Überfällig: Steuerpolitik fürs digitale Zeitalter

Von Stephan Lorz

Neulich im Pendlerzug nach Frankfurt: Diskussion mit einem Volkswirt. Tenor: Unser Steuersystem ist viel zu kompliziert geworden und produziert deshalb immer mehr Ungerechtigkeiten. Steuervereinfachung, mehr Pauschalisierungen und mehr Freibeträge seien unbedingt nötig. Der Aufwand zur Herstellung einer wie auch immer definierten „Gerechtigkeit“ sei immens, Folgewirkungen von Eingriffen überhaupt nicht mehr zu überschauen, gut gemeinte Korrekturen liefen oft aufs Gegenteil hinaus. Letzten Endes würden ja trotzdem nur einzelne Gruppen bevorzugt – und bezahlen müsste jene „Verbesserungen“ ohnehin stets die Mittelschicht. Das Ganze sei obendrein eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Steuerbürokratie und für Anwälte.

Neulich im Pendlerzug zurück nach Aschaffenburg: Diskussion mit einem Anwalt. Tenor: Nein, das Steuersystem sei nicht zu kompliziert. Das sei vielmehr unserer komplexen Gesellschaft geschuldet und eine Folge der politischen Aufgabe, das Steuersystem möglichst gerecht für alle auszugestalten. Pauschalisierungen würden den vielen Einzelfällen ebenso wenig gerecht, wie Vereinfachungen, weil dann nötige Differenzierungen verloren gingen. Und dass sich mit der steigenden Komplexität immer wieder Steuerschlupflöcher auftun würden, sei letztlich nur dem Umstand geschuldet, dass die Bestimmungen nicht wasserdicht formuliert würden, zu wenig an Interpretationen und Folgewirkungen gedacht werde. Der Grund: In der Staatsbürokratie und beim Fiskus fehle schlicht das nötige exzellente Personal dafür. Steuerexperten würden im Staatsdienst eben nicht so gut bezahlt wie in der freien Wirtschaft, weshalb man in letzterer dem Fiskus immer einen Schritt voraus sei.

Eine andere Erklärung: Bürokratie nährt die Bürokratie. Und im Deutschen Bundestag ist ein Berufstypus nun Mal besonders stark vertreten: Beamter und Jurist in Personalunion. Aber sind die Repräsentanten der Unternehmen so viel besser? Viele Berater aus der freien Wirtschaft sind schließlich direkt in den Ministerien zugange; und obendrein wimmelt es dort auch von Lobbyisten. Die warnen schon im Vorfeld neuer Steuergesetze vor dramatischen Folgen für die Gesellschaft (Arbeitsplätze etc.). Aber das Gemeinwohl haben sie dort wohl weniger im Blick als auftragsgemäß das Wohl ihrer Financiers. Auch das Einknicken der Politik vor solchem Lobbyismus trägt zur beklagten Komplexität bei und erschwert jede Steuerreform.

Aber die Zeit drängt. Eine Steuerdiskussion ist angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen von Digitalisierung, der Macht von Algorithmen und der Plattformökonomie (Facebook, Youtube etc.) überfällig. Vor vielen Jahren hatte man damit – gewiss unter anderen Voraussetzungen – schon einmal interessante Ansätze hervorgebracht. Stichwort: Bareis-Kommission, Kirchof’sches Steuergesetzbuch, Negativsteuer, konsumorientiertes Steuersystem. Die Politik zeigte sich aber schon damals wenig beeindruckt und aufnahmefähig. Die meisten Vorschläge wurden zerredet, verwässert und als weltfremd gebrandmarkt. Zumindest hatten Vertreter aus Wissenschaft und Praxis seinerzeit aber den Mut aufgebracht, für die Staatsfinanzierung eine neue zeitgemäße Grundlage zu entwerfen und dies auch öffentlich kundzutun.

Ein solcher Versuch wäre heute wichtiger denn je – nicht zuletzt wegen der Verschiebung der Wertschöpfung hin zu Kapitalinvestitionen und zu virtuellen Gütern. Dies zerstört nämlich sukzessive die Finanzierungsgrundlagen des Steuer- und Sozialstaats. Einseitig belastet werden alle immobilen Personen und Unternehmen, die an der Scholle gebunden sind (als Investor, als Unternehmer und als Arbeitnehmer), während die virtuellen Wertschöpfungsquellen und ihre Geldgeber sich ihren Besteuerungsort quasi frei aussuchen können. Und immer wieder neu gegen die auf diese Weise mögliche Steuervermeidung und -verlagerung vorzugehen, gegen die digitalen Plattform- und Profitmaschinen wie Amazon, Google, Facebook & Co. ins Feld zu ziehen, ohne ein grundlegendes Konzept vor Augen, ist letzten Endes zum Scheitern verurteilt.

Es ist daher an der Zeit, die Blockaden gegen eine große Steuerreform durch festgefahrene Gruppeninteressen und Verhaltensweisen sowie die Bequemlichkeit und Desinteressiertheit der Politik endlich aufzubrechen. Ansonsten erodieren die Finanzgrundlagen des (Sozial-)Staats wegen der Digitalisierung, der rasanten Automatisierung (Roboterisierung) der Wirtschaft sowie der zunehmenden Hegemonie von Plattformökonomien und künftigen Dominanz Künstlicher Intelligenz (KI).

Nebenbei bemerkt: Nicht nur in der Steuerpolitik fehlt es an grundlegenden öffentlichen Debatten als Reaktion auf die sich rasant verändernden Rahmenbedingungen. Das trifft auch die Politik selbst, wo Reformen dafür Sorge tragen müssten, um die Voraussetzungen für und das Funktionieren von Demokratie in einer Zeit der Hassreden, Echokammern und Desinformation in den Sozialen Medien zu gewährleisten. Mehr denn je ist hier die öffentlich finanzierte Wissenschaft aufgerufen, den politischen Repräsentanten Ideen anzubieten, wie die Transformation von analogen in die digitale Marktwirtschaft und von Versammlungsparteien in Wirtshaus-Hinterzimmern zu modernen Plattformparteien gelingen kann, die auch im Cyberraum als „modern“ wahr- und ernstgenommen werden.