Analyse

Digitale Ökonomie: Deutschland braucht ein Firmware-Update

Die Politik hinkt der digitalen Umgestaltung hinterher – Flächendeckende schnelle Internetverbindungen sind nur ein erster Schritt – Der Strukturwandel steckt fest

Von Stephan Lorz

Die Sensoren sitzen überall am Körper – im Armband, in der Uhr, im Brillengestell und künftig wohl auch unter der Haut. Sie fühlen, protokollieren, regeln und verbinden uns Menschen mit dem Internet, wo wir einsortiert werden mit unserer Gesundheit, Leistungskraft, unseren Verhaltensweisen – und mit einem ominösen Durchschnitt verglichen werden. Die Digitalisierung des Menschen, wie sie im sogenannten Life-Logging zum Ausdruck kommt, hat aber nicht nur Auswirkungen auf das persönliche Umfeld, sondern in ihrer Formenvielfalt auch das Potenzial, die Gesellschaft insgesamt, soziale Institutionen und die ökonomische Basis völlig zu verändern. Die neuen Machtverhältnisse werfen Fragen nach dem Wesen und dem Ziel des Wirtschaftens auf, nach der Funktionalität ökonomischer Strukturen und dem Schutz der Privatsphäre. Zugleich geschieht der Wandel mit einer Geschwindigkeit, mit der demokratisch verfasste Gesellschaften kaum mithalten können.

Irritiert müssen sie etwa hinnehmen, dass schon jetzt Versicherungen ihren Kunden besonders günstige Tarife anbieten, sofern sie sich bereiterklären, ihre Gesundheit und sportliche Aktivitäten durch eine App überwachen zu lassen. Die einen sprechen von einer Gesundheitsdiktatur, die anderen von den nötigen Anreizen für ein gesünderes Leben. Der Datenschutz wird ausgehebelt, der Mensch gibt sich – vielfach aus Bequemlichkeit – Konzernen preis, die auf dieser Basis ihrerseits zu mächtigen Marktakteuren heranreifen. Das gefährdet für sich genommen wiederum das Kernelement einer Marktwirtschaft, den Wettbewerb. Die offenkundigen Monopolisierungstendenzen im Digitaluniversum haben bereits das Europaparlament auf den Plan gerufen, das wegen der Marktdominanz sogar die Zerschlagung etwa des Suchmaschinenbetreibers Google fordert.

Marktdominanz nimmt zu

Was bringt die Digitalkonzerne aber in eine solche starke Position? Es sind die Netzwerkeffekte, die im weltumspannenden Internet schneller greifen und stärker wirken als in der Realwirtschaft, weil Transaktionskosten kaum mehr eine nennenswerte Größenordnung darstellen und die Produkte hypermobil sind. Auf diese Weise steigen Unternehmen, welche neue Plattformen im Internet anbieten, wie der Taxivermittler Uber, rasant zu markbeherrschenden Konzernen auf. Durch die steigenden Nutzer- und Anbieterzahlen auf der Plattform erhöht sich nämlich deren Attraktivität. Auch die Qualität der Treffer bei Suchanfragen erhöht sich mit der Zahl der Menschen, die mit Google suchen. Wer zu spät kommt, hat schon fast verloren, weil er nicht an jene kritische Größe heranreicht. Daraus erwachsen schnell monopolartige Strukturen.

Daniel Zimmer, Chef der Monopolkommission, wundert sich hingegen über die scharfe Kritik, die Google entgegenschlägt. Die Europäer hätten ein „zwiespältiges Verhältnis zu amerikanischen Internetkonzernen“ sagt er und warnt vor Schnellschüssen bei der Regulierung. Nicht jedes Monopol sei per se schlecht. Denn gerade die Aussicht auf Monopolrenditen treibe im Internet Erfindergeist und Innovationen an. Komisch, dass man eine solche Argumentation in der Realwirtschaft nicht gelten lässt. Braucht das Internet also eine Regulierungsbehörde? Oder gibt es doch „gute“ Monopole?

Eine Debatte scheint auch deshalb sinnvoll, weil die Digitalisierung die Realwirtschaft immer weiter umformt und dabei althergebrachte Arbeitsmarktbeziehungen zu untergraben droht. Im Internet findet Wertschöpfung immer stärker in virtuellen Zusammenhängen statt. Das macht das Normalarbeitsverhältnis, an dem das ganze Sozialsystem hängt, zunehmend zum Auslaufmodell. Auch der Druck auf den Lohn wird dramatisch ansteigen, weil in der weltweiten Vernetzung etwa Bewerber aus Indonesien und Oberbayern um denselben Auftrag konkurrieren. Entsprechende Plattformen finden sich im Netz etwa unter dem Schlagwort „Amazon Mechanical Turk“, „Faktor 10“ oder „Kaggle“. Die Natur der digitalen Arbeit erhöht zudem die Kontrolle der Jobber, was Kritiker als ein Einfallstor für „modernes Sklaventum“ sehen.

Soziale Schere öffnet sich

Ferner können ganze Tätigkeitsbereiche wegfallen. Die Arbeitswelt polarisiert sich, sagt Arnold Picot von der Universität München. Die Experten an der Spitze der wirtschaftlichen Nahrungskette würden weiter an Einfluss gewinnen. Die am meisten gefährdeten Jobs lägen dabei gerade in der Mitte des Einkommensspektrums. Die soziale Schere – Menschen, die mit Algorithmen umgehen können, wird es sehr gut gehen, Menschen mit anderen Kompetenzen und mit weniger Expertise werden es immer schwerer haben – wird also weiter aufgehen. Muss der Staat deshalb gegensteuern und einen Teil dieser Automatisierungsdividenden absahnen und neu verteilen? Schwierig in einer Welt, in der die digitalen Produktionsprozesse auf einen Mausklick hin verlagert werden können.

Ein Problem der digitalen Ökonomie stellt auch die Wechselwirkung der realen Welt mit der in den Datensätzen dar. Zwar scheinen die Datenanalysen eine immer höhere Treffergenauigkeit zu haben, wenn Algorithmen etwa schon anhand des Klickverhaltens errechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit etwa für die Kündigung eines Mitarbeiters ist. Schon heute setzt die Polizei in vielen Ländern zudem auf die Analyse von Verbrechensmustern. Science-Fiction-Filme wie „Minority Report“ scheinen sich zu bewahrheiten.

Der Algorithmus lernt zwar nur aus der Vergangenheit, zugleich aber bestimmt er damit auch künftiges Verhalten. Wenn Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Einkaufs- und Nachrichtenportale stets passgenaue Angebote liefern, beeinflussen sie unsere Entscheidungen, unser Denken und Handeln. Der Mensch ist dann irgendwann nur noch das, was eine Rechenvorschrift aus seinem vergangenen Verhalten für die Zukunft extrapoliert hat. Es finde eine Machtverlagerung statt durch technologische Prozesse, warnt Hendrik Speck, Professor für digitale Medien an der FH Karlsruhe.

