Kommentar

Griechische Dialektik

Vor dem Referendum sortiert Athen seine Argumente gegen die „Austeritätspolitik“.

Ein Blick auf die für das anstehende Referendum freigeschaltete Informationsseite der griechischen Regierung im Internet ist erschütternd: Um 35 % sind die Selbstmorde in Griechenland seit 2010 gestiegen, die Zahl der Depressionen hat um 270 % zugenommen und fünfmal so viele Menschen wie vor fünf Jahren sind ohne Krankenversicherung. Das Bruttoinlandsprodukt ist in dieser Zeit um ein Viertel geschrumpft, der Mindestlohn um die Hälfte gekürzt worden und die Armutsquote von 28 auf 35 % gestiegen. Und wer ist schuld? Ganz klar, die Austeritätspolitik der “Institutionen” aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF). Ohne deren Auflagen, so wird insinuiert, würde das Land quasi prosperieren. Kein Wunder, dass inzwischen sogar auf einer Crowdfunding-Seite für Griechenland gesammelt wird. Rund 1,7 Mill. Euro von knapp 100.000 Personen sind inzwischen zugesagt für einen “Bail-out Fund”. Als Gegenleistung kann man — je nach Betrag — die Lieferung von Schafskäse, einer Flasche Ouzo oder einen Essenskorb wählen.

Auch in den sozialen Netzen zeigt sich mehr Unverständnis über die harte Haltung der Geldgeber als über die erratische und verantwortungslose Athener Verhandlungsführung. Viele Ökonomen halten die Austeritätspolitik der Geldgeber auch wirtschaftlich für unsinnig, ebenso das Pochen auf die strikte Einhaltung von Regeln. Mehr Geld, auch auflagenfrei, würde nach so manchem Verständnis zudem nicht nur Griechenland, sondern auch die Eurozone insgesamt retten. Ein alter Ökonomenstreit, der mit der Sparverweigerung der Griechen nun neue Nahrung erhalten hat.

Viele der Austeritätskritiker machen sich es hier aber zu einfach, weil sie verkennen, in welcher schwierigen Lage Euroland mit einer Währung, aber vielen Fiskalpolitiken ist. Käme Athen mit seinen Vorstellungen nämlich durch und erhielte noch mehr Zugeständnisse, könnten Gruppierungen in anderen Ländern ein solches Verhalten als Blaupause hernehmen. Das würde dann zum Zerwürfnis der Eurozone führen, weil die Steuerzahler in den Geberländern rebellierten. Europa würde entzweit. Neue politische Krisen wären die Folge.

Wenig ist indes die Rede davon, dass die Vorgängerregierungen in Athen das Land zuschanden geritten hatten, Nepotismus gefördert und die reichen Familien geschützt haben. Während die Sparforderungen stets umgesetzt und (absichtsvoll?) so implementiert wurden, dass die Schwächsten in der Gesellschaft getroffen wurden, hatte man jene Reformen verwässert oder schlicht “vergessen”, welche Besitzstände wohlhabender Bürger gefährdet hätten. Auch die Linkspartei von Regierungschef Alexis Tsipras, die eigentlich angetreten ist, mit den alten Strukturen zu brechen, hat es bis heute unterlassen, die soziale Umverteilung im Land in Gang zu setzen. Stattdessen wurde von den Gläubigern ein Schuldennachlass und noch mehr frisches Geld gefordert, um die Wahlkampfversprechen einlösen zu können. Von Reformen etwa in der Steuerverwaltung oder bei der Fahndung nach Steuerflüchtlingen und Steuerhinterziehern keine Spur.

Gewiss hat es viele Fehleinschätzungen der Troika gegeben etwa bezüglich der Wachstumsprognosen, der Nebenwirkungen der Sparpolitik und der institutionellen Ineffizienz in Griechenland. Entsprechend wurden die Zielrichtung im zweiten Hilfsprogramm auch angepasst und die Sparvorgaben aufgeweicht. Davon konnten dann Portugal und Spanien profitieren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EZB-Präsident Mario Draghi haben kürzlich darauf hingewiesen, dass entgegen der Athener Darstellung gerade die soziale Fairness Leitschnur der Troika-Politik gewesen sei.

