Analyse

Geopolitische Verunsicherung setzt der Konjunktur zu

Blicken die Ökonomen auf die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal, so kommen sie aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: 0,8 % Wachstum zum Quartal davor, gegenüber dem Vorjahr sogar ein Plus von 2,5 %. Außerdem wurde das Wachstum – lange Zeit untypisch für Deutschland – ausschließlich getragen von der Binnennachfrage. Die Kaufkraftgewinne durch deutliche Lohnsteigerungen, die Schaffung neuer Jobs und damit der Abbau der Arbeitslosigkeit haben den Konsum stimuliert. Zugleich erhöhte sich die Investitionsaktivität der Unternehmen. Der milde Winter verhalf ferner der Bauwirtschaft zu ungewöhnlich starker Performance zu dieser Jahreszeit. Der große binnenwirtschaftliche Nachfrageschwung konnte sogar kompensieren, dass der Außenhandel – ebenfalls eher untypisch für die deutsche Wirtschaft – eher bremsend auf das Wachstum einwirkte. Kurz: Der zuletzt immer wieder erhoffte selbsttragende Aufschwung hat sich im ersten Quartal tatsächlich eingestellt.

Mit den neuen Umfragedaten für das deutsche Geschäftsklima wurde den Hoffnungen, dass diese Wachstumskonstellation anhalten könnte, jetzt aber erst einmal ein Dämpfer versetzt. Die Stimmung der deutschen Unternehmen hat sich im Mai eingetrübt. Der vom Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ermittelte Geschäftsklimaindex sank mit 0,8 Punkten stärker als erwartet auf 110,4 Zähler. Während sich die Lageeinschätzung nur um 0,5 Zähler verschlechterte, gingen die Geschäftserwartungen um fast mehr als einen Punkt zurück.

Diese Entwicklung bedeutet noch nicht, dass der Aufschwung nun zusammenfallen wird und sich zyklisch schon die nächste Rezession am Horizont abzeichnet. Vielmehr liegen die Indexwerte weiter deutlich im Aufschwungbereich. Konjunkturbeobachter sprechen denn auch lieber von „Normalisierung“, weil die deutsche Wirtschaft die starke Performance des ersten Quartals einfach nicht habe durchhalten können. Und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn will eher von einer „Verschnaufpause“ reden. Die Unternehmen seien einfach nur „weniger optimistisch“.

Die Gründe für die Stimmungseintrübung sind vielfältig. Dabei ist die Verunsicherung durch die geopolitische Lage im Zuge der Ukraine-Krise sicher an erster Stelle zu nennen. Die Unternehmen sind deshalb einfach vorsichtiger geworden und halten sich mit Investitionsentscheidungen zurück. Eine Entspannung der Situation könnte sich dann später sogar in erhöhten Investitionsausgaben niederschlagen.

Auch die Lage in den Schwellenländern (Unruhen in Brasilien, trübere Wachstumsaussichten in China) lässt Unternehmer eher vorsichtig taktieren. Und auch die Enttäuschung über die schlechte Wirtschaftslage in Frankreich gepaart mit der eher kraftlosen Erholung in den Peripherieländern der Eurozone könnte eine Rolle gespielt haben.

Insgesamt ist vor diesem Hintergrund wohl mit etwas weniger Wachstum im Jahresverlauf zu rechnen. Der Aufwärtstrend aber scheint weiter intakt zu sein, weil vor allem der Privatkonsum als Wachstumstreiber erhalten bleibt wegen der zu erwartenden abermals deutlichen Lohnerhöhungen und der anhaltend niedrigen Zinsen.

„Selbst mit wieder spürbar moderateren Raten ist die Zwei vor dem Komma im Gesamtjahr 2014 sehr wahrscheinlich“, versichert KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner. Das seien sogar „erstaunlich gute Aussichten hierzulande“ angesichts der langsamen Stabilisierung in Europa und weiter ernster Risiken im internationalen Umfeld. Doch müsse die EZB nun beherzt gegen Deflationsrisiken vorgehen, um den Aufschwung zu verstetigen. Die damit einhergehende Abwertung des Euro würde dann für neuen Schwung sorgen.

Auch der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel, zeigt sich gelassen: „Ein Beinbruch ist der Ifo-Rückgang nicht.“ Lothar Hessler von HSBC Trinkaus sagt: „Deutschland wächst wieder so schnell wie vor der Finanzkrise. Der Investitionsstau löst sich zunehmend auf.“ Die Aussichten für die nächsten Quartale seien „unverändert positiv“, betont Stefan Kipar von der BayernLB.

Ökonomische Scheuklappen

Geht es nach den derzeit vorliegenden Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), so haben der Bürgerkrieg in der Ukraine und der Rückfall Moskaus in alte Verhaltensmuster keinen oder kaum Effekte auf den Fortgang der Konjunktur in Europa. Die wirtschaftlichen Aussichten werden unisono als recht positiv dargestellt. Auch Stimmungsumfragen bei Unternehmen signalisieren großen Optimismus. Der Ukraine-Konflikt wird nur am Rande thematisiert. Übermächtig ist offenbar der Drang, nun endlich die lange Rezessionsphase hinter sich lassen zu können. Selbst bei europäischen Unternehmern in Russland ist nur ein gewisser Attentismus auszumachen, wie den Osteuropaumfragen der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB) zu entnehmen ist. Russland halten die Investoren nämlich weiter für einen der „attraktivsten Märkte Mittelosteuropas“.

Aus den Prognosen und Umfragen sprechen eine zutiefst unpolitische Haltung und eine zu enge Fokussierung auf das Tagesgeschäft. Es scheint so, als hätten sich alle Marktakteure sektorale Scheuklappen angelegt: Sie unterschätzen die strukturellen Folgen der geopolitisch neuen Lage. Selbst, wenn sich nun eine gewisse Entspannung in der Ukraine andeutet, hat der Konflikt schon jetzt das Handlungsfeld der Unternehmen verändert: Das Vertrauen in Moskau ist erschüttert, ganz Osteuropa lebt in Angst, Unsicherheit macht sich breit, die Perspektiven sind vernebelt. Langfristig wird dies eine ökonomische Umorientierung des Westens erzwingen: weg von Russland, etwas weniger Osteuropa. Das wird Friktionen verursachen und Wachstum kosten.