Nach Ansicht von KI-Expertin Yvonne Hofstetter hat Europa längst die Kontrolle über seine Daten verloren – und zwar an US-amerikanische Konzerne wie Google, Amazon oder Apple sowie an Geheimdienste wie die NSA. Und schon bald würden Nutzer nicht einmal mehr das Recht haben, sich aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Hofstetter kennt Fälle aus den USA, wo eine Krankenversicherung ihre Prämien schon erhöht, wenn ein Kunde kein Profil bei einem sozialen Netzwerk mehr hat.

Wie häufig bei Innovationen zeigt sich auch hier die Janusköpfigkeit der Entwicklung: Die „Datafizierung“ des Menschen macht zwar auch personalisierte Medizin möglich, mit der Krankheiten geheilt werden, die bisher zum Tode führen, verbilligt Produkte und vereinfacht das Leben, doch zugleich wird der Mensch auch durchökonomisiert, verliert seine Privatsphäre und womöglich auch seine Freiheit. Der „mündige Bürger“ wird zur Farce, weil er an unsichtbaren Fäden hängt und durch die Ausnutzung seiner Bequemlichkeit entmündigt wird. Das stellt auch eine Gefahr für die Demokratie dar.

Es ist deshalb Zeit für die Politik, nicht nur mit Schlagworten und mit großen Gesten über Industrie 4.0 zu palavern, sondern einen Diskussionsprozess anzustoßen, der in eine Reform der Gesellschaft mündet, wo digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert und die politischen und sozialen Institutionen sowie die Bildungseinrichtungen auf die neuen Herausforderungen vorbereitet werden. Allein mit der Herstellung eines breitbandigen Internetzugangs ist es nicht getan. Das gesamte politische und ökonomische Regelungssystem benötigt ein Firmware-Update.

Zerstörerische Ratschläge

Die Zudringlichkeit, mit der angelsächsisch geprägte Ökonomen in letzter Zeit die deutsche Politik unter Druck setzen, damit sie zur Konjunkturrettung in Europa die Staatsausgaben drastisch erhöhe, und wie sie die Europäer insgesamt dazu drängen, die Konsolidierung zu stoppen, weil diese Politik eine neuerliche Rezession erst regelrecht heraufbeschwöre, ist schon auffällig. Internationale Institutionen wie zuletzt die Organisation zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), oder (seit langem) der Internationale Währungsfonds sowie diverse Starökonomen wie Paul Krugman und Joseph E. Stiglitz werden nicht müde, die Regierungen im Währungsraum zu kreditfinanzierten deutlichen Mehrausgaben zu treiben und die Europäische Zentralbank aufzufordern, die Schleusen für Quantitative Easing (QE) doch noch weiter zu öffnen.

Die „alten“ Wahrheiten, wonach solide Staatsfinanzen die Grundlage für Wirtschaftswachstum darstellen, weil nur so das Vertrauen von Konsumenten und Investoren gewonnen wird, gelten in ihrem Verständnis nicht mehr. Sparen ist sekundär, weil Geld ja einfach so geschaffen werden kann – von den Notenbanken. Sie werden in diesem ökonomischen Universum zum fiskalischen Außenposten der Regierungen und fluten die Märkte mit immer mehr Geld nach dem Motto: viel hilft viel. Die Fed, die Bank of England und auch die Europäische Zentralbank (EZB) sollen sich zu Maschinenräumen der Volkswirtschaften wandeln, die eine Feinsteuerung der Prozesse möglich macht. Der Schritt zur geldpolitischen Planwirtschaft ist dann nicht mehr weit.

Die EZB ist bereits auf diesen Kurs eingeschwenkt und bereitet die Öffentlichkeit darauf vor, dass künftig nicht nur Asset-Backed Securities (ABS) und Unternehmensanleihen, sondern bald auch Staatsanleihen erworben werden, um ihre Bilanzsumme in die Höhe zu treiben. Null- und Negativzinsen reichen nicht mehr – jetzt geht es mit der Brechstange weiter. Inwieweit dieser Kurs die damit eigentlich umworbenen kreditgebenden Banken, Unternehmen und Privathaushalte womöglich eher abschreckt, weil die Verunsicherung ob derlei geldpolitischen Aktionismus eher noch zunimmt, wird nicht einmal diskutiert. Von den langfristigen Folgen für das Vertrauen in die Notenbanken, welches die Grundlage für eine stabile Währung darstellt, ganz zu schweigen.

Schon die Negativzinsen und die immense Liquiditätszufuhr zerstören das Grundvertrauen der Bürger in das Bankenwesen, warnte jetzt die Chefvolkswirtin der Helaba Gertrud R. Traud bei der Vorstellung des Kapitalmarktausblicks für 2015. Auch die Tatsache, dass die geldpolitische Liquidität der jüngsten Zeit eher in die Finanzmärkte abgeflossen und die Börsenkurse getrieben hat, dürfte viele Bürger verärgern. Denn davon profitieren in Deutschland bevorzugt die vermögenden Schichten, während in der Realwirtschaft und bei Otto Normalverbraucher wenig ankommt. Die Ungleichheit im Land wird also eher noch vergrößert. Auch die ständigen Vorhaltungen, dass sich Deutschland und Europa „zu Tode“ spare, stehe der gewünschten Aufbruchsstimmung entgegen, moniert Traud.

Dabei sitzt die Fiskalpolitik in Europa längst nicht mehr im Bremserhäuschen und zügelt die Konjunktur. Das geschieht derzeit eher in den USA, wie Traud nachweist. Und warum kommen die vielen besserwisserischen Ratschläge aus den angelsächsisch beeinflussten ökonomischen Kreisen dann trotzdem noch? Weil die Amerikaner eben „hemdsärmeliger“ sind, erklärt sich das Traud. Amerikaner wollten nicht abwarten und wirken lassen, sondern handeln. Vielleicht aber auch, orakelt die Chefvolkswirtin, „geben uns die Amerikaner nur doofe Ratschläge, damit Europa auch weiterhin schlechter dasteht als sie selbst“.

