Andreas Nahles

Reform rückwärts

Die geplante Rentenreform der großen Koalition destabilisiert die Sozialsysteme gerade in Zeiten der größten demografischen Herausforderung.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Noch vor einem Vierteljahr stand Deutschland wegen der demografischen Stabilität seiner sozialen Sicherungseinrichtungen fast schon als Musterknabe da. Nur Lettland, Estland und Italien waren besser auf die Herausforderungen der demografischen Veränderungen vorbereitet, hatte eine Arbeitsgruppe der Stiftung Marktwirtschaft zur Generationenbilanzierung herausgefunden. Viele europäische Volkswirtschaften hatten die nötigen Reformen noch nicht einmal angefangen, um die soziale Absicherung ihrer Bürger auch in Zeiten einer alternden Bevölkerung gewährleisten zu können.
Doch den Großkoalitionären genügt ein Federstrich, um die Reformerfolge der vergangenen Jahre zunichtezumachen. Die jetzt vorgelegten Rentenreformpläne nämlich, die für langjährige Beitragszahler einen früheren Rentenbeginn ermöglichen, Erziehungszeiten vermehrt anerkennen und Altersarmut vermeiden sollen, werden nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums bis zum Jahr 2020 rund 60 Mrd. Euro kosten; bis 2030 sind es dann gar 160 Mrd. Euro. Das allein stellt schon eine Horrorzahl dar, doch Ökonomen gehen davon aus, dass die Kosten noch höher liegen werden – von den damit in Zusammenhang stehenden wirtschaftlichen Kollateralschäden ganz zu schweigen.

Nun steht die deutsche Wirtschaft derzeit blendend da, die Steuereinnahmen fließen in breiten Strömen Richtung Fiskus, und insofern könne sich die Gesellschaft, wie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nicht müde wird zu betonen, derlei „sinnvolle“ Ausgaben auch leisten. Doch zum einen sind die vorgelegten Pläne noch nicht einmal geeignet, die eigentlich ins Auge gefassten Zielgruppen auch wirklich mit den erforderlichen Leistungen zu beglücken, wie viele Kritiker bemängeln. Zum anderen bleiben uns die Mehrausgaben auch dann erhalten, wenn es der Wirtschaft einst nicht mehr so gut geht und die demografischen Lasten erst so richtig spürbar werden. Letztere kommen erst in den nächsten Jahren so richtig zur Entfaltung. Und passiert beides zugleich, können die Kostenlasten, über die derzeit so leichtfertig hinweggegangen wird, der deutschen Wirtschaft noch das Rückgrat brechen. Sieht sich der Staat dann obendrein gezwungen, den Unternehmen über die schlimmsten Folgen hinwegzuhelfen, wäre es auch um die Konsolidierung der Staatsfinanzen geschehen – Schuldenbremse hin oder her. Ob in einer solchen Lage, Deutschland noch attraktiv sein wird für Zuwanderer, auf die unsere Unternehmen gerade in dieser Phase angewiesen sind, oder für Standortinvestitionen ist fraglich. Zudem droht großen Bevölkerungsgruppen dann erst recht jene Altersarmut, die zu vermeiden die Reformarchitekten heute vorgeben.

Die geplanten Änderungen bei der Rente entfalten ihre verheerende Wirkung aber nicht erst in einigen Jahren, sondern hinterlassen schon jetzt tiefe Spuren. Weshalb sollten Unternehmen ältere Mitarbeiter noch fortbilden und bis ins hohe Alter fit halten, wenn sich diese schon bei der nächsten Gelegenheit aufs Altenteil zurückziehen können? Obendrein wird damit der schon jetzt beklagte Fachkräftemangel weiter verstärkt. Und die mit der Reform steigenden Beitragslasten tragen auch nicht dazu bei, den Standort Deutschland aufzuhübschen.

Schon jetzt wird allenthalben über die Investitionszurückhaltung der Unternehmen geklagt. Absehbar immer schneller steigende Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen, ein sich noch verstärkender Facharbeitermangel und eine höhere Steuerbelastung tragen aber sicher nicht dazu bei, dass sich der Attentismus verflüchtigt. Womöglich sieht sich der Staat dann noch zu Steuerbeihilfen für Investitionen gezwungen, was seinerseits den Haushalt zusätzlich belasten und womöglich Steuererhöhungen nach sich ziehen würde. Der staatliche Reparaturbetrieb sorgt also selbst dafür, dass er immer neue „sinnvolle“ Aufgaben findet. Kurz: der Sozialstaat nährt den Sozialstaat.

Nun muss man nicht gleich Untergangsszenarien an die Wand malen. Die große Koalition sollte sich aber den Argumenten der Kritiker nicht versperren und auch einmal über den Tellerrand der laufenden Legislaturperiode hinausblicken. Denn das Pochen auf einmal vereinbarte Passagen im Koalitionsvertrag läuft dem Gemeinwohlauftrag, dem sich die Politiker verpflichtet haben, klar zuwider. Und eine Erkenntnis sollten sie sich ebenfalls vor Augen halten: Ökonomische Fehlentscheidungen werden stets in guten Zeiten gefällt. Die vorliegende Rentenreform scheint das wieder zu bestätigen.

(Börsen-Zeitung, 21.1.2014)