EuGH

Doppelte Datenmoral

Es gibt gute Gründe, die Macht des Staates zu beschränken und seine Institutionen einer ständigen demokratischen Kontrolle zu unterwerfen. Schließlich ist er an die von der Verfassung zugebilligten Gewalten gebunden, damit die Freiheit der Einzelnen gewahrt bleibt. Im Zweifelsfall muss ihn das Verfassungsgericht in die Schranken weisen. In diesem Sinne hatten die Karlsruher Richter Berlin 2010 ultimativ aufgefordert, die vom Bundestag 2008 beschlossene Vorratsdatenspeicherung zurückzunehmen, weil damit in unzulässiger Weise in die Grundrechte eingegriffen werde. 2014 legte der Europäische Gerichtshof nach und verbot der EU die Speicherung von Verbindungsdaten über einen längeren Zeitraum.

Nun ist der Aufschrei groß, weil der Bundestag die Vorratsdatenspeicherung in einer nur leicht angepassten Form erneut gebilligt hat. Danach sind Telekommunikationsunternehmen, Internetprovider und andere Zugangsanbieter nun verpflichtet, Kommunikationsdaten sämtlicher Bürger verdachtsunabhängig aufzubewahren. Gewählte Rufnummern und genutzte Internetadressen müssen zehn Wochen lang vorgehalten werden. Für Mobilfunkdaten ist eine Speicherfrist von vier Wochen vorgesehen. Ausgenommen sind lediglich die Inhalte von Mails. Sicherheitsbehörden und Justiz hatten auf eine Neuauflage gedrungen, weil die Verbrechen der Gegenwart mit dem Instrumentarium der Vergangenheit eben schwieriger aufzuklären sind.

Angesichts der aufgepeitschten Stimmung in den Kommentarspalten diverser Internetseiten kann man sich leicht ausmalen, wie sich nun eine regelrechte Widerstandswelle gegen die Politik aufbaut. Erste Verfassungsklagen wurden bereits angekündigt. Den Sicherheitsbehörden und Berlin wird schlicht die Kompetenz in der Einschätzung der digitalen Gefährdungslage abgesprochen. Von einer neuen Totalitarismusgefahr wird schwadroniert, weil ein Verlust der demokratischen Kontrolle drohe.

Doch muss man sich schon über die oft hasserfüllten Kommentare wundern, zumal der Staat nur versucht, mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten. Gegen Google, Facebook & Co. indes hat sich keine solch lautstarke Bürgerbewegung gebildet, obwohl die globalen Digitalkonzerne weitaus tiefergehendere Datensätze über jeden einzelnen Nutzer besitzen. Dabei geht es dem Staat – immerhin das Gemeinwohl im Blick – einzig um die Sicherung des Rechts und die ihm demokratisch zugebilligten Aufgaben, während die großen Digitalkonzerne einzig ihren Profit vor Augen haben. Und während jeder Zugriff auf die Vorratsdaten erst von einem Richter genehmigt werden muss, ziehen sich die Konzerne einfach auf Jurisdiktionen zurück, in denen sie keinerlei Schranken unterworfen sind bei Auswertung und Versilbern ihres Datenschatzes.

Unsafe Harbor

Eigentlich hätte Brüssel bereits unmittelbar nach den Enthüllungen von Edward Snowden das Safe-Harbor-Abkommen mit den USA auf Eis legen müssen. Bei der allgegenwärtigen Digitalschnüffelei der US-Geheimdienste konnte von einem „Safe Harbor“ nicht mehr die Rede sein. Aber die Politik in Berlin und Brüssel nahm das offenbar aus falsch verstandener Partnerschaft mit den USA hin. Womöglich auch, weil in den analogen Regierungszentralen Europas ein großes Unverständnis herrscht über die tektonischen Machtverschiebungen, die der digitale Wandel bei falschen Weichenstellungen mit sich bringt. Insofern sind die Beifallsbekundungen, die den Richtern am Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach ihrem „Facebook-Urteil“ nun von politischer Seite zugehen, heuchlerisch.