Mehr denn je hätte man insofern von vornherein auf institutionelle Anpassungen und Strukturreformen Wert legen müssen. Aber die Durchsetzung von Letzterem findet ihre Grenzen eben in der Souveränität des jeweiligen Landes. Zumal Strukturreformen immer nur dann funktionieren, so der Ökonomie-Nobelpreisträger Kenneth Rogoff, wenn die umsetzende Regierung auch dahintersteht. Das war in Athen aber nie der Fall. Und deshalb wurde auch stets die Solidaritätsfinanzierung durch die Steuerzahler anderer Länder eingefordert, um die Finanzlücken für eine Lebensweise und ein Wohlstandsniveau zu stopfen, worauf man — ohne eigenes Zutun — ein Anrecht zu haben glaubt. Ganz nach dem dialektischen Materialismus, wonach “das Sein das Bewusstsein” bestimmt.

Abgesang auf die Eurozone

25 Jahre deutsch-deutsche Währungsunion – und die Lehren für die Eurozone, wo derzeit Nationalismus und gegenseitiges Misstrauen die Zukunft verdunkeln.

Von Stephan Lorz

Wie sich die Bilder gleichen! 1. Juli 1990: Warteschlangen vor den Banken, Menschen fallen sich in die Arme, winken den Geldtransportern vom Straßenrand aus zu, jubeln in die Fernsehkameras. Die D-Mark kommt in die DDR. 1. Januar 2002: Europaflaggen über der Akropolis, Menschen tanzen auf den öffentlichen Plätzen, Griechenland bekommt doch noch den Euro. Die Drachme ist schnell vergessen, der neuen Währung wird gehuldigt.

Und heute? Die Währungsunion in Deutschland war letztlich ein Erfolg. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass es die richtige Entscheidung war, auf dem Weg zur deutschen Einheit zunächst ein gemeinsames Geld einzuführen. Die D-Mark hat nicht sogleich „blühende Landschaften“ hervorgebracht, doch leiteten die starke Währung und die Milliardenhilfe im Rahmen des „Aufbaus Ost“ nach einer Phase hoher Arbeitslosigkeit eine Reindustrialisierung in den neuen Bundesländern ein, um die Deutschland im Ausland mittlerweile beneidet wird. Die verbliebenen und die neuen Unternehmen im Osten sind inzwischen weltweit wettbewerbsfähig, wenngleich das Produktivitäts- und Einkommensniveau noch nicht ganz Weststandard erreicht hat. Der Sozialismus hatte die damalige DDR viel stärker ausbluten lassen, als Ökonomen und Politiker seinerzeit wahrgenommen hatten. Ein Warnzeichen für alle derartigen Experimente heute.

Was die Europäische Währungsunion anbelangt, so sind die Erfahrungen gemischt. Zwar ist der Währungsraum weltweit attraktiv, weil er eine hohe Wirtschaftskraft in die Waagschale werfen kann, doch haben unverantwortliches politisches Verhalten und der falsche Einstiegskurs in einigen Volkswirtschaften ein konjunkturelles Strohfeuer entzündet, das wenige Jahre später die Eurozone in eine tiefe Krise stürzte. Ganze Staaten mussten gerettet werden und hatten sich einem strikten Reformprogramm zu unterziehen. Die damit einhergehende Arbeitslosigkeit erreichte so beängstigende Ausmaße, dass vereinzelt sogar das kapitalistische Wirtschaftssystem infrage gestellt worden ist. Das gilt vor allem in Griechenland, wo die staatlichen Strukturen und politischen Verhaltensmuster nicht einmal annähernd einer modernen Volkswirtschaft entsprechen und die Zerwürfnisse daher besonders groß sind.

Im Gegensatz zur deutsch-deutschen Währungsunion, wo vor 25 Jahren ebenfalls zunächst die wirtschaftlich-pekuniäre Einheit vollzogen wurde, ehe es zur politischen Einheit kam, ist die Europäische Währungsunion in der ersten Phase steckengeblieben. Während in Deutschland zentrale Institutionen das Sagen haben, fehlen der Eurozone gerade solche klaren Strukturen: Die Geldpolitik wurde vergemeinschaftet, die Finanzpolitik aber blieb in der Entscheidungshoheit der Mitgliedstaaten. Das führt zu einer verstärkten Verschuldungsneigung bei den Staaten, weil sich die damit einhergehenden Kosten in einer Währungsunion teilweise auf andere Länder überwälzen lassen – was für großen Missmut sorgt.

An einer Vervollständigung der Eurozone durch eine politische Union ist vor diesem Hintergrund gegenwärtig gar nicht zu denken. Der Streit um den Länderfinanzausgleich in Deutschland zeigt, wie schwer es schon in einem Nationalstaat ist, die Interessen auf einen Nenner zu bringen. Wie viel schwieriger ist es dann in einem losen Staatenbund, in dem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen nicht so stark ausgeprägt oder gar nicht vorhanden ist? Der politische Umgang mit der Euro-Krise und der verstetigte Regelbruch haben das Misstrauen der Bürger zudem noch verstärkt. Der Nationalismus nimmt zu, was jeden weiteren Integrationsschritt erschwert.