Zunächst fällt durch den aktuellen Konflikt die binnenwirtschaftliche Wachstumsperspektive Russlands weg. Womöglich müssen auch Investments abgeschrieben werden. Zudem benötigen die gefährdeten Nachbarn Moskaus Finanzhilfen zur Stärkung gegen einen militärisch übermächtigen Gegner. Ein neuer Kalter Krieg ist zwar nicht zu erwarten, aber die Wirtschaftsbeziehungen der westlichen Unternehmen in Osteuropa erodieren – zudem schwindet die Friedensdividende der vergangenen Jahre. Denn Militärausgaben steigen mit der Bedrohungsangst.

Auch die notwendige Verringerung der Abhängigkeit vom russischen Gas ist für Deutschland teuer. Der massive Aufbau regenerativer Energien kann die Umstellungskosten zwar etwas lindern, doch fehlt es noch an Speicher und Energieträgern, die auch bei Windstille und Wolken verlässlich Strom liefern können. Zumal man nicht auf mehr Gaskraftwerke zurückgreifen kann. Schon die Energiewende 1.0 belastet die Verbraucher und lässt den Blick von Unternehmen sehnsüchtig ins Ausland schweifen. Nun kommt noch der Umbau der Gasversorgung hinzu mit mehr Flüssiggas und neuen Pipelines. Auch mit der Energiewende2.0 sind also massive Kostensteigerungen zu erwarten. Dies wird ebenfalls Wachstumsverluste nach sich ziehen und macht den Standort Deutschland unattraktiver.

Zuletzt hatten Wirtschaftsvertreter die Politik immer etwas naserümpfend von oben betrachtet. Ausgeblendet wurde ihre Bedeutung nicht nur für das Wirtschaftsleben selbst, sondern auch im Hinblick auf die Verlässlichkeit der Handelspartner. Denn nur die Politik kann für Stabilität von Wirtschaftsbeziehung sorgen und eine Wertegemeinschaft etablieren, die das nötige Grundvertrauen dafür herstellt. Die Hoffnung der Wirtschaft, allein mit „Handel“ den politischen „Wandel“ befördern zu können, hat sich nämlich als Fehler herausgestellt.

Diese politische Blindheit setzt sich nun auch in den Prognosen und Stimmungen von Ökonomen und Wirtschaftsakteuren fort, die viel zu optimistisch ausfallen und politische Instabilitäten ausblenden, wie sie etwa auch im Hinblick auf die Parteidiktatur China existieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise rückt deshalb wieder die EU in den Fokus. Brüssel ist eben mehr wert als die Summe der in der Gemeinschaft versammelten Einzelinteressen. Viele Ökonomen unterschlagen das gerne und machen eine rein pekuniäre Rechnung auf für den „Wert“ der EU. Stattdessen sollte es gerade jetzt darum gehen, die europapolitische Basis weiter zu stärken und handlungsfähiger zu machen – auch als Instanz zur Wahrung kontinentaler Interessen. Die EU ist schließlich mehr als ein Tummelplatz für Verbandslobbyisten: Sie ist Garant für das wirtschaftliche Überleben. Und auch viele Kritiker einer transatlantischen Freihandelszone dürften nun etwas kleinlauter werden.

Vorratsdaten vs. Big Data

Auch Wochen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung halten die Beifallsstürme in den Reihen der so genannten Verteidiger des freien Internet weiter an. Nach wie vor ergießt sich hämische Freude über Polizei und Justiz, die jetzt mit Einschränkungen ihrer Ermittlungsarbeit leben müssen. Unvereinbar mit den Grundrechten und unverhältnismäßig sei die bisherige Form der Vorratsdatenspeicherung, urteilten die Luxemburger Richter Anfang April. Zugleich wurden die Hürden für eine Neuregelung überaus hochgehängt.

Der Staat ist böse, so lautet der Kehrreim der selbsternannten Digital-Elite. Wenn es dann aber darum geht, den Verbreitern und Nutzern etwa von Kinderpornographie das Handwerk zu legen, hört man schnell den Vorwurf, der Rechtsstaat tue zu wenig oder betreibe nur Symbolpolitik – so jetzt wieder anlässlich des neuen Gesetzentwurfs von Bundesjustizminister Heiko Maas zur erhöhten Strafbarkeit bei der Veröffentlichung etwa von Nacktfotos. Da manchen Kommentatoren dann offenbar doch ein wenig mulmig wird, zumal sie sich gleichzeitig freuen, wenn der Polizei eine Datenbremse verpasst wird, wird nun hilfsweise das Argument bemüht, das Quasi-Verbot der Vorratsdatenspeicherung würde es nun halt auch den Geheimdiensten schwermachen, ihrer skandalösen Arbeit nachzugehen. Und vielleicht sei es sogar ein Hebel, um womöglich die transatlantische Spionage zu stoppen. Der Naivität in Bezug auf die Arbeit der Geheimdienste sind offenbar keine Grenzen gesetzt.

Erstaunlich wenig regen sich dieselben Internet-Kreise indes darüber auf, zu welchen weitaus fortgeschritteneren Daten-Abzockereien die Internet-Konzerne Facebook, Google, Apple & Co in der Lage sind, ohne durch Gesetzesbestimmungen oder einem öffentlichen Sturm der Entrüstung irgendwie behelligt zu werden. Dabei gehen sie damit noch viel weiter, als sich Polizei und Justiz auch nur ansatzweise trauen würden. Wo bleibt hier der gesellschaftliche Widerstand gegen diese Form der Freiheitsberaubung?

Nur ein paar „altmodische“ Publikationen wie die FAZ stechen hier mit ihrer aufklärerischen Berichterstattung und Analyse positiv heraus, weil es ihnen gelingt, die nötige Sensibilität für dieses Thema unter ihren Lesern zu erzeugen. Es ist auch der Beweis, dass gerade in hochkomplexen Fragen und Themenstellungen verantwortungsbewusster und seinem gesellschaftlichen Auftrag verpflichteter Journalismus besser in der Lage ist, die nötige Differenzierung und Wertung vorzunehmen als die vielgepriesenen sozialen Medien. Diese frönen vielfach nur dem aktuellen Herdentrieb, stürzen sich auf einzelne leicht zu popularisierende Themen mit klar personalisierbarer Freund-Feind-Zuordnung, um dann im Schutze der Anonymität ihren Urinstinkten und Reflexen nachzugeben.