Es ist von einem „Meilenstein“ oder einem „Paukenschlag“ für den Datenschutz die Rede. Doch ändert das Urteil wirklich alles zum Besseren? Zwar machte es das Safe-Harbor-Abkommen den Konzernen (zu) einfach, das europäische Informationssubstrat aus Regionen mit hohen Datenschutzstandards in die USA zu ziehen und nach allen Regeln der Kunst zu verarbeiten. Das wird jetzt etwas komplizierter – vor allem aber für die Nutzer. Künftig müssen sie wohl eine weitere Zustimmung geben zu neuen bibeldicken „AGB“. Aber selbst wenn das nicht genügt und die Rechner nach Europa umziehen müssen, schützt das ja nicht vor Schnüffelei: Der britische Geheimdienst GCHQ steht der amerikanischen NSA in nichts nach – und gibt die Daten von sich aus weiter. Zudem haben US-Gerichte klargestellt, dass nichtamerikanische Bürger ohnehin keinen Datenschutz für sich reklamieren können – auch nicht jenseits der US-Grenzen. US-Konzerne müssen hier kooperieren. Nur eine bewusste Entscheidung der Konsumenten gegen die US-Platzhirsche im Netz würde die Lage verändern. Aber ist es realistisch, dass dies passiert?

Probleme mit dem Urteil dürften zudem weniger die großen Konzerne dies- und jenseits des Atlantiks haben, sondern eher die vielen kleineren Unternehmen, die digitale Serviceleistungen in die USA ausgelagert oder dort Tochterfirmen haben. Das dürfte die gefährlichen oligopolistischen Tendenzen in der Internetökonomie weiter verstärken. Daher sollte die Politik jetzt schnellstens vom Beifalls- in den Arbeitsmodus wechseln zur Ausarbeitung eines neuen – realistischeren – Abkommens. Das Urteil dürfte die europäische Verhandlungsposition zur Durchsetzung eigener Vorstellungen von Datenschutz dabei gestärkt haben.

Kampfansage an Karlsruhe

Das EZB-Urteil des Europäischen Gerichtshofs verändert den Charakter der Währungsunion und untergräbt mittelfristig ihre Stabilität.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) brüskiert und der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Freibrief ausgestellt. Während die Karlsruher Richter die Klagen gegen das an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte OMT-Anleihekaufprogramm der EZB für berechtigt halten und den Tatbestand der monetären Staatsfinanzierung für erfüllt sehen, winken die Europarichter die unkonventionellen Methoden der EZB einfach durch. Sie sind ihrer Meinung nach vom Mandat gedeckt und stellen keine Umgehung des Staatsfinanzierungsverbots dar; zumal Geldpolitik ja stets Einfluss auf Zinssätze und Finanzierungsbedingungen habe und haben müsse. Außerdem haben sie den Notenbankern einen nahezu grenzenlosen Ermessensspielraum gelassen, was noch als Geldpolitik anzusehen ist und wie sie dies in der Öffentlichkeit zu begründen gedenken.

Das EuGH-Urteil ist damit auch eine Kampfansage an das BVerfG, das sich das „letzte Entscheidungsrecht“ in diesem Fall ausbedungen hat. Das BVerfG hat nun zwar die Option, das OMT-Programm als Ultra-Vires-Akt anzusehen, der nicht mehr von den Kompetenzübertragungen des Grundgesetzes gedeckt ist. Sie können in diesem Rahmen die Bundesregierung und die Bundesbank sogar verpflichten, auf einen Stopp des Programms hinzuwirken. Doch außer, dass dies neue Unsicherheiten in ein ohnehin schon wackeliges Währungsgefüge bringen würde, was mit hohen politischen Kosten verbunden wäre, würde sich an der Sachlage ohnehin nichts ändern: Die Bundesbank ist in ihrer kritischen Rolle zu Anleihekäufen bereits jetzt in einer Minderheitenposition innerhalb des EZB-Rats; und die Bundesregierung sieht die erweiterte politische Rolle der Notenbank sogar eher mit Wohlwollen. Denn EZB-Chef Mario Draghi hat zum einen durch sein unkonventionelles Handeln die Eurozone zusammengehalten und kann zum anderen mögliche Ansteckungseffekte im Nachgang zu einem möglichen griechischen Ausscheiden aus der Eurozone durch die jetzt richterlich zertifizierten Anleihekäufe eindämmen. Der Machtanspruch des BVerfG ist verpufft. Der EuGH hat obsiegt.

