Von der Wahrnehmungsverzerrung im Internet

Amazon, so eine Nachricht aus Großbritannien, verlangt von Verlagen auf der Insel neuerdings eine pauschale Nachdruckerlaubnis, wenn Bücher nicht mehr lieferbar oder nicht mehr im Auslieferungslager verfügbar sind. Das Echo in der Öffentlichkeit über diese Vermessenheit ist eher dünn, obwohl die Attacke noch zu dem Skandal über bewusste Lieferverzögerungen Amazons gegenüber Verlagen hinzukommt. Einige Häuser werden offenbar sanktioniert, weil sie nicht gleich auf die Amazon-Wunschliste eingehen im Hinblick auf Rabatte und die Einräumung spezieller Rechte weit über das übliche Maß hinaus. Amazon nutzt hier seine gigantische Marktmacht offen aus.

Auch der öffentliche Aufschrei gegenüber anderen Zumutungen, mit denen Amazon, Facebook, Apple, Google & Co. die Realwirtschaft herausfordern, ist eher verhalten. Das gilt auch für ihr Verhalten gegenüber ihren eigenen Nutzern, wenn sie ihnen etwa bei einem Upate bis auf Bibellänge ausgewalzte neue Nutzungsbestimmungen vorlegen, die sie gefälligst zu akzeptieren haben. Damit räumen sich die Internetkonzerne ganz nebenbei – im Kleingedruckten und via kryptische Formulierungen – von ihren Nutzern weitreichende inhaltliche Rechte ein, die weit über das hinausgehen, was einzelne nationale Gesetzesbestimmungen in der Realwirtschaft zulassen würden und was man selbst Freunden zugestehen würde. Das geschieht vielfach über „kleine“ Änderungen der kaum mehr überschau- und erfassbaren juristischen Texte, die jeder noch so kleinen Änderung am Programm vorgeschaltet werden – teils sogar nur in englischer Sprache. Ein Klick auf den Akzeptiere-Button – und die Rechte sind vergeben. Die Nutzer haben kapituliert, die Konzerne triumphieren. Die Taktik des Vertuschens, Vernebelns und verquasten Formulierens ist aufgegangen.

Die jüngsten öffentlichen Reaktionen auf die Entwicklerkonferenzen der großen Digitalkonzerne – Build von Microsoft, WWDC von Apple und jüngst I/O von Google – waren ebenfalls recht unkritisch, was die dort nonchalant ausgebreiteten Pläne zur Ausweitung der Konzernmacht auf die Nutzer angeht. Dabei geht es letztlich um die Aneignung ganzer Leben. Stattdessen wurde euphorisch über die Möglichkeiten der neuen Techniken schwadroniert. Jede noch so winzige „Verbesserung“ bei Apps, Betriebssystemen und Geräten wurde bejubelt und einer gottesdienstartigen Verehrung gleich von „Medien-Missionaren“ den technologischen Heiden verkündet. Die Konzerne selbst gelten in deren Augen in gewisser Weise für sakrosankt.

Selbst Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) räumte im Interview mit der FAZ zuletzt eine gewisse Beißhemmung ein. Würde ein Energieunternehmen wie Google 95 Prozent des Marktes abdecken, „wären die Kartellbehörden aber ganz schnell auf dem Plan“, sagte er und sieht sich selber als „Teil des Problems“, weil er täglich die googlesche Suchmaschine mit Fragen füttert.

Wie viel sich die Nutzergemeinde inzwischen gefallen lässt, ohne auch nur zu murren, zeigt ein Vergleich mit der Realwirtschaft: Wäre es etwa vorstellbar, dass ein Autohändler so einfach das Modell eines älteren – nicht mehr lieferbaren, weil durch eine neuere Version ersetzten – BMW einfach nachbaut? Amazon maßt sich das im Hinblick auf Verlage an. Oder, wie würden sich Verbraucher verhalten, wenn etwa die Hersteller von Fotoapparaten sich gleich auch die Rechte an den gemachten Bildern einräumen? Das tun etwa Facebook und Google. Längst machen Verbraucherzentralen und Verbraucherministerien Jagd auf kryptische Verträge im Handel, unzulängliche Aufklärungsgespräche etwa in der Finanzindustrie, verlangen Transparenz und Vereinfachung, vor allem aber Verständlichkeit und Offenheit beim Umgang mit Kunden. Bei der Digitalindustrie aber stehen sie eher abseits und fühlen sich irgendwie nicht zuständig. Es wird Zeit, dass sich die Gewichte diesbezüglich verschieben. Die Digitalindustrie unterliegt schließlich den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder anderer Akteur auf dem Markt.

Die Feigheit der EZB vor der Politik

Für die einen ist es hohe Kunst, für die anderen Hexenwerk: Gleich mit einer ganzen Phalanx an geldpolitischen Maßnahmen geht die Europäische Zentralbank (EZB) gegen die im Eurogebiet aufgekommenen deflationären Tendenzen sowie gegen die Kredit- und Wachstumsschwäche vor. Niedrigere Leitzinsen und ein negativer Einlagensatz sollen den Euro schwächen und die Konjunktur stärken, ein attraktiver, aber konditionierter Langfristtender die Kreditvergabe der Banken ankurbeln. Zudem wird der direkte Ankauf von Kreditpaketen (ABS) vorbereitet.