Dass das Gebaren der Digitalkonzerne an vergleichsweise wenigen Stellen im Internet kritisch beäugt und kommentiert wird, ist vielleicht auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die entsprechenden Autoren auf diesem Auge naturgemäß blind sind. Denn sie nehmen die Nutzung von Facebook & Co als ihr Ökosystem wahr und es fehlt ihnen womöglich, weil sie darin „leben“, die nötige kritische Distanz. Sie müssten dann ja ihre eigene Welt infrage stellen.

Dabei ist von der vielgepriesenen Freiheit im Internet inzwischen ohnehin nicht mehr viel übrig, wenn unter ihrem Mantel dunkle Geschäfte und kriminelle Machenschaften gedeckt werden, ohne dass dies – etwa mangels Vorratsdatenspeicherung – geahndet werden kann. Zugleich schwingen sich neue Machtgebilde auf, den digitalen Marktplatz zu okkupieren, und das Nutzerverhalten – also die Marktakteure – zu manipulieren und auszuspionieren. Das geht weit über das hinaus, was in der „Realwirtschaft“ jemals geduldet worden ist. Würden sich Siemens, BASF oder VW solcher Instrumente bedienen, ein Aufschrei ginge durch die Öffentlichkeit.

Zumal Apple, Facebook und Google gleich mehrere Schritte weiter gehen und den Internetnutzern falsche Wahrnehmung zuspielen: Ihr Wissen über die persönlichen Daten ziehen sie heran, um die Suchergebnisse im Netz auf die Nutzer zuzuschneiden gemäß ihren politischen Einstellungen, ihren Lebensumständen, Geschlecht, Alter, Neigungen etc. Und während der Staat als Feind“ dargestellt wird, wollen sie selber natürlich nur das Beste. „Don’t be evil“, schreibt sich etwa Google auf die Fahne. Das Schlimme ist: Viele glauben das offenbar! Und es ist bequem. Schon seit jeher neigen Menschen zur Bequemlichkeit – und eine insofern „sanfte“ Diktatur ist mit dem Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit natürlich immer „bequemer“ als eine Demokratie in Freiheit, wo sich die Menschen selber um ihr Schicksal kümmern müssen.

Energiepolitisch erzwungene Beißhemmung

Noch vor etwa 30 Jahren war der Wunsch nach Versorgungssicherheit und möglichst geringer Abhängigkeit gegenüber einzelnen Lieferländern die innere Leitschnur der deutschen Energiepolitik. Nur dann, so die Argumentation, sei es möglich, außenpolitische Haltungen unbefangen von ökonomisch erzwungenen Rücksichtnahmen zum Ausdruck bringen zu können. Die starke Fokussierung auf die Atomenergie sollte bis in die 80er Jahre hinein sogar eine gewisse Autarkie sicherstellen, weil wegen der hohen Energiedichte des Spaltmaterials bei entsprechender Vorratshaltung ein mehrjähriger Weiterbetrieb der Meiler möglich ist. Die Arbeiten an einer Wiederaufarbeitungsanlage und an einem Brüter-Reaktor waren ebenfalls dazu angelegt, die Gefahr einer politischen Erpressbarkeit weiter zu verringern. Die erste Ölkrise 1973 und die Förderkürzungen im Zuge der islamischen Revolution im Iran 1979 bestärkten dann die damalige Bonner Regierung in der Richtigkeit dieser Politik.

Später wurde die Energiepolitik indes immer mehr von der Umweltpolitik überlagert, und nach dem Ende des Kalten Krieges wurde auch der Versorgungssicherheit angesichts ohnehin vorhandener mannigfaltiger weltweiter Abhängigkeiten und Handelsverflechtungen keine so große Wichtigkeit mehr beigemessen. Und nach dem Reaktorunglück in Fukushima wurde sogar eine grundlegende Energiewende eingeleitet: der Atomausstieg. Während der jahrzehntelangen Ausstiegsphase sollte die Versorgungssicherheit durch die Differenzierung der Lieferländer gesichert und im Verlauf der Entwicklung durch Dezentralisierung und Konzentration auf erneuerbare Energieträger gewährleistet werden. Im Endeffekt, so die Hoffnung, könnte der Einsatz der regenerierbaren Energieträger sogar die Autarkievision vieler Energiepolitiker noch eher realisieren als seinerzeit die Atompolitik – noch dazu ohne Umweltbelastungen.

Wie die gegenwärtige Lage im Hinblick auf mögliche Sanktionen gegenüber Russland im Zuge der Krise in der Ukraine jedoch zeigt, ist die deutsche Energiewirtschaft gerade in der gegenwärtigen Phase in einer kritischen Lage. Sie hat die Wahl: noch umweltschädlicher als ohnehin schon zu produzieren oder noch abhängiger von Importenergien zu werden.

Im vergangenen Jahr stieg der Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid um 20 Mill. Tonnen an. Das liegt etwa daran, weil alte Kohlemeiler weiterlaufen, neue nur zögerlich gebaut werden wegen der großen Widerstände in der Öffentlichkeit, und weil sich der Neubau von modernen Gaskraftwerken nicht mehr lohnt. Vorhandene Kapazitäten werden eher stillgelegt. Zudem: Weil es an Stromspeichern mangelt und die Stromnetze nicht für den Transport etwa von Windstrom ausreichen, sinkt der Strompreis mit jedem neuen Windrad, was die Heranziehung von abgeschriebenen, alten Kohlekraftwerken befördert.

Zunächst hatte wegen der Taktung der Energiewende die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sogar noch zugenommen: Statt neuer Kohlemeiler setzte man anfangs auf moderne Gaskraftwerke, die weniger klimaschädlich sind. Angesichts des Verfalls der Verschmutzungsrechte an der Energiebörse EEX aber hat sich die Lage nun ins Gegenteil verkehrt. Gaskraftwerke sind out. Dafür wird aber im Wärmemarkt aus Klimagründen immer stärker auf Gasfeuerung und gasbetriebene Blockkraftwerke gesetzt.