Der Streit um OMT ist allerdings mehr als eine juristische Auseinandersetzung in der Auslegung des EZB-Mandats, weshalb das BVerfG mit Entschiedenheit die eigene Haltung weiter verteidigen sollte. Letztendlich geht es nämlich um die Entscheidungshoheit über die Tektonik der Währungsgemeinschaft sowie um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Und hier stoßen die Auffassungen von BVerfG/Bundesbank auf der einen und EuGH/EZB auf der anderen Seite aufeinander.

Unter maßgeblich deutschem Einfluss wurde bei der Gründung der Währungsunion nämlich die Eigenverantwortung der Staaten hochgehalten. Das sollte fiskalische Fehlanreize minimieren und die Vergemeinschaftung von Staatsschulden blockieren. Nur unter diesen Vorbedingungen könnte die Stabilität der Eurozone trotz ihrer Unzulänglichkeiten langfristig gewährleistet werden, hieß es. Aber schon in der Vergangenheit wurden entsprechende gesetzliche Bestimmungen uminterpretiert, weil solche Regeln politisch unbequem sind und in vielen EuroLändern andere Rechtstraditionen vorherrschen, die eine politisch flexiblere Herangehensweise stützen. Und in einer Schicksalsgemeinschaft souveräner Staaten wie der Eurozone wirkt die Finanzkraft stärkerer Länder schon seit jeher verführerisch.

So wurde etwa das „Beistandsverbot“ im Maastricht-Vertrag flugs in eine freiwillige Beistandsoption umgedeutet. Von der ständigen Nichteinhaltung der Defizitkriterien ganz zu schweigen. Und wie sich der EuGH in Gesamteuropa Urteil für Urteil von Einschränkungen befreite und damit auch den Charakter der EU veränderte, soll nach dem Dafürhalten der Richter nun auch die EZB flexibler handeln können, um das Vakuum zu füllen, das die Politik hinterlassen hat, weil es dieser an Entscheidungskraft mangelt und eine Euro-Regierung fehlt. Mehr und mehr übernehmen demokratisch allenfalls mittelbar legitimierte Institutionen die Geschäftsführung Europas. Schon das wäre alle Kraft wert, dagegen aufzubegehren, weshalb das BVerfG und die Bundesbank aufgefordert bleiben, ihren Widerstand gegen eine so verstandene Währungsunion zu verstärken – auch auf die Gefahr hin, dass es zu einer Verfassungskrise kommt. Schließlich ist noch nicht klar, ob der Freibrief für die EZB die Währungsunion tatsächlich stabilisiert. Womöglich werden dadurch nur die Fliehkräfte gestärkt, die mittelfristig zu einem Zerfall der Eurozone führen.

EuGH: Der Blankoscheck

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) einen Blankoscheck ausgestellt bekommen, künftig die Grenzen der Geldpolitik nach eigenem Gusto festlegen zu dürfen. Auch wenn das Plädoyer des Generalanwalts noch kein Richterspruch ist, kann die Notenbank jetzt hinsichtlich unkonventioneller Maßnahmen bis hin zu Anleihekäufen schalten und walten, wie sie möchte. Denn erfahrungsgemäß weicht das in einigen Monaten zu erwartende Urteil kaum vom Plädoyer ab.
Die wenigen „Bedingungen“ des EuGH sind – vielleicht mit Ausnahme der Forderung nach einem Ausscheiden der EZB aus der Troika – windelweich. Sie kann man als Argumentationskosmetik gerichtet an die Adresse der EZB-Kritiker abtun. Denn die Verpflichtung zu mehr Transparenz und mehr Stringenz in der Begründung unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen ist zügig formuliert. Zumal die Richter sich selbst aus der inhaltlichen Prüfung heraushalten wollen, wie sie selber angekündigt haben. Sie fühlen sich nämlich in geldpolitischen Dingen nicht kundig genug, um die Wirkung von EZB-Maßnahmen abschätzen zu können. Bloß komisch, dass sie sich in anderen Rechtsfragen sehr wohl eine Einschätzung zutrauen, die schon oft zu recht umstrittenen Urteilen geführt hat. Zugleich halten sie sich aber für kompetent genug für die Feststellung, dass das OMT-Programm durchaus geeignet sei, den Krisenstaaten die Wiedererlangung „einer gewissen finanziellen Normalität“ zu ermöglichen. Was stellen sie sich bloß unter „Normalität“ vor? Das Aushebeln von Marktmechanismen?