Während die D-Mark die beiden deutschen Staaten weiter zusammengeschweißt hat, fungiert der Euro derzeit also eher als Spaltpilz. Dabei war das Projekt von der Politik einst ausersehen, Europa zu einen und eine politische Union vorzubereiten. Es erscheint heute aber unwahrscheinlicher denn je, dass die Nationalstaaten zu weiterem Souveränitätsverzicht bereit wären, um etwa einen Euro-Finanzminister mit Durchgriffsrechten auszustatten. Die Eurozone wird deshalb immer fragiler. Zwar gab es auch bei der deutsch-deutschen Währungsunion Momente der Verunsicherung. Letztendlich aber war sie ein Selbstläufer. In Europa indes wäre schon ein politischer Kraftakt nötig, um das Blatt noch zu wenden. Vielleicht haben die desaströs verlaufenen Verhandlungen mit Griechenland den beteiligten Personen noch einmal vor Augen geführt, wie dünn das Eis eigentlich ist, auf dem die Eurozone steht.

Kampfansage an Karlsruhe

Das EZB-Urteil des Europäischen Gerichtshofs verändert den Charakter der Währungsunion und untergräbt mittelfristig ihre Stabilität.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) brüskiert und der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Freibrief ausgestellt. Während die Karlsruher Richter die Klagen gegen das an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte OMT-Anleihekaufprogramm der EZB für berechtigt halten und den Tatbestand der monetären Staatsfinanzierung für erfüllt sehen, winken die Europarichter die unkonventionellen Methoden der EZB einfach durch. Sie sind ihrer Meinung nach vom Mandat gedeckt und stellen keine Umgehung des Staatsfinanzierungsverbots dar; zumal Geldpolitik ja stets Einfluss auf Zinssätze und Finanzierungsbedingungen habe und haben müsse. Außerdem haben sie den Notenbankern einen nahezu grenzenlosen Ermessensspielraum gelassen, was noch als Geldpolitik anzusehen ist und wie sie dies in der Öffentlichkeit zu begründen gedenken.

Das EuGH-Urteil ist damit auch eine Kampfansage an das BVerfG, das sich das „letzte Entscheidungsrecht“ in diesem Fall ausbedungen hat. Das BVerfG hat nun zwar die Option, das OMT-Programm als Ultra-Vires-Akt anzusehen, der nicht mehr von den Kompetenzübertragungen des Grundgesetzes gedeckt ist. Sie können in diesem Rahmen die Bundesregierung und die Bundesbank sogar verpflichten, auf einen Stopp des Programms hinzuwirken. Doch außer, dass dies neue Unsicherheiten in ein ohnehin schon wackeliges Währungsgefüge bringen würde, was mit hohen politischen Kosten verbunden wäre, würde sich an der Sachlage ohnehin nichts ändern: Die Bundesbank ist in ihrer kritischen Rolle zu Anleihekäufen bereits jetzt in einer Minderheitenposition innerhalb des EZB-Rats; und die Bundesregierung sieht die erweiterte politische Rolle der Notenbank sogar eher mit Wohlwollen. Denn EZB-Chef Mario Draghi hat zum einen durch sein unkonventionelles Handeln die Eurozone zusammengehalten und kann zum anderen mögliche Ansteckungseffekte im Nachgang zu einem möglichen griechischen Ausscheiden aus der Eurozone durch die jetzt richterlich zertifizierten Anleihekäufe eindämmen. Der Machtanspruch des BVerfG ist verpufft. Der EuGH hat obsiegt.

Der Streit um OMT ist allerdings mehr als eine juristische Auseinandersetzung in der Auslegung des EZB-Mandats, weshalb das BVerfG mit Entschiedenheit die eigene Haltung weiter verteidigen sollte. Letztendlich geht es nämlich um die Entscheidungshoheit über die Tektonik der Währungsgemeinschaft sowie um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Und hier stoßen die Auffassungen von BVerfG/Bundesbank auf der einen und EuGH/EZB auf der anderen Seite aufeinander.