Mit der außenpolitischen Unabhängigkeit ist es also nicht weit her. Trotz hoher Kapazitäten bei Gasspeichern und möglichen ansteigenden Liefermengen außerrussischer Produzenten würde die deutsche Volkswirtschaft einen mehrmonatigen Gasstopp aus Russland wohl nicht ohne eine tiefe Rezession verkraften können. Die Situation für Moskau mag vergleichsweise schlimmer sein, was hier aber zählt, ist die Stimmung in Deutschland – und die Folgen, auf die sich die Bürger einzustellen hätten.

Die schon seit Jahren geplanten Terminals für die Anlieferung von Flüssiggas könnten erst in einigen Jahren bereitstehen. Hinzu kommt, dass Flüssiggas wegen des höheren Aufwands bei Komprimierung und Anlieferung auf jeden Fall teurer ist als der Pipelinebezug. Die Energiepreise würden also steigen und die Kaufkraft der Menschen empfindlich beschneiden. Allenfalls die Notenbank könnte sich darüber „freuen“, dass es nun mit der Deflationsdebatte ein Ende hätte. Dafür gäbe es aber andere – viel schwerere – wirtschaftliche Probleme.

Es ist derzeit auch noch nicht so weit, dass die nachhaltigen Energieträger die Importabhängigkeit systemstabilisierend senken können. Hierzu fehlen sowohl die nötigen Energiespeicher und die entsprechende Vernetzung. Zumal gegen diese Pläne sowohl die Politik (CSU/Seehofer) als auch viele Bürger Sturm laufen und die Energiewende damit bremsen. Wie beim Berliner Flughafen oder bei der Hamburger Elbphilharmonie dürften Jahrzehnte ins Land streichen, bevor die Erneuerbaren nicht nur bei starkem Wind und hellem Sonnenschein für energetische Entlastung sorgen, sondern zudem auch die nötige politische Versorgungssicherheit gewährleisten würden („gesicherte Kapazitäten“).

Und das Energiesparen? Es ist schlechterdings unmöglich, in wenigen Jahren ganze Großstädte flächendeckend mit Niedrigenergiearchitektur auszustatten. Obendrein gibt es ja auch hier Gegenwind – nicht nur wegen des hohen finanziellen Aufwands, sondern auch in Gestalt etwa der neuen Mietgesetzgebung, die Investitionen in die Bausubstanz erschwert.

Die Krise in der Ukraine und die offenkundig energiepolitisch erzwungene Beißhemmung der Bundesregierung gegenüber russischen Provokationen zeigt das ganze Dilemma, in dem Berlin derzeit steckt: Die Politik steht vor den Scherben ihrer Energiepolitik. Zugleich ist die Umstrukturierung noch nicht so weit vollzogen, als dass sich ein neues Gleichgewicht abzeichnet. Unter der Lupe der außenpolitischen Krise offenbart sich zudem, dass die ganze Energiewende dilettantisch eingefädelt, von aktionistischen Entscheidungen bestimmt wurde, und allenthalben der nötige Masterplan fehlt, die einzelnen Schritte in eine sinnvolle Abfolge zu bringen, die auch von allen verantwortlichen politischen Institutionen (also auch der bayerischen Landesregierung) getragen wird.
Ein Neustart ist notwendiger denn je – aber wie das jüngste EEG-Reförmchen zeigt, das Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel derzeit so vollmundig anpreist, unwahrscheinlicher denn je. Denn die Politik blockiert sich weiter, die Stromkosten für die Bürger steigen an und die deutsche Industrie sucht ihr Heil mehr und mehr im Ausland, wie die nach wie vor manifeste Investitionszurückhaltung zeigt. Für den Standort Deutschland und die außenpolitische Position dieses Landes ist das ein zutiefst enttäuschender Ausblick.

Kapitalistische Oligarchie

In den USA ist eine heiße Debatte über die schädlichen Wirkungen zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit entbrannt. Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz geißeln die enormen Vermögensgewinne, welche die ohnehin bereits Vermögenden auf Kosten der ärmeren Schichten angehäuft hätten. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) hat unlängst in einer Studie davor gewarnt, dass Ungleichheit tendenziell auch das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft schmälert – von der sich aufstauenden Unruhe unter den Verliererschichten ganz zu schweigen. Manche Stimmen sprechen bereits von einer Finanz-Oligarchie, die sich in den USA breitgemacht und sich den Staat untertan gemacht habe.

Wie weit diese Entwicklung in den USA bereits fortgeschritten ist weit jenseits der hinlänglich bekannten reinen Einkommensbetrachtung zeigt eine Statistik der OECD. Dort wird der Anteil jener Haushalte angegeben, welcher innerhalb eines Jahres schon einmal nicht genug Geld für Nahrung hatte: In der Türkei war dies bei 32,7 Prozent der Privathaushalte schon einmal der Fall und in den reichen USA mit 21,1 Prozent ebenfalls überraschend viel. Pikant ist die Aufstellung, wenn man die Länder betrachtet, in denen die Haushalte diesbezüglich bessergestellt sind: in Russland sind es 21,0 Prozent, die sich eine Mahlzeit einmal nicht leisten konnten, und selbst in Griechenland waren es nur 17,9 Prozent. Zum Vergleich: in Deutschland waren es dank unseres Sozialstaats nur 4,6 Prozent. Die Krone wird dieser Betrachtung aufgesetzt, wenn man bedenkt, dass der US-Kongress im Februar beschlossen hatte, die finanzielle Unterstützung für arme Haushalte beim Kauf von Essen (Food Stamps) zu kürzen.

Auch die Einkommensverteilung spricht für sich. Der US-Ökonom J. Bradford Delong kritisiert, dass inzwischen das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung vom Gesamteinkommen ganze 22 Prozent einstreicht; die reichsten 10 Prozent kommen auf mehr als die Hälfte aller Einkommen in den USA überhaupt. Die Einkommen der 10-Prozent-Topverdiener sei inzwischen zwei Drittel höher als das ihrer „Kollegen“ 20 Jahre zuvor.