Jetzt liegt es allein beim Bundesverfassungsgericht, den Kulturwandel der Notenbanker von Währungshütern hin zu Fiskalhütern noch zu bremsen. Doch die Möglichkeiten der Karlsruher sind begrenzt. Sie können allenfalls das Handeln der Bundesbank beeinflussen – und die Bundesregierung zu einer Neuverhandlung der EU-Verträge zwingen. Letzteres würde aber angesichts der aktuellen antieuropäischen Strömungen gleich den Bestand der Eurozone aufs Spiel setzen. Es ist deshalb zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht dieses Risiko eingehen würde. Zumal sowohl Vertragsneuverhandlungen als auch die Hinnahme eines unbequemen Urteils wohl aufs Gleiche hinauslaufen: seine Entmachtung. Entweder den deutschen Richtern wird die Oberhoheit der Luxemburger Kollegen vertraglich aufgezwungen, oder sie erkennen sie faktisch an. Die Bundesbank als Institution hat diesen Erkenntnisprozess schon hinter sich.

Das letzte Wort hat Karlsruhe

Mit großer Spannung warten nicht nur die Prozessbeteiligten auf die Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) am Dienstag, 14. Oktober, über die Rechtmäßigkeit der OMT-Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB). Denn es geht dabei um viel mehr als die Frage nach der Verfassungs- oder Europarechtswidrigkeit einzelner Ankäufe kurzlaufender Staatsanleihen von Krisenländern, sondern insgesamt um die Freiheitsgrade der EZB, um eine Klärung des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und nationalem Recht und letztlich um das Maß an Souveränität, das im Währungsverbund vergemeinschaftet werden darf. Und davon hängt auch ab, wie die Märkte den später zu erwartenden Urteilsspruch aufnehmen. Schlimmstenfalls könnte Karlsruhe brüskiert werden, was einen Aufschrei in Deutschland auslösen und den eurokritischen Kräften noch mehr Zulauf bescheren würde, oder die EZB wird gezügelt, was ein Wiederaufleben der Euro-Krise nach sich ziehen könnte.

Das Problem für Karlsruhe: Die Richter gehen davon aus, dass die Frankfurter Euro-Banker ihr Mandat mit den angekündigten selektiven Staatsanleihekäufen überstrapaziert haben, da die EZB aber dem Europarecht untersteht, können sie die Notenbank nicht bremsen. Allenfalls die Bundesbank müsste sich einem negativen Richterspruch beugen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann opponiert aber ohnehin schon länger gegen diese EZB-Politik – meist erfolglos, weil eine Mehrheit seiner Kollegen Staatsanleihekäufen positiv gegenübersteht.

Entscheidend ist deshalb, ob sich die Karlsruher Richter einem möglicherweise ebenfalls nachsichtigen Richterspruch ihrer Europakollegen entgegenstellen und einen offenen Konflikt riskieren wollen. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio hielt in einem Vortrag in der School of Finance in Frankfurt zwar nicht hinterm Berg mit seiner kritischen Haltung zum EZB-Gebaren, rechnet aber seinerseits mit einem gewissen Entgegenkommen. Das Bundesverfassungsgericht werde „wohl seinerseits jede Andeutung einer Beschränkung der EZB seitens des EuGH wohlwollend aufnehmen“, meint er.

