Griechische Dialektik

Vor dem Referendum sortiert Athen seine Argumente gegen die „Austeritätspolitik“.

Ein Blick auf die für das anstehende Referendum freigeschaltete Informationsseite der griechischen Regierung im Internet ist erschütternd: Um 35 % sind die Selbstmorde in Griechenland seit 2010 gestiegen, die Zahl der Depressionen hat um 270 % zugenommen und fünfmal so viele Menschen wie vor fünf Jahren sind ohne Krankenversicherung. Das Bruttoinlandsprodukt ist in dieser Zeit um ein Viertel geschrumpft, der Mindestlohn um die Hälfte gekürzt worden und die Armutsquote von 28 auf 35 % gestiegen. Und wer ist schuld? Ganz klar, die Austeritätspolitik der “Institutionen” aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF). Ohne deren Auflagen, so wird insinuiert, würde das Land quasi prosperieren. Kein Wunder, dass inzwischen sogar auf einer Crowdfunding-Seite für Griechenland gesammelt wird. Rund 1,7 Mill. Euro von knapp 100.000 Personen sind inzwischen zugesagt für einen “Bail-out Fund”. Als Gegenleistung kann man — je nach Betrag — die Lieferung von Schafskäse, einer Flasche Ouzo oder einen Essenskorb wählen.

Auch in den sozialen Netzen zeigt sich mehr Unverständnis über die harte Haltung der Geldgeber als über die erratische und verantwortungslose Athener Verhandlungsführung. Viele Ökonomen halten die Austeritätspolitik der Geldgeber auch wirtschaftlich für unsinnig, ebenso das Pochen auf die strikte Einhaltung von Regeln. Mehr Geld, auch auflagenfrei, würde nach so manchem Verständnis zudem nicht nur Griechenland, sondern auch die Eurozone insgesamt retten. Ein alter Ökonomenstreit, der mit der Sparverweigerung der Griechen nun neue Nahrung erhalten hat.

Viele der Austeritätskritiker machen sich es hier aber zu einfach, weil sie verkennen, in welcher schwierigen Lage Euroland mit einer Währung, aber vielen Fiskalpolitiken ist. Käme Athen mit seinen Vorstellungen nämlich durch und erhielte noch mehr Zugeständnisse, könnten Gruppierungen in anderen Ländern ein solches Verhalten als Blaupause hernehmen. Das würde dann zum Zerwürfnis der Eurozone führen, weil die Steuerzahler in den Geberländern rebellierten. Europa würde entzweit. Neue politische Krisen wären die Folge.

Wenig ist indes die Rede davon, dass die Vorgängerregierungen in Athen das Land zuschanden geritten hatten, Nepotismus gefördert und die reichen Familien geschützt haben. Während die Sparforderungen stets umgesetzt und (absichtsvoll?) so implementiert wurden, dass die Schwächsten in der Gesellschaft getroffen wurden, hatte man jene Reformen verwässert oder schlicht “vergessen”, welche Besitzstände wohlhabender Bürger gefährdet hätten. Auch die Linkspartei von Regierungschef Alexis Tsipras, die eigentlich angetreten ist, mit den alten Strukturen zu brechen, hat es bis heute unterlassen, die soziale Umverteilung im Land in Gang zu setzen. Stattdessen wurde von den Gläubigern ein Schuldennachlass und noch mehr frisches Geld gefordert, um die Wahlkampfversprechen einlösen zu können. Von Reformen etwa in der Steuerverwaltung oder bei der Fahndung nach Steuerflüchtlingen und Steuerhinterziehern keine Spur.

Gewiss hat es viele Fehleinschätzungen der Troika gegeben etwa bezüglich der Wachstumsprognosen, der Nebenwirkungen der Sparpolitik und der institutionellen Ineffizienz in Griechenland. Entsprechend wurden die Zielrichtung im zweiten Hilfsprogramm auch angepasst und die Sparvorgaben aufgeweicht. Davon konnten dann Portugal und Spanien profitieren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EZB-Präsident Mario Draghi haben kürzlich darauf hingewiesen, dass entgegen der Athener Darstellung gerade die soziale Fairness Leitschnur der Troika-Politik gewesen sei.

Mehr denn je hätte man insofern von vornherein auf institutionelle Anpassungen und Strukturreformen Wert legen müssen. Aber die Durchsetzung von Letzterem findet ihre Grenzen eben in der Souveränität des jeweiligen Landes. Zumal Strukturreformen immer nur dann funktionieren, so der Ökonomie-Nobelpreisträger Kenneth Rogoff, wenn die umsetzende Regierung auch dahintersteht. Das war in Athen aber nie der Fall. Und deshalb wurde auch stets die Solidaritätsfinanzierung durch die Steuerzahler anderer Länder eingefordert, um die Finanzlücken für eine Lebensweise und ein Wohlstandsniveau zu stopfen, worauf man — ohne eigenes Zutun — ein Anrecht zu haben glaubt. Ganz nach dem dialektischen Materialismus, wonach “das Sein das Bewusstsein” bestimmt.