Vor wenigen Tagen hat die Debatte nun eine neue Schärfe erhalten mit der These, dass die USA von einer freiheitlichen Marktwirtschaft immer mehr in die Rolle einer oligarchisch geführten Autokratie abgleiten. Der französische Ökonom Thomas Pikkety spricht in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das Krugman als „das wichtigste Wirtschaftsbuch womöglich des Jahrzehnts“ hochleben lässt, von großem Reichtum, der sich immer mehr politischen Einfluss kauft und damit die staatliche Regulierung in seinem Sinne lenkt. Viele Konservative, welche dem Staat Grenzen setzen möchten, lebten zudem in einer intellektuellen Blase von Denkfabriken, die von einer Handvoll extrem reicher Geldgeber finanziert würden, kritisiert Pikkety. Er insinuiert damit auch eine gewisse Lenkung der öffentlichen Meinung, die in Gestalt ökonomischer Fakten und wissenschaftlich gesicherter Zusammenhänge daherkommt und als unabhängig deklariert werde. Wie die Lage der meisten Menschen in der Gesellschaft wirklich ist, unter welchen Mühen sie ihren Unterhalt bestreiten muss, das komme bei den Menschen in dieser Blase gar nicht an, schreibt er vorwurfsvoll. Diese Anklage hat in den USA und in den ökonomischen Blogs einen regelrechten Debattensturm entfacht.

Als Beleg für eine von einer (Kapital-)Machtelite gelenkten Politik führen die Ökonomen etwa die steuerliche Begünstigung von Vermögenseinkommen gegenüber den Einkommen abhängig Beschäftigter an. Oder die Rettungspolitik im Nachgang zur Finanzkrise. Auch die ultralockere Geldpolitik der US-Notenbank Fed, betont etwa Krugman, hätte zusammen mit den Anleihekäufen in diese Richtung gewirkt. Schließlich seien Banken gerettet worden, und zuvorderst würden sie zusammen mit den großen Investoren von dieser Politik profitieren, weil sie kaum Abschreibungen vornehmen müssten. Der international bekannte Wirtschaftshistoriker Harold James verweist auf den Erleichterungsboom, der durch die unkonventionelle Geldpolitik losgetreten worden sei. Von den Kursgewinnen hätte nur eine Minderheit profitiert, die an den Finanzmärkten engagiert sei. Schon jetzt, so Krugman, stelle die Politik die Interessen der Reichen stets über jene der Normalbürger. Überschreite diese Ungleichheit zudem ein gewisses Maß, nähre sie sich stetig selber. Krugman: Reichtum dominiert die Arbeit.

Einen Grund für diese Politik sehen Ökonomen wie Krugman in der Tatsache, dass die handelnden Politiker selbst zu den Top-Vermögenden zu rechnen sind und damit auch Ihresgleichen bevorzugen. 20 Prozent der reichten Amerikaner würden 85 Prozent der Finanzanlagen besitzen. Und fast alle US-Senatoren gehörten schließlich zu den Top-Ein-Prozent der reichsten Amerikaner, weshalb sie ein Interesse hätten, dass die Vermögenseinkommen durch Finanzkrisen oder die Politik eben nicht geschmälert oder gar vernichtet würden.

Derzeit, so befürchten Pikkety, Krugman und Stiglitz verschlimmere sich die Lage noch. Zum einen, weil die Wirtschaft in den Industrieländern insgesamt nicht mehr so schnell wächst, weshalb auch die Entwicklung der Lohneinkommen stets hinter den Vermögenseinkommen hinterherhinken würde. Denn letztere würden weltweit angelegt, wo die Renditen noch höher seien, während die Arbeit lokal verhaftet sei und mit Niedriglohnländern konkurrieren müsse. Zum anderen, weil sich zudem ein aggressiv agierender „Erbkapitalismus“ gebildet hätte, wie Krugman kritisiert.

Denn ein immer größerer Teil der Superreichen hat sein Vermögen inzwischen ererbt. Sechs der zehn reichsten Amerikaner seien Erben und keine Unternehmer aus eigener Kraft, führt er an. Die Kommandobrücken der Wirtschaft würden damit nicht vom Reichtum schlechthin, was schon schlimm genug sei, beherrscht, sondern von ererbtem Reichtum. Und Pikkety schreibt vor diesem Hintergrund: „Die Gefahr einer Entwicklung zur Oligarchie ist real und berechtigt zu wenig Optimismus“.

Das von den zitierten Ökonomen skizzierte Gesellschaftsbild, in dem eine gierige reiche Minderheit sich der Wirtschaftskraft einer ganzen Nation bemächtigt hat, mag überzeichnet sein, viele Aspekte und manche Erfahrungen zeigen, dass zumindest der Versuch im Kapitalismus immanent ist, sich gewisse Vorteile zu erschleichen – über Politik, Institutionen aber auch die öffentliche Meinung. Der Kampf vieler Ökonomen gegen die erdrückende Dominanz des Staats auch in der Wirtschaft, gegen Überregulierung und für Privatisierung mag anfangs berechtigt gewesen sein (und ist es in vielen Bereichen und Staaten immer noch), doch ging dieser weit über das notwendige Maß hinaus, als etwa auch die ordnungssetzende Macht des Staates ebenso zurückgedrängt worden ist. Das hat der Spekulation und verbrecherischen Aktivitäten in der Wirtschaft Raum gegeben und Profite in die Taschen von Falschspielern gelenkt, wie jetzt anhand von vielen Prozessen so nach und nach ans Tageslicht kommt.