Aber auch die EZB muss vorsichtig agieren, würde sie einen großen Verfassungskonflikt doch nicht unbeschadet überstehen. Schließlich würde ihr das Vertrauen des größten und wichtigsten Mitgliedslands entzogen, die öffentliche Debatte würde ihr zusetzen und die Märkte würden negativ reagieren. „Im Endeffekt“, so di Fabio, „müsste Deutschland wohl aus dem Euro austreten.“

Der wohl unlösbare Konflikt besteht allein deshalb, weil die Politik und die sie tragende Bevölkerung nicht willens oder imstande sind, die EU in einen Bundesstaat zu überführen mit klarer Verantwortung und Machtverteilung. So bleibt das Gebilde „ambivalent“, wie di Fabio sagt. Solange das der Fall sei, werde es immer wieder zu Klagen kommen. Auch die jüngsten EZB-Beschlüsse zum Ankauf von Kreditverbriefungen und Pfandbriefen dürften Verfassungsbeschwerden nach sich ziehen, weil die Notenbank nach Ansicht ihrer Kritiker zu hohe Risiken in die Bilanz nimmt, erwartet di Fabio. Denn es komme zu einem Haftungsautomatismus. Die Bankenunion sei ein weiteres Klagefeld.

Entsprechend groß ist deshalb der Druck auf die Politik, nicht nur die institutionellen Fragen der Euro-Rettung zu klären, sondern eine größere Debatte über die Finalität Europas einzuleiten. Die könnte in eine Grundgesetzänderung münden, was der europäischen Integration mehr Freiräume zugestehen würde. Solange dies aber nicht geschehen sei, dürfe in einem souveränen Staat das Grundrecht auf Demokratie „nicht entleert werden“. Die Gewählten „müssten schon noch etwas zu entscheiden haben“. Und bis dahin, so di Fabio, „darf auch der EuGH nicht da letzte Wort haben, sondern das Bundesverfassungsgericht“.

Vorratsdaten vs. Big Data

Auch Wochen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung halten die Beifallsstürme in den Reihen der so genannten Verteidiger des freien Internet weiter an. Nach wie vor ergießt sich hämische Freude über Polizei und Justiz, die jetzt mit Einschränkungen ihrer Ermittlungsarbeit leben müssen. Unvereinbar mit den Grundrechten und unverhältnismäßig sei die bisherige Form der Vorratsdatenspeicherung, urteilten die Luxemburger Richter Anfang April. Zugleich wurden die Hürden für eine Neuregelung überaus hochgehängt.

Der Staat ist böse, so lautet der Kehrreim der selbsternannten Digital-Elite. Wenn es dann aber darum geht, den Verbreitern und Nutzern etwa von Kinderpornographie das Handwerk zu legen, hört man schnell den Vorwurf, der Rechtsstaat tue zu wenig oder betreibe nur Symbolpolitik – so jetzt wieder anlässlich des neuen Gesetzentwurfs von Bundesjustizminister Heiko Maas zur erhöhten Strafbarkeit bei der Veröffentlichung etwa von Nacktfotos. Da manchen Kommentatoren dann offenbar doch ein wenig mulmig wird, zumal sie sich gleichzeitig freuen, wenn der Polizei eine Datenbremse verpasst wird, wird nun hilfsweise das Argument bemüht, das Quasi-Verbot der Vorratsdatenspeicherung würde es nun halt auch den Geheimdiensten schwermachen, ihrer skandalösen Arbeit nachzugehen. Und vielleicht sei es sogar ein Hebel, um womöglich die transatlantische Spionage zu stoppen. Der Naivität in Bezug auf die Arbeit der Geheimdienste sind offenbar keine Grenzen gesetzt.

Erstaunlich wenig regen sich dieselben Internet-Kreise indes darüber auf, zu welchen weitaus fortgeschritteneren Daten-Abzockereien die Internet-Konzerne Facebook, Google, Apple & Co in der Lage sind, ohne durch Gesetzesbestimmungen oder einem öffentlichen Sturm der Entrüstung irgendwie behelligt zu werden. Dabei gehen sie damit noch viel weiter, als sich Polizei und Justiz auch nur ansatzweise trauen würden. Wo bleibt hier der gesellschaftliche Widerstand gegen diese Form der Freiheitsberaubung?

Nur ein paar „altmodische“ Publikationen wie die FAZ stechen hier mit ihrer aufklärerischen Berichterstattung und Analyse positiv heraus, weil es ihnen gelingt, die nötige Sensibilität für dieses Thema unter ihren Lesern zu erzeugen. Es ist auch der Beweis, dass gerade in hochkomplexen Fragen und Themenstellungen verantwortungsbewusster und seinem gesellschaftlichen Auftrag verpflichteter Journalismus besser in der Lage ist, die nötige Differenzierung und Wertung vorzunehmen als die vielgepriesenen sozialen Medien. Diese frönen vielfach nur dem aktuellen Herdentrieb, stürzen sich auf einzelne leicht zu popularisierende Themen mit klar personalisierbarer Freund-Feind-Zuordnung, um dann im Schutze der Anonymität ihren Urinstinkten und Reflexen nachzugeben.