Die Persistenz von Übergangslösungen

Auf die Frage, ob die Eurozone noch in fünf Jahren in ihrer aktuellen Form bestehen wird, davon zeigen sich immerhin knapp 71 % der Teilnehmer des European Banking Congress (EBC) in Frankfurt überzeugt. Aber nur die wenigsten erwarten, dass die Krise bis dahin auch schon überstanden ist. Eine knappe Mehrheit hält die unkonventionellen Bemühungen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Wachstumstimulierung zudem für wenig erfolgreich; vier Fünftel glauben, dass die populistischen Parteien in Europa weiteren Zulauf erhalten; und ebenso viele gehen davon aus, dass die Politik sich bis dahin durchwursteln und zu keinem großen Reformakt aufschwingen wird. Das Publikum ist sich zudem einig, dass die Eurozone dafür eigentlich eine Neufassung der EU-Verträge benötigt (66,2 %) und einen eigenen Finanzminister braucht (64,5 %), aber es fehlt der Glaube, dass die Politik das tatsächlich bewerkstelligen kann.

Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zeigt sich im Podiumsgespräch auf dem EBC abgeklärt in seiner Einschätzung über die weitere Entwicklung der Eurozone. Er bekräftigt zwar seine Forderung nach einer Überarbeitung der EU-Verträge, hält dies aber aktuell für nicht mehrheitsfähig. „Wir brauchen dringend Vertragsänderungen“, sagt er. Aber manche Regierung fürchte Vertragsänderungen so sehr „wie der Teufel das Weihwasser“. Derlei tiefgreifende Änderungen seien in der EU nur bei einer weiteren größeren Krise durchsetzbar.

Eine Vertragsänderung ist seiner Meinung nach auch im Falle der europäischen Bankenaufsicht notwendig. Die EZB sei ja nur deshalb mit der Aufsichtsfunktion beauftragt worden, weil sich dies ohne Änderung der EU-Verträge habe durchführen lassen. Die hierdurch entstehenden Interessenkonflikte zwischen Aufsicht und Geldpolitik seien in Kauf genommen worden. Er gesteht aber auch zu, mit der jetzt gefundenen „Übergangslösung“ leben zu können. Damit habe man ja so seine Erfahrungen gemacht, ließ er durchblicken und verwies auf die Zeit bis zum Mauerfall. Es könne dann doch „ganz schnell passieren“.

Die Eurozone zeigt sich nicht nur auf diesem Feld als unvollkommene Währungsunion. Vor allem fehlt es ihr offensichtlich an einer gemeinsamen verantwortlichen Fiskalpolitik als handlungsfähiges Gegenstück zur Geldpolitik. Zugleich herrscht allenthalben Misstrauen der Staaten untereinander. So wird eifersüchtig darüber gewacht, dass kein Mitgliedsland mehr für sich herausholt als andere. Die moralische Versuchung, auf Kosten der Gemeinschaft zu agieren und eigene Lasten dem Kollektiv aufzuhalsen, ist schließlich groß. Und das Misstrauen wächst wegen immer neuer Vorschläge von Regierungen zur Vergemeinschaftung von Haftung. Schäuble attestiert ihnen hierbei „große Kreativität“.

Der Präsident des US-Think-Tank Peterson Institute, Adam S. Posen, sowie der Direktor des Brüsseler Think Tank Bruegel, Guntram B. Wolff, halten Moral Hazard denn auch für eines der größten Risiken der Eurozone überhaupt, weil es Misstrauen säht und die Nationen eher auseinandertreibt. Posen warnt zudem davor, die Unterschiedlichkeit der Staaten zu stark einebnen zu wollen, und Wolff fordert einen neuen „Integrationsschub“.

Schäuble zeigt sich vor diesem Hintergrund überzeugt, dass unter diesen Umständen missliebige Reformen oft nur durch harte Konditionalität etwa von Hilfszusagen durchgesetzt werden können, und spricht dabei von „Peaceful Engineering“. Zugleich dürfe man es nicht bei der Etikettierung neuer Institutionen belassen. Vielmehr müsse etwa auch ein europäischer Finanzminister mit der nötigen Durchsetzungskraft ausgestattet werden, was Schäuble erklärtermaßen unterstützt.

Einen gewissen politischen Realismus legt auch der britische Europaminister David Lidington an den Tag. Er fordert, wie nicht anders zu erwarten, einen Rückbau der Brüsseler Regelungssucht, spricht vom steigenden Frustrationspotenzial in der EU, und wirbt stattdessen für eine Konzentration auf den Binnenmarkt (während er zugleich Einschränkungen bei der Freizügigkeit wegen der Einwanderung in die Sozialsysteme verlangte). Europa müsse letztlich „Wachstum und Jobs liefern“, um sein Dasein zu rechtfertigen. Zugleich zeigte er aber Verständnis dafür, dass für die Eurozonenstaaten eine noch größere Integration überlebenswichtig ist. Dem wolle Großbritannien nicht entgegenstehen.

Die Schuld der Notenbanken an der steigenden Ungleichheit

Reichtum 2014Wurden bislang in den Führungszirkeln der westlichen Volkswirtschaften Fragen der Verteilungspolitik eher den „Berufsethikern“ in den Kirchen und Sozialverbänden zugeschoben, hat sich die Debatte inzwischen regelrecht umgepolt. Immer mehr Ökonomen, Unternehmensführer und nun auch Notenbanker machen sich Sorgen über die wachsende ökonomische Ungleichheit. Aber (noch) scheint nicht die Angst vor dadurch ausgelösten sozialen Unruhen der Grund zu sein, dass sie sich damit beschäftigen. Vielmehr sehen sie dadurch das Wachstum bedroht. Denn je mehr sich das Kapital bei den oberen Zehntausend ballt, desto schwächer wird der Konsum. Reiche legen den Mehrertrag nämlich eher auf die hohe Kante, als ihn zu verköstigen. Wer nach den Ursachen der „säkularen Stagnation“ fahndet, die der US-Ökonom Lawrence Summers für die Weltwirtschaft diagnostiziert und die seines Erachtens noch viele Jahre anhalten wird, findet sie hier.

Von unten nach oben

Zahlreiche Ökonomen beschäftigen sich inzwischen mit den schädlichen Folgen der zunehmenden sozialen Ungleichheit. Volkswirte wie der Franzose Thomas Piketty, der dem Kapitalismus eine immanente Tendenz zur Umverteilung von unten nach oben unterstellt, füllen die Hörsäle in den Universitäten und sind medial omnipräsent. Selbst eine der Kapitalismuskritik so unverdächtige Person wie Deutsche-Bank-Co-Chef Jürgen Fitschen hat jüngst gemahnt, dass „auf Dauer alle Mitglieder der Gesellschaft vom wachsenden Wohlstand profitieren“ müssten. Alles andere ist nach seinen Worten „nicht gesund“.

