Zukunftsvergessenheit als Parteiprogramm

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die Klage über Politikverdrossenheit und das Aufkommen populistischer Parteien jenseits des etablierten Spektrums ist vielgestaltig. Diesbezüglich wurden schon viele tiefenpsychologische Analysen der heimischen Seele angestellt, wird immer wieder die deutsche Historie bemüht oder muss die aktuelle Debatte über soziale Ungleichheit als Erklärungsansatz herhalten. Allerorten suchen Politologen und Politiker nach einem Rezept, um die Menschen wieder mit dem politischen System und seinen Vertretern zu versöhnen. Doch die Gründe für die Krise des politischen Systems sind viel offenkundiger als es die hochkomplexen Analysen vermuten lassen: Ein Blick auf das aktuelle politische Geschehen in der Großen Koalition reicht bereits, um eine Diagnose zu wagen. Denn letztlich geht es um gebrochene politische Versprechen, um das Auseinanderfallen zwischen Wort und Tat, um Klientelpolitik und um Machterhalt um des Amtes willen – im Kern letztlich um die politische Glaubwürdigkeit, die über Jahre verspielt worden ist. Nur eine Verhaltensänderung der politischen Parteien und ein Kulturwandel im politischen Betrieb können die Entwicklung aufhalten und zurückdrehen.

Der jüngste Schub für den Glaubwürdigkeitsverlust: In Interviews und in diversen Verlautbarungen verspricht die Politik den Deutschen eine Digitalisierungsoffensive , um den internationalen Rückstand endlich aufzuholen, man zelebriert den zwischen Bund und Ländern vereinbarten „Digitalpakt“, damit die Schulen endlich Anschluss an das digitale Zeitalter finden, und es werden hohe Geldsummen ins Schaufenster gestellt, die der Bund in die Künstliche Intelligenz investieren will. Und natürlich soll auch der Verteidigungshaushalt – wie international eigentlich versprochen – angehoben werden, damit Deutschland seine sicherheitspolitischen Verpflichtungen erfüllen kann. Insofern sieht es gut aus für die Zukunft unserer Gesellschaft, weil die notwendigen Investitionen vorgenommen werden, damit das Wirtschaftswachstum auch künftig gesichert ist, aus dem Infrastruktur, Soziale Sicherung und das Wohlergehen der Staatsbürger finanziert wird.

Doch auf der Arbeitsebene sieht es dann ganz anders aus. Hier geht es wie immer zunächst um die Einlösung der vielen sozialpolitischen Versprechungen, die stets Vorrang hatten – und offenbar auch haben wie die „Respektrente“. Und plötzlich, so lässt Bundesfinanzminister Scholz (SPD) verlauten, ist für die Zukunftsinvestitionen leider, leider kein Geld mehr da: nichts für KI, die Digitaloffensive bleibt stecken, und für den Digitalpakt steht weniger bereits als ausgemacht. Selbst an der Integration der Zuwanderer – ein entscheidender Punkt für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft – wird gespart. Und natürlich müssen auch die verteidigungspolitischen Ausgaben gekürzt werden. Die Hoffnung auf eine Zukunftsoffensive zerplatzt. Nicht nur Wirtschaftsvertreter sind enttäuscht, sondern auch alle (jungen) Menschen, denen etwas an nachhaltigem Wachstum und einer gedeihlichen Entwicklung liegt.

Die politische Absicht ist klar: es geht um Wählergruppen, die mit den sozialpolitischen Segnungen gewonnen werden sollen. Doch selbst die Profiteure dieser Politik dürften sich ob der darin zum Ausdruck kommenden Zukunftsvergessenheit von den handelnden Parteien abwenden. Denn auch sie wissen, dass nur eine richtige Balance aus Sozialausgaben und Investitionen den Staatshaushalt langfristig zahlungskräftig halten kann; auch sie haben Kinder, denen daran liegt, dass diese kein ökonomisch kaputtes Land übernehmen müssen.

Man fragt sich, wie es passieren kann, dass sich die Politik einer solch kurzfristigen Denkweise befleißigt. Wie können die Unionsparteien, die sich sonst gern als Erbe der Erhard’schen Wirtschaftspolitik sehen, einen solchen Kurs zulassen? Und wie kann die ehemalige Arbeiterpartei SPD, die über Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter doch eigentlich tief in der Realwirtschaft verwurzelt ist, auf die Idee kommen , dass es nur noch um das Hier und Jetzt und nicht mehr um das Morgen geht in der Politik?

Es ist die Ideologisierung allen Tuns in Berlin und den Abgeordnetenhäusern. Zu sehr schmoren die politischen Akteure im eigenen Saft, speisen sich aus staatsnahen Berufsgruppen und der Beamtenschaft. Viele Politiker, die in kommunaler Verantwortung stehen, wissen, dass es ohne die nötige Erdung nicht geht, wissen ob der Gründe, die „Wutbürger“ hervorbringen – und ecken mit ihren Ansichten deshalb zunehmend im politischen Betrieb an. Wenn die etablierten Parteien die Wähler zurückgewinnen will, müssen sie in ihre Glaubwürdigkeit investieren. Und das geht nicht ohne Ehrlichkeit und einen politischen Kulturwandel.