Dass das Gebaren der Digitalkonzerne an vergleichsweise wenigen Stellen im Internet kritisch beäugt und kommentiert wird, ist vielleicht auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die entsprechenden Autoren auf diesem Auge naturgemäß blind sind. Denn sie nehmen die Nutzung von Facebook & Co als ihr Ökosystem wahr und es fehlt ihnen womöglich, weil sie darin „leben“, die nötige kritische Distanz. Sie müssten dann ja ihre eigene Welt infrage stellen.

Dabei ist von der vielgepriesenen Freiheit im Internet inzwischen ohnehin nicht mehr viel übrig, wenn unter ihrem Mantel dunkle Geschäfte und kriminelle Machenschaften gedeckt werden, ohne dass dies – etwa mangels Vorratsdatenspeicherung – geahndet werden kann. Zugleich schwingen sich neue Machtgebilde auf, den digitalen Marktplatz zu okkupieren, und das Nutzerverhalten – also die Marktakteure – zu manipulieren und auszuspionieren. Das geht weit über das hinaus, was in der „Realwirtschaft“ jemals geduldet worden ist. Würden sich Siemens, BASF oder VW solcher Instrumente bedienen, ein Aufschrei ginge durch die Öffentlichkeit.

Zumal Apple, Facebook und Google gleich mehrere Schritte weiter gehen und den Internetnutzern falsche Wahrnehmung zuspielen: Ihr Wissen über die persönlichen Daten ziehen sie heran, um die Suchergebnisse im Netz auf die Nutzer zuzuschneiden gemäß ihren politischen Einstellungen, ihren Lebensumständen, Geschlecht, Alter, Neigungen etc. Und während der Staat als Feind“ dargestellt wird, wollen sie selber natürlich nur das Beste. „Don’t be evil“, schreibt sich etwa Google auf die Fahne. Das Schlimme ist: Viele glauben das offenbar! Und es ist bequem. Schon seit jeher neigen Menschen zur Bequemlichkeit – und eine insofern „sanfte“ Diktatur ist mit dem Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit natürlich immer „bequemer“ als eine Demokratie in Freiheit, wo sich die Menschen selber um ihr Schicksal kümmern müssen.

Karlsruher Pragmatismus

Es ist zutiefst verstörend, wenn immer wieder erst die Verfassungsrichter in Karlsruhe den Bundestag als oberste Repräsentanz des Volkes an seine Aufgabe erinnern und dafür sorgen müssen, dass die demokratischen Grundregeln auch in der Euro-Rettungspolitik gewahrt werden. So geschehen etwa in den Entscheidungen zum Europäischen Stabilisierungsfonds (EFSF), zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt. Immer wieder wurde der Bundestag gerügt, die im Grundgesetz garantierten parlamentarischen Kontrollbefugnisse doch etwas ernster zu nehmen, sich nicht mit fadenscheinigen Begründungen der Bundesregierung zufriedenzugeben und sich unter dem Diktat schneller Entscheidungen nicht die dafür notwendigen Werkzeuge aus der Hand schlagen zu lassen. Kein Ruhmesblatt also für unsere Volksvertreter.Entlang dieser Richtschnur hat das Bundesverfassungsgericht auch in der aktuellen Entscheidung argumentiert: Die Errichtung des ESM, der Fiskalpakt und die dazugehörigen nationalen Begleitgesetze wurden – wie bereits im Eilverfahren – zwar für verfassungsgemäß erklärt, den Parlamentariern aber erneut ins Stammbuch geschrieben, künftig Sorge zu tragen, dass Deutschland sein Stimmrecht im ESM nicht aus Verfahrensgründen verliert. Bundesregierung und Parlament müssten unter allen Umständen die Fäden in der Hand behalten. Europa ergibt sich nach diesem Verständnis insoweit aus den nationalen Parlamenten heraus, ist also kein Gebilde auf eigener Basis. Das hatten die Karlsruher Richter auch bei ihrer Entscheidung zur Europawahl zu verstehen gegeben, in der sie die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt hatten, weil das Europaparlament aus ihrer Sicht von minderer Qualität im Vergleich zum Bundestag ist.

