Ende der alten Ordnung

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die sozialen Medien und die Globalisierungsdebatte – Twitter, Facebook & Co. geben den Ton an

„Wenn das Gefühl stark ist, kommst du mit Fakten nicht mehr durch“, bemerkte einst der Psychoanalytiker und Philosoph Horst-Eberhard Richter. Nirgends lässt sich das besser beobachten als in den sozialen Medien, wo Twitter seinen Nutzern auf 280 Zeichen (vorher 140) allenfalls kurze Meinungsäußerungen erlaubt. Differenzierung und das Abwägen von Fakten sind unmöglich. Mit „Hashtags“ werden Beiträge zudem gebündelt und zugeordnet, womit sich schnell ein Spin in Debatten bringen lässt. Zugleich spielen automatisch generierte Meinungsmaschinen, „Social Bots“, eine Öffentlichkeit vor, die es nicht gibt. Lange Zeit wurde die politische Macht der sozialen Medien verkannt. Erst mit der Brexit-Abstimmung und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten richtete sich der Fokus auf sie, da Propaganda und Manipulationen beide Male eine große Rolle spielten.

"Contra TTIP" erfolgreich

Auch die Freihandelsdebatte ist durch Twitter & Co. entscheidend beeinflusst worden, wie das Europäische Journalismus Observatorium (EJO) in Dortmund zeigt. Gleich zu Beginn der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) drehten NGOs wie Attac, WikiLeaks, Greenpeace, Lobbycontrol und Campact die Debatte „contra TTIP“. Das EJO spricht von „affektiven Nachrichtenströmen“ und von kollaborativen, unkoordinierten Prozessen. Die Medienwirksamkeit ist enorm angesichts dessen, dass allein Twitter wöchentlich etwa 1,8 Millionen aktive Nutzer in Deutschland aufweist (Facebook: 20,5, Instagram 5,6 Millionen).

Ausgewogene Inhalte in der Freihandelsdebatte, kritisiert das EJO, seien geradezu marginalisiert worden und gegen die Übermacht der Antistimmung nicht angekommen. Und da viele Journalisten auf Twitter aktiv sind, hatte dies auch Rückwirkungen auf die Tonlage in der klassischen Berichterstattung – ein Multiplikatoreffekt par excellence.

Digitale Öffentlichkeit

Wie sehr die sozialen Medien bisweilen die Meinungsmacht übernehmen, zeigten zuletzt auch die Proteste der „Gelbwesten“ in Frankreich – ein Aufstand ohne Führungspersönlichkeit, allein geleitet durch Koordination und Verstärkungseffekte über die sozialen Medien.

Schnell kann sich in den klaustrophoben Filterblasen im Netz eine Wut zu allerlei Themen aufbauen. Dort befindet man sich unter Seinesgleichen, bestätigt sich gegenseitig, stachelt sich auf, kapselt sich ab von „störenden“ Informationen. Digitalpublizist Sascha Lobo spricht vom Medien-Nihilismus: nichts glauben, nichts sehen, die Verneinung von Erkenntnismöglichkeit, die Unterstellung, alles sei manipuliert. In einem solchen Klima des Misstrauens ist der klassische öffentliche Diskurs unmöglich, können Minderheiten den Ton angeben und demokratische Entscheidungen kippen.

An wen können sich Politik und Wirtschaft denn noch wenden, wenn ihre Glaubwürdigkeit von vornherein angezweifelt wird und Fakten nicht mehr anerkannt werden? Wie lassen sich größere politische Projekte überhaupt noch durchsetzen, wenn „Wutbürger“ über soziale Medien die Wahrnehmung des ganzen Meinungsspektrums verzerren? Das, was man einmal „Öffentlichkeit“ genannt hat, braucht ein Update. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen den Diskurs neu aufsetzen, etwa auch dadurch, dass man Social Bots als solche kennzeichnet.