Und in der vergangenen Woche klinkten sich auch Notenbanker in die Debatte ein. „Das Ausmaß und der kontinuierliche Anstieg der Ungleichheit beunruhigen mich sehr“, sagte US-Fed-Chefin Janet Yellen in einer Rede in Boston. Die vergangenen Jahrzehnte sich ausweitender Ungleichheit ließen sich als bedeutende Einkommens- und Vermögensgewinne für die ganz oben und einen stagnierenden Lebensstandard für die Mehrheit zusammenfassen. Aufstiegschancen schwänden. Yellen warf die Frage auf, ob die Ungleichheit noch mit dem amerikanischen Wert der Chancengleichheit zu vereinbaren sei. Schließlich besaß nach einer aktuellen Untersuchung der Fed die untere Hälfte der amerikanischen Haushalte nur 1 % des Vermögens, während es 1989 immerhin noch 3 % gewesen waren. Dagegen stieg der Anteil der reichsten 5 % in den Jahren 1989 bis 2013 von 54 auf 63 % an.

Was Yellen aber dabei verschwieg, ist die Rolle, welche die US-Notenbank über Jahrzehnte beim Aufbau dieser systemischen Unwucht gespielt hat – und noch spielt. Die ultralockere Geldpolitik, die enormen Volumina an Wertpapierkäufen und die „Rettungspolitik“ für das Finanzsystem haben nämlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Vermögen gerade der reichen Bevölkerungsschicht immerzu gewachsen sind, während sich Otto Normalbürger mit mickrigen Zinsen zufriedengeben und zudem mit zum Teil sogar sinkenden Löhnen zurechtkommen musste.

Insofern ist EZB-Direktor Yves Mersch ehrlicher gewesen, als er jüngst in einer Rede auf den „Eigenbeitrag“ der Notenbanken an der Misere eingegangen ist und die Mechanismen hierzu auch konkret benannt hatte: „Unkonventionelle Geldpolitik, im Besonderen umfangreiche Wertpapierkäufe, scheinen die Einkommensungleichheit zu vergrößern.“ Noch vorsichtig in der Formulierung, aber klar in der Aussage: Er spricht von „Kollateraleffekten“ an sich notwendiger geldpolitischer Entscheidungen.

Und wie funktioniert dieser Mechanismus? Es beginnt schon bei der Einkommensentstehung, weil Personen mit höheren Einkommen – der Blick fällt unweigerlich auf Unternehmensmanager, die Abermillionen im Jahr einstreichen – einen Großteil ihres „Lohns“ in Wertpapiere investieren können, weil sie ihn nicht konsumieren müssen. Dagegen sind niedrigere Einkommen bis weit in die Mittelschicht hinein gerade mal in der Lage, ihre Krankenversicherung und Altersvorsorge durch ihre regelmäßigen Beiträge zu finanzieren sowie ihre Immobilienschulden zu bedienen. In der Regel nur mittelbar über die Altersvorsorge – und auch da hauptsächlich nur in den angelsächsischen Ländern – wird dieses Geld in renditeträchtigere Anlagen gesteckt. Der Löwenanteil liegt auf Sparkonten, die kaum verzinst werden. Stichwort: finanzielle Repression. Und so kommt es, dass vermögendere Menschen, die nicht nur nominal, sondern auch anteilig im Portfolio einen höheren Anteil an Aktien, Anleihen und komplexeren Finanzierungsformen besitzen, damit auch eine höhere Rendite einstreichen.

Nun kommt die Notenbank ins Spiel, die einerseits die Banken gerettet und damit neben dem Geld auf den Sparkonten auch die Wertpapiere vor dem Wertverfall bewahrt hatte und mit ihren Liquiditätsgaben an die Banken und mit den Wertpapierkäufen die Kurse von Aktien & Co. nach oben getrieben hat. Sie hat diese Unwucht damit noch weiter vergrößert. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Hinblick auf Kapitalerträge wird noch größer, als er strukturell schon ist.

Luxus kleiner Eliten

Die Umverteilung geschieht also von unten nach oben – ganz anders, als es eigentlich in einem fairen Wirtschaftsmodell der Fall sein sollte. „Eine Geldpolitik, die seit Mitte der achtziger Jahre hinter dem Feigenblatt geringer Inflation die Finanzmärkte inflationiert, dient nicht dem Wohlstand des Volkes, sondern dem Luxus kleiner Eliten“, schimpft der Leipziger Ökonom Gunther Schnabl in einem Blogbeitrag. Insofern müssten sich die Notenbanken endlich ihrer Verantwortung stellen.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Weil der Finanzsektor und die Wertpapiervolumina inzwischen eine Größenordnung erreicht haben, dass jede größere Störung gleich ein Systemversagen der Wirtschaft heraufbeschwört, wollen die Notenbanken unter keinen Umständen einen Kursverfall provozieren etwa durch einen zu frühzeitigen Ausstieg aus ihrer unkonventionellen Geldpolitik. Die Notenbank ist somit Gefangener ihrer eigenen Politik geworden. Und die Akteure der Finanzbranche verstehen es aufs Vortrefflichste, diesen Umstand mit ihrer Lobbyarbeit auszunutzen.

Nachdem den angelsächsischen Notenbanken der Ausstieg schon so schwerfällt, soll nun auch die Europäische Zentralbank (EZB) auf dieses „Geschäftsmodell“ einschwenken, das viele Top-Ökonomen als den einzigen gangbaren Weg aus der Krise preisen. Und es scheint so, dass ihnen diese Überzeugungsarbeit gelungen ist, wie die Liquiditätsprogramme, der Ankauf von Pfandbriefen und besicherten Wertpapieren (ABS) zeigen. Jüngsten Gerüchten zufolge soll inzwischen sogar der Ankauf von Unternehmensanleihen erwogen werden. EZB-Vize Vítor Constâncio geht davon aus, dass dieser Kurs noch auf längere Zeit so beibehalten wird, und spricht wie viele andere Ökonomen auch von einer „neuen Normalität“, die sich in den Notenbanken manifestiert habe.

Löhne unter Druck

Verteidiger dieser Geldpolitik führen an, dass der expansive Kurs ja das Wachstum fördere und so vor allem ärmeren Menschen helfe. Doch diese sehen sich in der Konkurrenz mit Billiglohnarbeitern auf globaler Ebene am kürzeren Hebel, weshalb die Chancen auf Lohnsteigerungen trotz des Aufschwungs gering sind, wie etwa US-Daten zeigen. Die Profite streichen eher die Unternehmen und ihre Aktionäre ein. Der zitierten Fed-Studie zufolge haben in den Jahren 2010 bis 2013 nur die obersten 10 % der US-Amerikaner überhaupt steigende Einkommen aufgewiesen.

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz beklagt denn auch, dass das Maß der Ungleichheit in den USA inzwischen alle nachvollziehbaren Größenordnungen überschritten habe: Seit 1998 stagniert das Median-Einkommen der Privathaushalte und ist seit 2007 auf ein Niveau wie vor einem Vierteljahrhundert gefallen. Für Vollzeitbeschäftigte ist sogar eine Lohnstagnation seit Mitte der siebziger Jahre festzustellen. Und das zu einer Zeit, in der sich die Produktivität verdoppelt hat. „Die USA entwickeln sich zu einem Billiglohnland mit Arbeitnehmern, die immer flexibler und produktiver werden“, diagnostiziert ein Gutachten der Boston Consulting Group.

