Deutschlands Integrationsproblem

Auch viele Monate nach dem Beginn der großen Flüchtlingswelle nach Europa stochern Ökonomen immer noch im Nebel, was die ökonomischen Auswirkungen angeht. Nur eines ist klar: Die Integration muss sehr schnell sehr viel besser werden. Die Flüchtlingswelle erfordert ein Umdenken in der Verwaltung – und der Sozialstaat muss vor Auszehrung geschützt werden.

Nach den ersten geradezu euphorischen Äußerungen von Volkswirten und Unternehmenschefs über die möglichen ökonomischen Folgen des anhaltenden Flüchtlingsstroms für Deutschland ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt. Neueren Berechnungen zufolge waren nicht nur die rein fiskalischen Kostenschätzungen zu optimistisch angelegt, auch Hoffnungen auf eine demografische Dividende zerplatzen. Das Statistische Bundesamt wies darauf hin, dass der Trend der alternden Bevölkerung durch die Flüchtlinge nicht umgekehrt wird. Allenfalls könnten Tempo und Ausmaß gemindert werden. Manche Fachleute wie der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen warnen sogar, dass durch die Zuwanderungswelle die Finanzierungsprobleme eher wachsen.

Einig sind sich alle Ökonomen, dass es nun vor allem auf die Integration der zugewanderten Menschen ankommt. Und hier hat Deutschland ein hartes Stück Arbeit vor sich, ist es in der Vergangenheit doch gerade daran gescheitert. Während sich einer Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge die Zuwanderung für viele Länder fiskalisch sogar als Gewinn herausgestellt hat (siehe Grafik), was zum Teil auch mit der soziokulturellen Struktur der eingewanderten Menschen zu tun hat, zahlte Deutschland unterm Strich drauf. Zwischen 2007 und 2009 betrugen die staatlichen Mehrausgaben mehr als 1 % des Bruttoinlandsprodukt (BIP). Um die gegenwärtige Flüchtlingswelle zu verkraften, müssten sich die Strukturen also schon grundlegend wandeln.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der UNHCR, das Flüchtlingswerk der UN, haben in einer jüngst vorgestellten Studie die Notwendigkeit einer aufeinander abgestimmten Integrationspolitik noch einmal unterstrichen. Es seien „erhebliche Investitionen“ nötig, betonte OECD-Generalsekretär Angel Gurría, um die Qualifikationen der Flüchtlinge anzupassen und weiterzuentwickeln: „Auf kurze Sicht mag dies schwer und kostspielig sein, mittel- und langfristig werden wir aber alle davon profitieren.“ Die Analysen zeigten, welchen Gewinn erfolgreiche Integration für die Wirtschaft und Gesellschaft bringen könne. Je eher Flüchtlinge die nötige Unterstützung erhielten, desto besser sei ihre Integrationsperspektive.

Streitpunkt Mindestlohn

Der schnelle Zugang in die Beschäftigung ist vor diesem Hintergrund die entscheidende Stellschraube. Der IWF schlägt in seiner Studie neben den Integrationsprogrammen etwa eine staatliche Subvention von Lohnkosten und eine vorübergehende Senkung des Mindestlohnes vor. Die Furcht vor einem größeren Lohndruck durch die arbeitssuchenden Flüchtlinge hält der IWF für übertrieben. In der Vergangenheit habe man „kaum negative Folgen für Löhne und Arbeitsplätze festgestellt“.

Die Gewerkschaften sind davon nicht überzeugt. Kommen neue Jobsucher auf den Markt, erhöht sich schließlich zunächst die Zahl der Arbeitslosen, was die Position der Arbeitgeber stärkt und den gesellschaftlichen Druck auf die Gewerkschaften erhöht, niedrigere Einstiegslöhne der guten Sache willen zu akzeptieren. Deshalb betonen sie auch immer wieder, dass am Mindestlohn in Deutschland nicht gerüttelt werden dürfe und es vielmehr gerade „gerecht“ sei, wenn auch Flüchtlinge den Mindestlohn erhielten.

Doch dann muss der Sozialstaat einspringen und den Lebensunterhalt der Menschen finanzieren, die an der Lohnschwelle scheitern. Das öffnet ein neues Problemfeld: Ohne flexiblere Arbeitsmärkte und ohne Regeln, die den Sozialstaat vor Auszehrung schützen, kann das Experiment nicht gelingen, sagt Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn. Er warnt vor einer „Migration in den Sozialstaat“ und fordert eine klare Unterscheidung zwischen jenen, die einzahlen oder eingezahlt haben, und jenen, die sogleich in den Genuss der Leistungen kommen (wollen). Sozialstaaten, so Sinn, seien insofern „grundsätzlich nicht kompatibel mit der freien Wanderung der Menschen zwischen den Staaten“. Der „Sozialmagnetismus“ erodiere und lädiere die Sozialstaaten. Deshalb böte es sich an, wenigstens von den Lohnersatzleistungen, die ohne Arbeit zur Verfügung gestellt werden, zu einem System mit Lohnzuschüssen und Leistungen für kommunale Arbeit überzugehen. Das senke die Nettokosten der Leistungen – und verringere die Migrationsanreize.