Vor diesem Hintergrund kann die aktuelle Entscheidung durchaus als pragmatisch verstanden werden, weil sie die Frage nach der Finalität der europäischen Einigung noch ein Stück in die Zukunft schiebt – der Etablierung einer Banken- und Fiskalunion, die weitere Souveränität nach Brüssel abfließen lässt, zum Trotz. Denn die Kläger haben ja nicht unrecht, wenn sie anführen, dass dem Rettungsfondskonzept und den Targetverpflichtungen doch ein gewisser Leistungsautomatismus innewohnt. Aber ohne dieses Zugeständnis an die Politik hätten die Richter ihr Verdikt zum Anleihekaufprogramm der EZB nicht so scharf fassen können. Denn in der Beschlussvorlage für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) werfen sie der EZB vor, über ihr Mandat hinauszuschießen. Für die Euro-Rettung trage allein die Politik die Verantwortung. Wie hätten die Richter die Politik aber in diese Rolle drängen können, wenn sie ihr alle Rettungsinstrumente aus der Hand geschlagen hätten? Insofern stellt die Akzeptanz von ESM und Fiskalpakt in den Augen des Bundesverfassungsgerichts wohl das kleinere Übel dar.

Letztendlich drücken sich die Richter um eine klare Ansage zum richtigen Weg in ein integriertes Europa, wie es ja das Grundgesetz aufträgt. Da mögen Ängste vor einem Macht- und Bedeutungsverlust eine gewisse Rolle spielen, wie es in jeder großen Institution der Fall ist, die plötzlich nicht mehr in der Mitte stehen würde. Aber noch viel mehr dürfte es schlicht die Ratlosigkeit sein, wie sich Europa tatsächlich weiterentwickeln wird. Die Euro-Krise hat zwar neue gemeinsame Institutionen mit sich gebracht, doch die Menschen stehen dem Vorhaben angesichts der steten Brüsseler Machtausweitung immer skeptischer gegenüber. Deshalb ist der Rückgriff auf die nationale Verantwortung, dessen sich Karlsruhe befleißigt, die natürliche Reaktion auf die herrschende Unsicherheit.

Nun liegt der Ball wieder im europäischen Spielfeld. Die Akteure in Brüssel müssen das Vertrauen in den europäischen Integrationsprozess wiederherstellen. Dazu gehört eine stärkere Einbindung demokratischer Prozesse über das Europaparlament ebenso wie eine Zügelung des Machthungers von Institutionen. Ein Signal dafür könnte der EuGH senden, der die von Karlsruhe vorgelegte Frage nach der Rechtmäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms zu entscheiden hat. Bisher haben sich die Europarichter das Recht immer so hingebogen, dass die eigene Zuständigkeit ausgeweitet worden ist und europäische Institutionen gestärkt aus den Verfahren hervorgegangen sind. Eine zumindest teilweise Zügelung der EZB-Mandatsausweitung wäre ein Novum, würde den EuGH auch als ehrlichen Interpreten europäischer Rechte ausweisen und könnte dafür sorgen, dass das Bürgervertrauen zu Europa wieder zurückkehrt. (Börsen-Zeitung, 19. März 2014)

Karlsruher Dilemma

Es ist von „Kompetenzüberschreitung“ die Rede, von einer unterschwelligen „Verlagerung von Hoheitsrechten“, es wird die Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht konstatiert und eine „Umgehung“ des Verbots der Staatsfinanzierung kritisiert. Liest man die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu seinem Beschluss, die Frage nach einer Mandatsüberschreitung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Zuge der Eurorettungsmaßnahmen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen, so wird klar, dass die Richter das Anleihekaufprogramm OMT klar als verfassungswidrig eingeordnet und sofort unterbunden hätten – wenn es allein nach ihnen gegangen wäre.