Immobilienpreise im Fokus

Zudem wird zugunsten der ultralockeren Geldpolitik gerne angeführt, dass die Nullzinspolitik die Hauspreise nach oben treibt, was ja Hausbesitzer freue. Zumal gerade Familien der Mittelschicht in den USA überdurchschnittlich große Teile ihres Vermögens in Hausbesitz hielten. Allerdings hat gerade die Übertreibung auf diesem Sektor zur tiefen Finanzkrise beigetragen.

Erst Studien, dass die soziale Ungleichheit inzwischen auch das Wirtschaftswachstum dämpft (das zu steigern die unkonventionelle Geldpolitik der westlichen Notenbanken vorgibt), haben viele handelnde Personen nun aufgerüttelt. Die Ratingagentur Standard & Poor’s (S & P) warnt vor negativen Folgen, wenn die Profite der Wirtschaft weiter zu sehr den Vermögenden und den Vertretern der Spitzeneinkommen zugutekommen. Schon jetzt, so hat die Ratingagentur im Sommer für eine Studie ausgerechnet, müssten die USA deswegen langfristig auf jährlich 0,3 Prozentpunkte an Wachstum verzichten.

Der Leipziger Ökonom Schnabl lenkt die Aufmerksamkeit der Debatte über die Verantwortung der Notenbanken zudem darauf, dass die angestrebte „Preisstabilität“ ohnehin nur ein „Zwischenziel“ der Notenbanken sei. Zu hohe Inflation lässt den Staat und die Halter von realen Vermögenswerten profitieren, während die Zeche der Sparbuchsparer zahlt. Die Vermeidung von höherer Inflation diene also letztlich nur dazu, willkürliche Umverteilungseffekte zu vermeiden. Doch ein ähnlicher Mechanismus zeige sich auch am anderen Ende, wenn die Notenbanken im Kampf gegen Stagnation und Deflation die Vermögenspreise durch ihre Ankäufe in schwindelerregende Höhen treiben und Sparzinsen auf null drücken. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Währungshüter hier ihren Kernauftrag verraten und mit einer Überdosis Geldpolitik den Patienten regelrecht in die Vermögensschizophrenie treiben.

Greenspan gab den Startschuss

Dass der neue Kurs der Notenbanken die soziale Ungleichheit befördert, scheint bereits ein Blick auf die historische Datenlage zu illustrieren. Just seit 1987, als Alan Greenspan das Amt als Fed-Chef übernahm und eine Geldpolitik einleitete, die vornehmlich der Stabilisierung der Finanzmärkte diente, ist der Anteil der Top-1 % am Gesamteinkommen in den USA von rund 13 % auf inzwischen gut 37 % angestiegen. Vergleichbare Entwicklungen sind auch in anderen Industrieländern zu beobachten.

Und wie gegensteuern? Mehr Produktivkapital, sprich: mehr Aktien, in Arbeitnehmerhand, hieße eigentlich die Devise. Doch dieser Wunsch ist schon in den sechziger Jahren in Deutschland versickert. Auch neueren Anläufen war kein Erfolg beschieden. Muss der Gesetzgeber die Entwicklung dann nicht über das Steuersystem korrigieren? Angesichts des globalen Steuerwettbewerbs sind dem Staat hier strukturell Grenzen gesetzt, zumal gerade die Superreichen zu den mobilsten Individuen überhaupt zählen. Ein wichtiger erster Schritt vor weiteren steuerlichen Entlastungen der unteren und mittleren Einkommen wäre die Streichung der kalten Progression, die vor allem die besonders beanspruchte Mittelschicht trifft und ihre Sparneigung torpediert. Das wird inzwischen auch von zahlreichen Ökonomen und Politikern gefordert – genauso wie von Deutsche-Bank-Co-Chef Fitschen.

Die Amerikanisierung der Eurozone

Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz
Soll die Eurozone insgesamt wieder auf die Beine kommen, muss sich der Währungsraum nach Meinung von Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz von althergebrachten ökonomischen Vorstellungen verabschieden und – so möchte man hinzufügen – amerikanischer werden: Weg mit der Austerität, solange das Bankensystem nicht stabil genug ist und zu wenig Kredite vergibt; weg mit der Fixierung auf Schuldenstands- und Defizitquoten, weil deren Missachtung ja gerade nicht zur Euro-Krise geführt hat, wie etwa die niedrigen Vorkrisenquoten in Irland, Spanien und Portugal zeigen. Stattdessen muss das Preisstabilitätsmandat der Europäischen Zentralbank (EZB) um ein Arbeitslosen- und Finanzstabilitätsziel ergänzt werden, braucht es eine echte Bankenunion im Euroraum, eine europäische Arbeitslosenversicherung und – natürlich – Euroland-Bonds. Erst diese Eingriffe würden die Eurozone nachhaltig stabilisieren und das Wachstum wieder auf Normalmaß heraufschleusen, versichert Stiglitz bei einer Veranstaltung von Shearman & Sterling in Frankfurt.

Wenn Deutschland immer wieder Austerität predige, die Einhaltung von Fiskalversprechen einfordere, sich aber einem Finanzausgleich im Währungsraum verweigere, sich nicht der Konsequenzen eines einheitlichen Währungsraums stelle, würden die Deutschen in nicht allzu ferner Zukunft einen wohl noch höheren Preis zahlen müssen, prophezeit Stiglitz. „Ich möchte mir gar nicht ausmalen, welche politischen Folgen es hat, wenn die Arbeitslosenraten in der Eurozone noch längere Zeit so hoch sind wie jetzt.“

In deutschen Ohren klingt derlei Politikschelte in der Tat schmerzhaft, weil Stiglitz‘ Argumentation Vorstellungen von Ordnungspolitik und der Begrenzung staatlicher und zentralbanklicher Macht mit einem Wisch fortfegt. Mehr Industriepolitik, fordert er etwa. Davon gebe es in Europa zu wenig. Die USA seien da viel weiter. Es werde nur nicht „Industriepolitik“ genannt, sondern verstecke sich hinter den „Ausgaben des Defence Department“.