Karlsruher Pragmatismus

Es ist zutiefst verstörend, wenn immer wieder erst die Verfassungsrichter in Karlsruhe den Bundestag als oberste Repräsentanz des Volkes an seine Aufgabe erinnern und dafür sorgen müssen, dass die demokratischen Grundregeln auch in der Euro-Rettungspolitik gewahrt werden. So geschehen etwa in den Entscheidungen zum Europäischen Stabilisierungsfonds (EFSF), zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt. Immer wieder wurde der Bundestag gerügt, die im Grundgesetz garantierten parlamentarischen Kontrollbefugnisse doch etwas ernster zu nehmen, sich nicht mit fadenscheinigen Begründungen der Bundesregierung zufriedenzugeben und sich unter dem Diktat schneller Entscheidungen nicht die dafür notwendigen Werkzeuge aus der Hand schlagen zu lassen. Kein Ruhmesblatt also für unsere Volksvertreter.Entlang dieser Richtschnur hat das Bundesverfassungsgericht auch in der aktuellen Entscheidung argumentiert: Die Errichtung des ESM, der Fiskalpakt und die dazugehörigen nationalen Begleitgesetze wurden – wie bereits im Eilverfahren – zwar für verfassungsgemäß erklärt, den Parlamentariern aber erneut ins Stammbuch geschrieben, künftig Sorge zu tragen, dass Deutschland sein Stimmrecht im ESM nicht aus Verfahrensgründen verliert. Bundesregierung und Parlament müssten unter allen Umständen die Fäden in der Hand behalten. Europa ergibt sich nach diesem Verständnis insoweit aus den nationalen Parlamenten heraus, ist also kein Gebilde auf eigener Basis. Das hatten die Karlsruher Richter auch bei ihrer Entscheidung zur Europawahl zu verstehen gegeben, in der sie die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt hatten, weil das Europaparlament aus ihrer Sicht von minderer Qualität im Vergleich zum Bundestag ist.

Vor diesem Hintergrund kann die aktuelle Entscheidung durchaus als pragmatisch verstanden werden, weil sie die Frage nach der Finalität der europäischen Einigung noch ein Stück in die Zukunft schiebt – der Etablierung einer Banken- und Fiskalunion, die weitere Souveränität nach Brüssel abfließen lässt, zum Trotz. Denn die Kläger haben ja nicht unrecht, wenn sie anführen, dass dem Rettungsfondskonzept und den Targetverpflichtungen doch ein gewisser Leistungsautomatismus innewohnt. Aber ohne dieses Zugeständnis an die Politik hätten die Richter ihr Verdikt zum Anleihekaufprogramm der EZB nicht so scharf fassen können. Denn in der Beschlussvorlage für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) werfen sie der EZB vor, über ihr Mandat hinauszuschießen. Für die Euro-Rettung trage allein die Politik die Verantwortung. Wie hätten die Richter die Politik aber in diese Rolle drängen können, wenn sie ihr alle Rettungsinstrumente aus der Hand geschlagen hätten? Insofern stellt die Akzeptanz von ESM und Fiskalpakt in den Augen des Bundesverfassungsgerichts wohl das kleinere Übel dar.

Letztendlich drücken sich die Richter um eine klare Ansage zum richtigen Weg in ein integriertes Europa, wie es ja das Grundgesetz aufträgt. Da mögen Ängste vor einem Macht- und Bedeutungsverlust eine gewisse Rolle spielen, wie es in jeder großen Institution der Fall ist, die plötzlich nicht mehr in der Mitte stehen würde. Aber noch viel mehr dürfte es schlicht die Ratlosigkeit sein, wie sich Europa tatsächlich weiterentwickeln wird. Die Euro-Krise hat zwar neue gemeinsame Institutionen mit sich gebracht, doch die Menschen stehen dem Vorhaben angesichts der steten Brüsseler Machtausweitung immer skeptischer gegenüber. Deshalb ist der Rückgriff auf die nationale Verantwortung, dessen sich Karlsruhe befleißigt, die natürliche Reaktion auf die herrschende Unsicherheit.

Nun liegt der Ball wieder im europäischen Spielfeld. Die Akteure in Brüssel müssen das Vertrauen in den europäischen Integrationsprozess wiederherstellen. Dazu gehört eine stärkere Einbindung demokratischer Prozesse über das Europaparlament ebenso wie eine Zügelung des Machthungers von Institutionen. Ein Signal dafür könnte der EuGH senden, der die von Karlsruhe vorgelegte Frage nach der Rechtmäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms zu entscheiden hat. Bisher haben sich die Europarichter das Recht immer so hingebogen, dass die eigene Zuständigkeit ausgeweitet worden ist und europäische Institutionen gestärkt aus den Verfahren hervorgegangen sind. Eine zumindest teilweise Zügelung der EZB-Mandatsausweitung wäre ein Novum, würde den EuGH auch als ehrlichen Interpreten europäischer Rechte ausweisen und könnte dafür sorgen, dass das Bürgervertrauen zu Europa wieder zurückkehrt. (Börsen-Zeitung, 19. März 2014)

Die kalten Krieger und die Ukraine

Die Sympathie mit den Revolutionären in der Ukraine ist groß. Immerhin haben sie es geschafft, ein kleptokratisches Unrechtsregime zu stürzen. Sie sind nun dabei, demokratische Strukturen im Land einzuziehen und der weit verbreiteten Korruption den Kampf anzusagen. Dass sie hierbei von der westlichen Welt unterstützt werden, ist eigentlich selbstverständlich.

Doch wie bei jeder Revolution liegen auch hier Licht und Schatten eng beeinander: So demokratisch, wie es hierzulande gerne dargestellt wird, geht es nämlich auch unter den Revolutionären nicht zu – geschweige denn, dass sie alle gleichsam die Etablierung einer Demokratie nach westlichem Vorbild im Land anstreben. Viele der Revolutionäre haben lediglich wirtschaftliche Interessen und erhoffen sich mit dem Regimewechsel persönliche Vorteile. Andere wieder vertreten eine bestimmte Volksgruppe und wollen an der neuen Machtposition andere Volksgruppen unterdrücken. Von einer nationalen Einheit ist die Ukraine ohnehin weit entfernt. Und schließlich gehören zu den Revolutionären auch Rechtsextreme, Faschisten und Terroristen – eine Kategorie, in welche die Moskauer Staatsführung und das russische Staatsfernsehen gern alle ukrainische Revolutionäre stecken möchte. Die Faschisten stellen den Korrespondentenberichten zufolge allerdings nur eine Minderheit dar. Gleichwohl muss der im Westen vermittelte positive Eindruck über die Widerständler auf dem Majdan ein Stück weit zurechtgerückt werden. Bestenfalls ist in der Ukraine eine demokratische Firniss sichtbar.