Der weitgehend auf unerprobtem Gelände stattfindende geldpolitische Rundumschlag der EZB dürfte in die Geschichtsbücher eingehen – falls das dahinterstehende Kalkül aufgeht! Und daran bestehen begründete Zweifel. Der mickrige Zinsschritt löst allenfalls einen Placeboeffekt aus, der Negativzins könnte sogar mehr schaden als nützen, wenn deswegen die Bankgebühren zulegen. Und der Markt für europäische ABS ist so klein, dass ein Ankauf von Papieren allenfalls symbolische Bedeutung hat. Die Wirkung auf die Realwirtschaft ist also eher begrenzt. Lediglich die Banken dürfen sich ungeteilt freuen, erhalten sie doch erneut billiges Geld für lau. Dabei herrscht an Liquidität kein Mangel.

Gleichzeitig begibt sich die EZB auf gefährliches Terrain: Denn die gebotene Kontrolle der Kreditkonditionen gebiert ein bürokratisches Monster. Fehlentscheidungen werden nicht ausbleiben und an der Glaubwürdigkeit der Notenbank nagen. Dabei ist diese das Zentrum ihrer Macht: Nur das Vertrauen der Marktteilnehmer und Eurobürger in die Neutralität und Unabhängigkeit der Notenbank hält die Geldordnung stabil. Wenn nun aber die EZB über die Kreditvergabe in die Realwirtschaft eingreift, durch ihre Geldpolitik viele Menschen um ihr Erspartes bringt, woran ganze Lebensentwürfe zerbrechen, zudem neue Unsicherheiten aufkommen, wird das Misstrauen sähen und ihre Instrumente abstumpfen lassen. Ganz abgesehen von dadurch heraufbeschworene Gefahren neuer Finanzblasen.

Die EZB hat zugleich eine gigantische Umverteilungsmaschinerie in Gang gesetzt. Das Bankenwohl steht an erster Stelle – und der Politik wird ein Freifahrtschein ausgestellt. Sie kann nun alle Reformanstrengungen fahren lassen. Die Eurobürger indes zahlen die Zeche. Es sind diese Rangordnung und die Feigheit der Notenbank, die Politik endlich durch geldpolitisches Stillhalten in die Verantwortung zu pressen, welche die größten Gefahren für die Eurozone darstellen.

Salon-Revolutionär Marx

Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, biedert sich wieder einmal bei seinen Schäfchen an. Waren es noch vor einigen Jahren ¨die Kapitalisten¨, denen er moralische Argumente zur Rechtfertigung ihres Tuns lieferte. Dafür wurde er von ihnen hoffiert und als ¨Kapitalismusversteher¨ gehandelt, der die Marktwirtschaft – natürlich in ihrer sozialen Variante – verstanden hat und verteidigt.

Nun hat sich mit dem neuen Papst allerdings der Wind gedreht – für die Kirche und für ihn. Deshalb sind jetzt all jene Opferlämmer an der Reihe, moralisch bedacht zu werden, die irgendwie unzufrieden sind über ihre aktuellen Lebensverhältnisse und die Lage in Deutschland insgesamt. Die Finanzkrise, die Bankenhilfen, die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik für die Peripherieländer bietet sich ja geradezu an – die Hintergründe und Ursachen dafür spielen ja keine Rolle. Das Feindbild ist klar. Und deshalb forderte Marx zum Katholikentag in Regensburg auch nicht weniger als die Überwindung des Kapitalismus und erklärte: „Wir müssen über die Neubestimmung der Gesellschaft und des Staates auf globaler Ebene diskutieren, über den Kapitalismus hinausdenken, denn Kapitalismus ist nicht das Ziel, sondern wir müssen ihn überwinden.“

Kein Wort allerdings über die Alternativen, die ihm vorschweben. Soll es der Staat richten, der auch – wie praktisch – die Kirchensteuer einzieht und an die Katholische Kirche weitergibt? Oder ein wohlmeinender Herrscher, der über Gut und Böse entscheidet und natürlich – wie die Kirche – über den gesellschaftlichen Niederungen steht, über dem „Markt“, über demokratisch verfasste Institutionen? Marx wird nicht konkret. Offenbar geht es – wieder einmal – nur um eine Fensterrede, um in die öffentliche Meinung für sich einzunehmen und sich für ein populäres Thema adeln zu lassen: Kapitalismus-Bashing. So wie Politiker gerne in Sonntagsreden Europa hochleben lassen, in den Hinterzimmern aber ihre nationalen Interessen durchzudrücken versuchen.

Denn wenn Marx seine Äußerungen ernst nehmen würde, müsste am Anfang das Bekenntnis stehen, sich vom Staat loszusagen – also auch von der Finanzierung der Bischöfe und Religionslehrer durch den Steuerzahler. Der Verzicht auf die Kirchensteuer wäre dann der nächste Glaubwürdigkeitsakt, gefolgt vom Bekenntnis, die Kirchenfinanzierung auf einen freiwilligen Beitrag umstellen zu wollen. Und schlussendlich müssten das Multi-Milliarden-Vermögen der Kirchen auf den Prüfstand gestellt und eine Diskussion über dessen sozialen Einsatz orchestriert werden. Schließlich hat doch gerade sein neuer Dienstherr, Papst Franziskus, verkündet, dass nur eine ¨arme Kirche für die Armen¨ die wahre Bestimmung dieser Organisation ist.

Solange das nicht einmal im Ansatz geschieht, das soziale Engagement allenfalls in Aufrufen zu Adveniat, Renovabis und Entwicklungshilfe gipfelt, ansonsten die Kirchenfürsten weiter in Protz und Pomp residieren (der Limburger Ex-Bischof Tebartz van Elst steht hier ja nicht allein, sondern hat, wie dessen Verteidiger immer wieder zeigen, auch viele Fürsprecher), solange ist der Aufruf von Marx nicht für bare Münze zu nehmen, sondern allenfalls als PR-Aktion zu werten. Das Ansehen der Kirche selber wird durch solche Salon-Revolutionäre jedenfalls nicht besser.