Doch Karlsruhe sah sich offensichtlich diversen Zwängen ausgesetzt. Zum einen hatten die Richter wohl Bedenken, dass ein solches Verdikt die Euro-Krise in ihrer ganzen Schärfe hätte wiederaufleben lassen; womöglich mit der Folge, dass die Währungsunion ganz zerbrochen wäre. Das hätte man dann allein ihnen zur Last gelegt. Das Risiko einer solchen Katastrophe wollten sie offensichtlich nicht tragen. Zum anderen ist für die Rechtsaufsicht der EZB formal allein der EuGH zuständig. Schon in der Vergangenheit hatten sich die Karlsruher Richter in europapolitischen Fragen zurückgehalten und sich hilfsweise auf die nationalen Folgen für die heimischen Verfassungsorgane konzentriert. Ausfluss dieser Haltung war immer ihre Forderung, dem Parlament mehr Mitsprachemöglichkeiten in Europafragen einzuräumen. Im Falle der EZB hätte das BVerfG nun aber eine Europainstitution direkt maßregeln müssen, was auf eine europäische Verfassungskrise hinausgelaufen wäre.

Vor diesem Hintergrund ist der Vorlagebeschluss an den EuGH zumindest klug eingefädelt, indem man den Richtern dort zugleich die eigene Sicht der Lage vor Augen führt. Bislang hatten die Luxemburger nämlich jedwede Kritik an Kompetenzüberschreitungen europäischer Institutionen abtropfen lassen und diesen sogar einen weiten Interpretationsspielraum eingeräumt. Auch im Fall des OMT ist deshalb vom EuGH eher ein „Freispruch“ zu erwarten. Allerdings können die Luxemburger Richter die Argumente der Karlsruher Kollegen nun nicht einfach übergehen. Tun sie das trotzdem, ist der Konflikt programmiert. Denn die deutschen Richter können dann nicht einfach hinter ihre bisherige Position zurückfallen, sondern müssen ihrer Rechtsauffassung gemäß deutschen Institutionen – also auch der Bundesbank – dann die institutionelle Mitwirkung im Europaverbund untersagen. Das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH bezieht sich nur auf das Europarecht.

Diese Konstellation dürfte auch die Europarichter nicht kaltlassen und sie dazu bewegen, dem Fingerzeig ihrer Karlsruher Kollegen zu folgen. Die signalisieren nämlich durchaus Kompromissbereitschaft: Wenn das OMT-Programm gedeckelt, die mittelbare Staatsfinanzierung unterbunden, die Inkaufnahme eines Schuldenschnitts ausgeschlossen und der EZB rechtliche Grenzen aufgezeigt würden, wären sie zufrieden. Anderenfalls stünde Europa die nächste politische Eskalation bevor.

Die teilweise heftigen Reaktionen zum Verhalten des Bundesverfassungsgerichts sind symptomatisch für die latente Instabilität der Europäischen Währungsunion: Die Integration hat inzwischen eine Tiefe erreicht, die sich weder in der Verfasstheit der gemeinsamen Institutionen widerspiegelt noch in der Haltung der Europäer. Verschiedene Mentalitäten und Rechtstraditionen prallen aufeinander. In der Euro-Krise haben sich die Gesellschaften eher noch mehr auseinandergelebt, sich wieder auf nationale Interessen besonnen. Jeder Konflikt führt zu noch mehr Animositäten. Auch von politischer Seite ist keine Überwindung der Konflikte zu erwarten.

Die Verfassungsrichter haben letztlich nur ihre institutionellen Grenzen formal anerkannt, wonach der EuGH inzwischen die oberste Rechtsprechung in Europa darstellt. Für viele eher national ausgerichtete Beobachter ist diese Erkenntnis zunächst einmal ein Schock – vielleicht ein heilsamer. Nun müssen die Richter am EuGH beweisen, dass sie dieser Machtposition auch gewachsen sind. Es darf nicht sein, dass ihre Rechtsprechung immer nur darin besteht, europäischen Institutionen Recht zu geben und diesen immer mehr Kompetenzen zuzuschanzen. Der Ärger über Europa insgesamt könnte sonst ein Ausmaß annehmen, das alle Schreckensszenarien in den Schatten stellt, über die in der Euro-Krise fabuliert wurde.

(Börsen-Zeitung, 8.2.2014)