Obendrein stellt sich die Frage, mit welchem moralischen Recht der Westen – vor allem die USA und Großbritannien – jetzt das Vorgehen der russischen Staatsführung verurteilen, nachdem sie sich selbst – ähnlich wie Russland – mit Lug und Trug die Rechtfertigung für den Einmarsch in den Irak geholt hatten oder einem Hilfeersuchen des afghanischen Staatschefs gefolgt waren. Worin unterscheidet sich ihr Verhalten jetzt vom dem Moskaus, das vorgibt auf ein Hilfeersuchen des gestürzten bzw. abgewählten ukrainischen Staatschefs zu reagieren und die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine – aber vor allem auf der Krim – vor Übergriffen schützen zu wollen?

Gewiss, Russland verhält sich völkerrechtswidrig, bricht Verträge und verdient dafür die Verachtung aller Staaten – besonders jener, die sich bisher rechtschaffen verhalten haben. Aber eines ist klar: eine einfache Lösung wird es in diesem Konflikt nicht geben. Die Ukraine ist – nicht zuletzt durch Umsiedlungen in der Zaren- und Sowjetzeit – ein Vielvölkerstaat geworden; die Krim wurde innerhalb des Sowjetreiches sogar erst in den 50er Jahren der ukrainischen Verwaltungseinheit zugeschlagen. Und das Land selbst erhielt erst Anfang der 90er Jahre seine Unabhängigkeit – inklusive der Krim mit deren Sonderstatus. Dass hier Grenzen, gefühlte Zugehörigkeiten und Verwaltungshandeln oftmals nicht zusammenpassen, versteht sich von selbst. Nur ein „runder Tisch“ aller Gruppierungen in der Ukraine kann das Land noch vor der Spaltung bewahren und einen Bürgerkrieg vermeiden. Dabei ist der gegenseitige Respekt und der Aufbau von Vertrauen der Ukrainer untereinander die entscheidende Voraussetzung – woran es derzeit aber zu mangeln scheint, weil auch die Führer der jeweiligen Gruppierungen unterschiedliche Interessen haben und irgendwie nach einer „hidden agenda“ vorgehen.

Das scheinen sich die „alten“ Großmächte Russland und die USA in den vergangenen Monaten zunutze gemacht zu haben. Die eine – Russland – versucht ihre Grenzen zu erweitern und sie gleichzeitig zu arrondieren, indem sie an den bisherigen Außengrenzen die russisch stämmige Bevölkerung „heim ins Reich“ holt. Die andere – die USA (mit Großbritannien) – sieht die Möglichkeit, „den Westen“ weiter „nach Osten“ zu verschieben (wenn nicht das Territorium der ganzen Ukraine, dann zumindest auf einem Teil von ihr). Die EU musste in den Verhandlungen lediglich als Steigbügelhalter herhalten, eine Rolle, welche die amerikanische Botschafterin in der Ukraine ja deutlich mit „Fuck the EU“ beschrieben hatte.

Der „kalte Krieg der Systeme“ scheint damit wieder zurück zu kehren. Es ist deshalb an der Zeit, dass sich eine Staatenkoalition ehrlicher Makler zusammenfindet, um die Scharfmacher auf beiden Seiten zu stoppen und einen politischen Kompromiss auszuarbeiten, der die Demokratie stärkt, das Miteinander der Völkerschaften in der Ukraine befördert und den Militärstrategen auf beiden Seiten Grenzen aufzeigt. Die Drohung der USA mit einem Rauswurf Russlands aus der Ländergruppe der G8 und einer Aufkündigung des Gipfels in Sotschi Anfang Juni ist daher gerade der falsche Weg – liegt aber womöglich im Kalkül der Scharfmacher in Washington begründet. Denn wo gäbe es einen besseren Ort, um mit Moskau Tacheles zu reden, als in Sotschi, also auf russischem Territorium, wo Putin als Gastgeber etwas zurückhaltender reagieren müsste und in der Defensive stünde? Eher sollte man also darauf drängen, den Gipfel noch um einige Monate vorzuziehen.

Zwischen „Neuer Drachme“ und „Hart-Euro“

Die weiterhin schwelende Euro-Krise hat gleich mehrere Dimensionen: Zunächst waren die Banken betroffen wegen geplatzter Investments und fauler (Bau-)Kredite, dann viele Staaten, die ihnen aus der Patsche geholfen, sich damit aber verhoben hatten, und zu guter Letzt zeigte sich unter der erhöhten Wahrnehmung der Marktakteure, dass einige Volkswirtschaften jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt haben. Letzteres war vor allem in Griechenland der Fall, weshalb viele Ökonomen darüber nachsinnen, wie man die Lage in den Griff bekommen kann, ohne dass Athen aus der Währungsunion ausscheiden muss.

Die Einführung einer Parallelwährung wäre so ein Vorschlag, der sich in jüngster Zeit immer größerer Beliebtheit erfreut. Wie der Mannheimer Ökonom Roland Vaubel unlängst in einem Vortrag vor dem Center for Financial Studies (CFS) darlegte, gibt es dafür zahlreiche Beispiele angefangen im Altertum, über das staatliche Papiergeld in England, Preußen und Frankreich der Neuzeit, den „Continental Bills“ in den USA und den privaten Banknoten während der Weimarer Hyperinflation. Vorschläge für eine Parallelwährung wurden überdies in den siebziger Jahren unterbreitet, um die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung über einen Wettbewerb der Währungen zu orchestrieren.

Zu Letzterem ist es bekanntermaßen nicht gekommen. Der Euro wurde verhandelt, vertraglich festgelegt und staatlich verfügt, obgleich die Inflationsdifferenzen zwischen den Ländern immer größer wurden und die Stabilitätsmentalität in der Gemeinschaft so heterogen blieb wie zuvor. Inzwischen hat sich ein enormer Wechselkursänderungsbedarf aufgestaut, der nach Meinung von Vaubel nur durch die Einführung etwa einer „Neuen Drachme“ in Griechenland als Parallelwährung oder – umgekehrt – einem „Hart-Euro“ für Deutschland, wie jüngst vom Münsteraner Ökonom Ulrich van Suntum vorgeschlagen, entspannen könnte.