Stiglitz redet zudem einer ökonomischen Feinsteuerung durch die Notenbank das Wort, die hierzulande verpönt ist. Auch das Bankensystem soll nach seinem Dafürhalten nicht rigoros von der Staatssphäre abgekoppelt werden, wie in Europa angestrebt wird, weil das Finanzsystem nur durch einen „Blankoscheck“ der jeweiligen Regierung Krisen überstehen könne. Und auch die Staatsverschuldung sei im Grunde genommen kein Problem, solange die Notenbank einfach Geld drucken könne. Das funktioniere im Euroraum nur deshalb nicht so gut wie in den USA, weil die Staaten keinen Zugriff auf diese Finanzierungsmethode hätten. Stiglitz: „Die USA werden nie eine Schuldenkrise haben, weil es das eigene Geld ist, in dem sie sich verschulden. Und das kann man schnell nachdrucken.“

Ein möglicher Vertrauensverlust in die Währung schert ihn ebenso wenig wie das Ausnutzen von derlei „Versicherung“ durch das Bankwesen. „Marktwirtschaft“ unterscheidet sich vor diesem Hintergrund gar nicht mehr so sehr von anderen Wirtschaftskonzepten wie Planification – eine Art Notenbank-Sozialismus eben.

Was der US-Topökonom richtig beschreibt, sind die Probleme, die sich Europa durch die aus ökonomischer Sicht überhastet eingeführte Währungsunion eingehandelt hat. Das Gebiet stellt in keinster Weise einen optimalen Währungsraum dar. Zu groß die kulturellen, ökonomischen und politischen Unterschiede, zu wenige gemeinsame Institutionen und nicht einmal ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft, wenn es etwa darum geht, die einmal eingegangenen Versprechen auch zu halten und die nötigen Reformen durchzuführen. Stattdessen ist Flickschusterei angesagt, wie die Einrichtung eines Eurorettungsfonds und einer bei der EZB angeflanschten Bankenaufsicht für die größten Institute.

Was Stiglitz aber außer Acht lässt, ist, dass es ja gerade jene bislang ausgebliebenen Reformen sind, die Länder wie etwa aktuell Frankreich dazu befähigen sollen, eine stabile Binnennachfrage zu etablieren und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes wieder zu steigern. Es ist diese Unfähigkeit der politischen Eliten in diesen (und anderen) Ländern, welche die Eurozone immer wieder neuen Belastungsproben aussetzt und den Groll in der Bevölkerung gegenüber dem Verhalten anderer Länder steigert.

Umgekehrt hat ja auch der von Stiglitz empfohlene ökonomische Umbau seine Schattenseiten, die der Ökonom fairerweise nicht vorenthält: Niedrigzinsen bzw. Minuszinsen sowie die Ankaufprogramme der Notenbanken können in eine Blasenwirtschaft münden, was die nächste Krise vorherbestimmt. Stiglitz‘ ökonomische Rezeptur bevorteilt zudem Vermögende und hohe Einkommen, was die soziale Ungleichheit immens vergrößert und selber wiederum für politischen Zündstoff sorgt. Hinzu kommt, dass das auf diese Weise initialisierte Wachstum weniger neue Arbeitsplätze schafft als in früheren Aufschwungphasen. Niedrigste Zinsen verführen nämlich zu kapitalintensiven Investitionen, die nur wenige neue Jobs hervorbringen – und noch existente Arbeitsplätze zudem gefährden. Das bringt den Nobelpreisträger wieder auf den Gedanken, dass der Staat hier mit eigenen Investitionen in die Infrastruktur vorpreschen muss, um diese Probleme zu lindern. Ein Eingriff folgt auf den nächsten. Am Schluss dürften von freien Märkten nur noch ein paar Nischen übrigbleiben.

Und was heißt das für die Zukunft der Währungsunion? Stiglitz: „Eine Auflösung wäre keine gute Lösung. Aber es gibt immer auch ein Leben nach der Scheidung.“

Das letzte Wort hat Karlsruhe

Mit großer Spannung warten nicht nur die Prozessbeteiligten auf die Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) am Dienstag, 14. Oktober, über die Rechtmäßigkeit der OMT-Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB). Denn es geht dabei um viel mehr als die Frage nach der Verfassungs- oder Europarechtswidrigkeit einzelner Ankäufe kurzlaufender Staatsanleihen von Krisenländern, sondern insgesamt um die Freiheitsgrade der EZB, um eine Klärung des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und nationalem Recht und letztlich um das Maß an Souveränität, das im Währungsverbund vergemeinschaftet werden darf. Und davon hängt auch ab, wie die Märkte den später zu erwartenden Urteilsspruch aufnehmen. Schlimmstenfalls könnte Karlsruhe brüskiert werden, was einen Aufschrei in Deutschland auslösen und den eurokritischen Kräften noch mehr Zulauf bescheren würde, oder die EZB wird gezügelt, was ein Wiederaufleben der Euro-Krise nach sich ziehen könnte.

Das Problem für Karlsruhe: Die Richter gehen davon aus, dass die Frankfurter Euro-Banker ihr Mandat mit den angekündigten selektiven Staatsanleihekäufen überstrapaziert haben, da die EZB aber dem Europarecht untersteht, können sie die Notenbank nicht bremsen. Allenfalls die Bundesbank müsste sich einem negativen Richterspruch beugen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann opponiert aber ohnehin schon länger gegen diese EZB-Politik – meist erfolglos, weil eine Mehrheit seiner Kollegen Staatsanleihekäufen positiv gegenübersteht.

Entscheidend ist deshalb, ob sich die Karlsruher Richter einem möglicherweise ebenfalls nachsichtigen Richterspruch ihrer Europakollegen entgegenstellen und einen offenen Konflikt riskieren wollen. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio hielt in einem Vortrag in der School of Finance in Frankfurt zwar nicht hinterm Berg mit seiner kritischen Haltung zum EZB-Gebaren, rechnet aber seinerseits mit einem gewissen Entgegenkommen. Das Bundesverfassungsgericht werde „wohl seinerseits jede Andeutung einer Beschränkung der EZB seitens des EuGH wohlwollend aufnehmen“, meint er.

Aber auch die EZB muss vorsichtig agieren, würde sie einen großen Verfassungskonflikt doch nicht unbeschadet überstehen. Schließlich würde ihr das Vertrauen des größten und wichtigsten Mitgliedslands entzogen, die öffentliche Debatte würde ihr zusetzen und die Märkte würden negativ reagieren. „Im Endeffekt“, so di Fabio, „müsste Deutschland wohl aus dem Euro austreten.“

Der wohl unlösbare Konflikt besteht allein deshalb, weil die Politik und die sie tragende Bevölkerung nicht willens oder imstande sind, die EU in einen Bundesstaat zu überführen mit klarer Verantwortung und Machtverteilung. So bleibt das Gebilde „ambivalent“, wie di Fabio sagt. Solange das der Fall sei, werde es immer wieder zu Klagen kommen. Auch die jüngsten EZB-Beschlüsse zum Ankauf von Kreditverbriefungen und Pfandbriefen dürften Verfassungsbeschwerden nach sich ziehen, weil die Notenbank nach Ansicht ihrer Kritiker zu hohe Risiken in die Bilanz nimmt, erwartet di Fabio. Denn es komme zu einem Haftungsautomatismus. Die Bankenunion sei ein weiteres Klagefeld.

