöhungen nach sich ziehen würde. Der staatliche Reparaturbetrieb sorgt also selbst dafür, dass er immer neue „sinnvolle“ Aufgaben findet. Kurz: der Sozialstaat nährt den Sozialstaat.

Nun muss man nicht gleich Untergangsszenarien an die Wand malen. Die große Koalition sollte sich aber den Argumenten der Kritiker nicht versperren und auch einmal über den Tellerrand der laufenden Legislaturperiode hinausblicken. Denn das Pochen auf einmal vereinbarte Passagen im Koalitionsvertrag läuft dem Gemeinwohlauftrag, dem sich die Politiker verpflichtet haben, klar zuwider. Und eine Erkenntnis sollten sie sich ebenfalls vor Augen halten: Ökonomische Fehlentscheidungen werden stets in guten Zeiten gefällt. Die vorliegende Rentenreform scheint das wieder zu bestätigen.

(Börsen-Zeitung, 21.1.2014)

 

Investitionen als Hoffnungswert

Nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Eurozone hat sich eine gewaltige Investitionslücke aufgetan. Die EZB hofft nun, dass sich mit der Aufhellung der konjunkturellen Perspektive und mit der Entspannung in der Eurokrise endlich eine Trendumkehr andeutet.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Während der Finanzkrise sind im Euro-Währungsgebiet die Investitionen insgesamt kontinuierlich und in beträchtlichem Maße gesunken, klagt die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrem aktuellen Monatsbericht. Sie geht aber davon aus, dass die Trendwende bereits im Gange ist, weil die investitionshemmenden Faktoren wie der seit Jahren stattfindende Entschuldungsprozess, die staatliche Konsolidierung, die Angst der Unternehmer und Privathaushalte vor einem erneuten Aufflammen der Euro-Krise und die allgegenwärtigen rezessiven Tendenzen langsam auslaufen. Zwar seien die realen Investitionen im verarbeitenden Gewerbe des Euroraums im Jahr 2013 um weitere 3 % gesunken, schreibt die EZB unter Verweis auf die Investitionsumfrage der EU-Kommission. Für 2014 wird nach Einschätzung der Notenbank aber wieder ein Anstieg um 3 % erwartet. Denn die Nachfragefaktoren würden sich 2014 „insgesamt positiver auf die Investitionsentwicklung im Eurogebiet auswirken als noch im Jahr davor“.

Die Trendwende wäre damit eingeleitet, doch wird es offenbar noch Jahre dauern, bis der aufgestaute hohe Investitionsbedarf gedeckt werden kann. Denn auch für die nächsten Jahre erwartet die EZB allenfalls ein „moderates Wachstum“ bei den Investitionen. Sie verweist hierbei auf den anhaltenden Fremdkapitalabbau der Banken und Unternehmen sowie deren Probleme mit alternativen Finanzierungsmodellen. Die EZB spricht von „Schwierigkeiten, denen sich Unternehmen mit eingeschränktem Zugang zu Bankkrediten bei der Suche nach einer alternativen Finanzierung über Wertpapieremissionen, ausländische Direktinvestitionen oder Handelskredite gegenübersehen“.

Seit dem Höchststand der Investitionen im Jahr 2008 ist deren Niveau nach Angaben der EZB um immerhin 15 % abgerutscht. Dieser Rückgang habe auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um vier Prozentpunkte nach unten gerissen. Der Investitionsrückgang in den vergangenen sechs Jahren sei zudem „stärker und länger andauernd gewesen als in allen anderen Rezessionsphasen, die das Eurogebiet in den letzten 30 Jahren erlebt hat“. Erst zuletzt sei es wieder zu einer gewissen Erholung gekommen. So habe die Investitionstätigkeit im zweiten Quartal 2013 um 0,2 % und im dritten Quartal um 0,4 % zugenommen.

Am stärksten seit 2008 hat nach den EZB-Daten der Rückgang der Unternehmensinvestitionen ins Kontor geschlagen. Sie stehen für rund der Hälfte des Rückgangs dieser Ausgabenkategorie. Fast genauso stark trugen danach die privaten Haushalte zu dieser Entwicklung bei, was vor allem der Abnahme der Wohnungsbauinvestitionen geschuldet war. Auch die öffentlichen Haushalte verringerten ihre Investitionen drastisch, gemessen am BIP ist ihr Anteil jedoch eher gering.

Börsen-Zeitung, 17.1.2014

Entwicklung der Investitionen in der Eurozone.
Entwicklung der Investitionen in der Eurozone.