Im Fall Griechenlands hätte eine sukzessiv abwertende Parallelwährung vor allem den Vorteil, die notwendige Anpassung der Löhne nach unten noch weiter zu treiben. Denn dieser Prozess ist ins Stocken geraten. Zum einen, weil die Bevölkerung blockiert und Reformpolitikern den Laufpass gibt. Zum anderen, weil immer häufiger Gerichte Lohnkürzungen einfach für verfassungswidrig und damit für nichtig erklären. Mit einer abwertenden Drachme könnte dieser Prozess durch die Hintertür fortgeführt werden.

Doch diese Idee ist nur auf dem ersten Blick elegant – und in der Praxis eher riskant. Warum sollten die Bürger in Griechenland darauf eingehen? Die Tarifparteien würden wohl einfach einen Automatismus einbauen, um die Löhne in Drachme stets auf Höhe des Euro zu halten. Zudem würden die Märkte schon beim geringsten Gerücht über ein solches Vorhaben verrückt spielen. „Eine Lösung der Krise“, weiß Vaubel selbst, „kommt letztlich nur durch die innere Einsicht der Bürger zustande“. Um die schwierige politische Überzeugungsarbeit kommen die Euro-Retter also nicht herum. Und die Chancen, dass es ihnen gelingt, stehen schlecht. Die Abstimmung bei der Europawahl im Mai dürfte ihnen die Arbeit nicht gerade erleichtern.

Bonitätswächter im Zwielicht

Die Ratingagenturen stehen unter großem Regulierungsdruck. Brüssel hat bereits neue Regeln verordnet. Ende 2013 warf die Europäische Wertpapieraufsicht Esma den Agenturen zudem schwere Mängel bei der Arbeitsweise vor. Und zum Jahresanfang rückt nun der überraschende Abgang von S&P-Deutschlandchef Torsten Hinrichs die Branche erneut in den Fokus. 

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Börsen-Zeitung, 15.1.2014

Ob es nun tatsächlich die deutlich angehobenen Ratinggebühren waren, die den Deutschlandchef von S & P, Torsten Hinrichs, im Konzernmanagement in Ungnade haben fallen lassen, weil Unternehmen wie die Deutsche Post daraufhin die Zusammenarbeit aufgekündigt hatten, bleibt im Dunkeln. Die kolportierte Formulierung „im gegenseitigen Einvernehmen“ verdeckt mehr als sie auszusagen vorgibt. Dass es bei Hinrichs Weggang nicht ohne Verwerfungen abgegangen sein dürfte, zeigt aber seine Reaktion. Er wolle zunächst einmal bis nach Ostern in Südafrika Abstand gewinnen, ließ er die Börsen-Zeitung wissen. Was danach komme, sei noch unklar. Gespräche mit potenziellen neuen Arbeitgebern würden jetzt erst begonnen. Hinrichs: „Mal sehen, was kommt.“

Tatsache ist, dass sich die ganze Ratingbranche derzeit unter enormem Druck befindet und nach neuen Wegen sucht – auch personell. Nicht nur wegen der Regulierung, der heftigen öffentlichen Kritik, ihrer Gebührenpolitik und der immer schwierigeren Kundenakquise, sondern auch im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und ihre Funktion in der Finanzwirtschaft, was eine Neuausrichtung unausweichlich macht. Möglich erscheint deshalb eher, dass Hinrichs schlicht nicht mehr in die Unternehmensstrategie gepasst hat.

Erst vor einem Monat hatte die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde Esma den großen drei Ratingagenturen „schwere Mängel“ bei der Arbeitsweise vorgeworfen und ihnen mit Strafe gedroht. „Sie sollten ihr Verfahren beschleunigen und sicherstellen, dass sie ihr Haus in Ordnung bringen“, mahnte Esma-Chef Steven Maijoor. Konkret wirft er Moody’s, S & P und Fitch vor, Ratingumstufungen nur schleppend zu veröffentlichen. Schlechte interne Kontrollen würden Informationslecks begünstigen. Personal und Ressourcen seien bei Ratingbewertungen „nicht aufgabenadäquat eingesetzt worden“. Die Behörde verlangt, dass von ihr verordnete Auflagen nun bis Ende Januar umgesetzt werden.

Aber auch innerhalb der Branche wird der Konkurrenzdruck stärker. An diesem Donnerstag stellt sich in London die Gruppe ARC-Ratings vor, ein Zusammenschluss mehrerer Agenturen aus Indien, Südafrika, Malaysia, Brasilien und Portugal. Sie bekunden von Anfang an den Anspruch, global aufzutreten, und positionieren sich als direkte Konkurrenten zu den „großen drei“.

Etwas weniger ambitioniert war einst das Vorhaben, eine ureigene europäische Ratingagentur zu gründen. Auch Ex-S & Pler Hinrichs brachte dem Plan Sympathie entgegen. Mehr Wettbewerb und ein anderer Ansatz (statt der Ratingkunden sollten die Investoren die Bonitätsbewertung bezahlen) seien „erfrischend“, sagte er in einem Interview. Doch das Unternehmen scheiterte. Statt der für die Gründung nötigen 300 Mill. Euro konnten nur 30 Mill. Euro eingeworben werden.

Mehr Wettbewerb täte der Branche gleichwohl gut. Immerhin vereinen S & P, Moody’s und Fitch nach Daten der Esma einen Marktanteil von 85 % auf sich. Branchenexperten kritisieren zudem inhaltliche Unstimmigkeiten. Der Schweizer Ökonom Manfred Gärtner von der Universität St. Gallen etwa stellte vor einiger Zeit eine gewisse „Beliebigkeit“ der Staatenratings fest und monierte ungerechtfertigte Bonitätsherabstufungen, welche die Schuldenkrise in Europa erst noch vertieft hätten.

Und die Heidelberger Ökonomen Andreas Fuchs und Kai Gehring haben in einer neuen Studie nun sogar einen „Home Bias“ ausgemacht. Die großen Ratingagenturen würden mit ihren Heimatländern – wohl auch auf Regierungsdruck hin – und bisweilen in ihrem Sprachraum milder umgehen als mit anderen Staaten. Der Unterschied von fast einem Bonitätspunkt lässt sich wegen niedrigerer Zinslasten durchaus in Geld aufwiegen. Dabei betont etwa S & P immer wieder seine Internationalität. Schließlich verfüge man allein in Frankfurt über ein Team von über 50 deutschsprachigen Analysten, betonte Hinrichs einst stolz.