Entsprechend groß ist deshalb der Druck auf die Politik, nicht nur die institutionellen Fragen der Euro-Rettung zu klären, sondern eine größere Debatte über die Finalität Europas einzuleiten. Die könnte in eine Grundgesetzänderung münden, was der europäischen Integration mehr Freiräume zugestehen würde. Solange dies aber nicht geschehen sei, dürfe in einem souveränen Staat das Grundrecht auf Demokratie „nicht entleert werden“. Die Gewählten „müssten schon noch etwas zu entscheiden haben“. Und bis dahin, so di Fabio, „darf auch der EuGH nicht da letzte Wort haben, sondern das Bundesverfassungsgericht“.

Die Fernwirkung der AfD

So langsam wird es ungemütlich für die Unionsparteien. Scheinbar unaufhaltsam gewinnt die Alternative für Deutschland (AfD) an Zuspruch in der deutschen Bevölkerung. Um den eurokritischen Kern herum sammelt die Partei dabei gerade viele Konservative ein, die sich von der Sozialdemokratisierung der CDU überrollt fühlen, wie Wählerwanderungsanalysen zeigen. Zusammen mit den Unzufriedenen aus anderen Parteien, gespeist aus den sich auflösenden Gruppierungen FDP und Piraten und ergänzt aus dem extremen rechten Rand der Gesellschaft hat sich die AfD inzwischen auf einen zweistelligen Umfragewert herangerobbt. Wie die Wahlforscher von Forsa jüngst mitteilten, liegt die Partei nun bei einem bundesweiten Zustimmungswert von 10%. Vor gut zwei Wochen ist die AfD in die Landtage von Brandenburg und Thüringen eingezogen und hatte zuvor auch in Sachsen und bei der Europawahl gepunktet.

Offenbar hat die Unzufriedenheit gegenüber den etablierten Parteien inzwischen ein Ausmaß erreicht, das deren Vertreter immer noch nicht recht wahrhaben wollen. Möchte nun die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel zumindest einen Teil der AfD-Wähler wieder für sich gewinnen, muss sie sich dem Kern der teilweise durchaus berechtigten AfD-Kritik stellen.

So moniert die AfD die zu hohe Belastung Deutschlands durch die Euro-Rettung, schwadroniert über die desaströsen Folgen der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und geißelt deren Mandatsüberschreitung durch ihre Kaufprogramme. Gar zu viele Bedenken wurden in dieser Hinsicht von den Parteioberen fast aller etablierten Fraktionen abgebügelt und die Menschen lediglich mit Floskeln abgespeist. Die inhaltsleeren Slogans bei der letzten Europawahl sind ein Zeugnis hierfür.

Eine ernsthafte Debatte über die Euro-Rettung, über die Belastung des deutschen Steuerzahlers dabei, über die nötigen Zugeständnisse Deutschlands (wie anderer Länder) in einem geeinten Europa und über die Finalität der Gemeinschaft gibt es aber bis heute nicht. Das übernahm vielfach das Bundesverfassungsgericht, indem es die Politiker an die demokratischen Gepflogenheiten erinnerte, die Frage aufwarf, wie weit und unter welchen Bedingungen Deutschland Teile seiner Souveränität abgeben darf und wie weit die EZB bei der Vergemeinschaftung von Risiken eigentlich gehen darf.

Wie groß der Anteil Deutschlands an der Euro-Rettung war, ganz entgegen dem Eindruck in vielen Krisenländern, wo Berlin eher als Totengräber des Währungsraums gilt, und wie wichtig es ist, dass die Bundesregierung ihrer bisherigen konstruktiven Politik treu bleibt, zeigt eine Studie der Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P). Der Chefanalyst für Europa, Moritz Kraemer, warnt hierin vor einem durch das Aufkommen der AfD erzwungenen nationaleren Kurs Deutschlands. Bislang sei Bundeskanzlerin Angela Merkel im eigenen Land auf keinen größeren Widerstand gegen ihre Europolitik gestoßen, schreibt er. Dies habe ihr in Brüssel mehr Spielraum für Kompromisse ermöglicht. Sollte Merkel ihre Gangart unter dem Eindruck des AfD-Aufstiegs indes verschärfen, würden die Krisenstaaten dies durch höhere Zinsen am Kapitalmarkt unmittelbar zu spüren bekommen, was die Krise neu anfachen könnte.

Seine Bedenken: Die CDU könnte versuchen, durch eine härtere Regierungslinie Wähler zurückzugewinnen, durch eine geringere Flexibilität bei den Fiskalzielen, durch ihren Widerstand gegen Wachstumsprogramme, durch kritischere Äußerungen gegenüber der EZB und durch die Verweigerung eigener höherer Staatsausgaben. Deutschlands konstruktive Haltung bei der Unterstützung der in Not geratenen Länder habe eine positive Wirkung auf deren Bonität gehabt. Staaten wie Spanien und Italien konnten sich zuletzt wieder zu historisch niedrigen Zinssätzen frisches Geld besorgen. Sollten die Investoren nun „auch nur Anzeichen für eine Verschärfung“ des deutschen Kurses wahrnehmen, warnt S&P, werde das Vertrauen in die Krisenländer wieder bröckeln.

Gedruckte finanzielle Freiheit

Rund 8 Cent kostet ein Euroschein im Schnitt in der Herstellung. Über den Ladentisch geht er dann aber als 5-, 10-, 20- oder gar als 500-Euro-Note, weil es die Notenbank ist, die buntes Papier bedrucken lässt und nicht irgendwer. Eine verführerische Wertsteigerung, die schon manchen rechtschaffenen Menschen zum Geldfälscher hat werden lassen.

Ab dem 23. September gibt es nun nach der 5-Euro-Note eine Neuauflage der 10-Euro-Note zu bewundern. Sie fällt nach Angaben von Bundesbankvorstand Carl-Ludwig Thiele zwar etwas teurer aus als ihre Vorgänger, weil neue Sicherheitsmerkmale integriert sind, dafür hält sie aber etwas länger, bevor sie aus dem Verkehr gezogen werden muss. Der Mehrpreis rechnet sich also.

Liest man die aktuellen Meldungen aus dem Digitaluniversum, scheinen die Tage des Bargelds indes gezählt zu sein, weil die Rechnung an der Supermarktkasse, am Kiosk oder in der S-Bahn künftig verstärkt mit elektronischen Zahlungsmitteln beglichen werden soll. Und die jüngste Novität von Apple, das Bezahlsystem Apple Pay in seinem neuen iPhone, lässt viele Beobachter glauben, dass der Markt schon reif ist für eine tektonische Veränderung. Schon heute werden bei immer kleineren Beträgen EC- und Kreditkarte gezückt. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Bezahlhandy.

Die Daten der Bundesbank zeigen allerdings, dass sich das „analoge“ Bargeld erstaunlich lange hält: Nach wie vor werden in Deutschland wertmäßig mehr als die Hälfte aller Rechnungen an den Kassen mit Geldscheinen und Münzen beglichen. Und der Wert der Bargeldbestände im Umlauf hat in jüngster Zeit eher noch zugenommen. Das liegt aber weniger an den Bezahlvorgängen selber, sondern an der Funktion des Euroscheins als Wertaufbewahrungsmittel. Angesichts der niedrigen Zinsen und der vernachlässigbaren Geldentwertung in der Eurozone werden offenbar immer mehr Euro physisch gehalten. Und auch im angrenzenden Nicht-Euro-Ausland setzen die Menschen auf den Euro als Reservewährung, um auch im Krisenfall zahlungsfähig zu bleiben. „Das Bargeld ist weiter unschlagbar“, sagt Thiele vor diesem Hintergrund.

Womöglich kommt aber in jüngster Zeit ein weiterer Aspekt hinzu, der die Attraktivität des Bargelds eher wieder steigen lässt: die Angst vor Bespitzelung. Jeder elektronische Zahlvorgang ob mit dem iPhone, dem Androiden oder der EC-Karte lässt sich zurückverfolgen, analysieren, bewerten und mit anderen Versatzstücken aus Big Data kombinieren. Und schlagen die Algorithmen Alarm, wird womöglich der Bezahlvorgang gestoppt, so die Angst. Außerdem verlangen die Systemdienstleister auch ihren Obolus. Das dürfte beim iPhone auch nicht anders sein. Kosten, die natürlich auf die Kunden abgewälzt werden.

Demgegenüber stellt das Bargeld „geprägte Freiheit“ dar, wie es der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing einmal ausgedrückt hat. Big Brother ist hier machtlos. Es sei denn, nach dem Bezahlvorgang zückt man die Kundenkarte, um sich Bonuspunkte gutschreiben zu lassen.

Von der Wahrnehmungsverzerrung im Internet

Amazon, so eine Nachricht aus Großbritannien, verlangt von Verlagen auf der Insel neuerdings eine pauschale Nachdruckerlaubnis, wenn Bücher nicht mehr lieferbar oder nicht mehr im Auslieferungslager verfügbar sind. Das Echo in der Öffentlichkeit über diese Vermessenheit ist eher dünn, obwohl die Attacke noch zu dem Skandal über bewusste Lieferverzögerungen Amazons gegenüber Verlagen hinzukommt. Einige Häuser werden offenbar sanktioniert, weil sie nicht gleich auf die Amazon-Wunschliste eingehen im Hinblick auf Rabatte und die Einräumung spezieller Rechte weit über das übliche Maß hinaus. Amazon nutzt hier seine gigantische Marktmacht offen aus.

Auch der öffentliche Aufschrei gegenüber anderen Zumutungen, mit denen Amazon, Facebook, Apple, Google & Co. die Realwirtschaft herausfordern, ist eher verhalten. Das gilt auch für ihr Verhalten gegenüber ihren eigenen Nutzern, wenn sie ihnen etwa bei einem Upate bis auf Bibellänge ausgewalzte neue Nutzungsbestimmungen vorlegen, die sie gefälligst zu akzeptieren haben. Damit räumen sich die Internetkonzerne ganz nebenbei – im Kleingedruckten und via kryptische Formulierungen – von ihren Nutzern weitreichende inhaltliche Rechte ein, die weit über das hinausgehen, was einzelne nationale Gesetzesbestimmungen in der Realwirtschaft zulassen würden und was man selbst Freunden zugestehen würde. Das geschieht vielfach über „kleine“ Änderungen der kaum mehr überschau- und erfassbaren juristischen Texte, die jeder noch so kleinen Änderung am Programm vorgeschaltet werden – teils sogar nur in englischer Sprache. Ein Klick auf den Akzeptiere-Button – und die Rechte sind vergeben. Die Nutzer haben kapituliert, die Konzerne triumphieren. Die Taktik des Vertuschens, Vernebelns und verquasten Formulierens ist aufgegangen.

Die jüngsten öffentlichen Reaktionen auf die Entwicklerkonferenzen der großen Digitalkonzerne – Build von Microsoft, WWDC von Apple und jüngst I/O von Google – waren ebenfalls recht unkritisch, was die dort nonchalant ausgebreiteten Pläne zur Ausweitung der Konzernmacht auf die Nutzer angeht. Dabei geht es letztlich um die Aneignung ganzer Leben. Stattdessen wurde euphorisch über die Möglichkeiten der neuen Techniken schwadroniert. Jede noch so winzige „Verbesserung“ bei Apps, Betriebssystemen und Geräten wurde bejubelt und einer gottesdienstartigen Verehrung gleich von „Medien-Missionaren“ den technologischen Heiden verkündet. Die Konzerne selbst gelten in deren Augen in gewisser Weise für sakrosankt.

Selbst Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) räumte im Interview mit der FAZ zuletzt eine gewisse Beißhemmung ein. Würde ein Energieunternehmen wie Google 95 Prozent des Marktes abdecken, „wären die Kartellbehörden aber ganz schnell auf dem Plan“, sagte er und sieht sich selber als „Teil des Problems“, weil er täglich die googlesche Suchmaschine mit Fragen füttert.

Wie viel sich die Nutzergemeinde inzwischen gefallen lässt, ohne auch nur zu murren, zeigt ein Vergleich mit der Realwirtschaft: Wäre es etwa vorstellbar, dass ein Autohändler so einfach das Modell eines älteren – nicht mehr lieferbaren, weil durch eine neuere Version ersetzten – BMW einfach nachbaut? Amazon maßt sich das im Hinblick auf Verlage an. Oder, wie würden sich Verbraucher verhalten, wenn etwa die Hersteller von Fotoapparaten sich gleich auch die Rechte an den gemachten Bildern einräumen? Das tun etwa Facebook und Google. Längst machen Verbraucherzentralen und Verbraucherministerien Jagd auf kryptische Verträge im Handel, unzulängliche Aufklärungsgespräche etwa in der Finanzindustrie, verlangen Transparenz und Vereinfachung, vor allem aber Verständlichkeit und Offenheit beim Umgang mit Kunden. Bei der Digitalindustrie aber stehen sie eher abseits und fühlen sich irgendwie nicht zuständig. Es wird Zeit, dass sich die Gewichte diesbezüglich verschieben. Die Digitalindustrie unterliegt schließlich den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder anderer Akteur auf dem Markt.