Unter maßgeblich deutschem Einfluss wurde bei der Gründung der Währungsunion nämlich die Eigenverantwortung der Staaten hochgehalten. Das sollte fiskalische Fehlanreize minimieren und die Vergemeinschaftung von Staatsschulden blockieren. Nur unter diesen Vorbedingungen könnte die Stabilität der Eurozone trotz ihrer Unzulänglichkeiten langfristig gewährleistet werden, hieß es. Aber schon in der Vergangenheit wurden entsprechende gesetzliche Bestimmungen uminterpretiert, weil solche Regeln politisch unbequem sind und in vielen EuroLändern andere Rechtstraditionen vorherrschen, die eine politisch flexiblere Herangehensweise stützen. Und in einer Schicksalsgemeinschaft souveräner Staaten wie der Eurozone wirkt die Finanzkraft stärkerer Länder schon seit jeher verführerisch.

So wurde etwa das „Beistandsverbot“ im Maastricht-Vertrag flugs in eine freiwillige Beistandsoption umgedeutet. Von der ständigen Nichteinhaltung der Defizitkriterien ganz zu schweigen. Und wie sich der EuGH in Gesamteuropa Urteil für Urteil von Einschränkungen befreite und damit auch den Charakter der EU veränderte, soll nach dem Dafürhalten der Richter nun auch die EZB flexibler handeln können, um das Vakuum zu füllen, das die Politik hinterlassen hat, weil es dieser an Entscheidungskraft mangelt und eine Euro-Regierung fehlt. Mehr und mehr übernehmen demokratisch allenfalls mittelbar legitimierte Institutionen die Geschäftsführung Europas. Schon das wäre alle Kraft wert, dagegen aufzubegehren, weshalb das BVerfG und die Bundesbank aufgefordert bleiben, ihren Widerstand gegen eine so verstandene Währungsunion zu verstärken – auch auf die Gefahr hin, dass es zu einer Verfassungskrise kommt. Schließlich ist noch nicht klar, ob der Freibrief für die EZB die Währungsunion tatsächlich stabilisiert. Womöglich werden dadurch nur die Fliehkräfte gestärkt, die mittelfristig zu einem Zerfall der Eurozone führen.

Fauxpas der EZB

IMG-20130806-WA0011_edit1Um Insidergeschäfte zu verhindern und weil sie eine öffentliche, demokratisch zu  kontrollierende Einrichtung ist, darf die EZB Medien künftig nicht mehr von Veranstaltungen fernhalten.

 

Da verschafft EZB-Direktor Benoît Coeuré einigen Marktakteuren das Geschäft ihres Lebens, weil er in einer geschlossenen Veranstaltung verkündet, dass die Notenbank vor der Sommerpause verstärkt Anleihen aufkaufen wird, um im Hochsommer bei einem dann ausgedünnten Markt etwas zurückhaltender zu agieren, doch offenbar ist die EZB der Ansicht, dass dafür die Journalisten büßen müssen.

Zumindest hat es diesen Anschein, da die Notenbank just am gestrigen Donnerstag verkündete, dass die Presse künftig nicht mehr vorab gegen Sperrfrist die Reden wichtiger EZB-Akteure erhalten darf. Zwar weisen die Währungshüter die Unterstellung von sich, das sei eine Reaktion auf den Fauxpas von Coeuré. Die Änderung habe man seit Monaten debattiert, weil über soziale Netzwerke Informationen vor Ablauf der Sperrfrist veröffentlicht worden seien. Doch der Zeitpunkt überrascht schon – nur zwei Tage nach dem Kommunikationsdebakel.

Dabei ist die Verteilung von Reden gegen Sperrfrist eine von Zentralbanken seit Jahren geübte Praxis, um gerade sicherzustellen, dass Medien zeitgleich über EZB-Äußerungen berichten. Kein Marktteilnehmer, der sich zufällig auf der dazugehörigen Veranstaltung befindet, soll einen Informationsvorsprung haben. Wie sich aber gezeigt hat, ist der Bruch von Sperrfristen eher das geringere Problem der Notenbank, ein größeres sind vielmehr unbedachte Äußerungen ihres Spitzenpersonals. Oder Kommunikationspannen, wie im aktuellen Fall, weil die Rede erst am nächsten Morgen veröffentlicht wurde. Die Verantwortlichen in der Notenbank sollten sich also an die eigene Nase fassen. Auch der US-Notenbank Fed ist unlängst eine solche Panne unterlaufen, als sie eine Mail versehentlich vorab an Wall-Street-Banken verschickt hatte und es zu Kursreaktionen gekommen war.

Pikant ist zudem, dass Coeuré an jenem Montag in London die Rede in einer geschlossenen Veranstaltung gerade vor Marktteilnehmern wie Hedgefondsmanagern gehalten hatte, deren Umtriebigkeit ja durchaus bekannt ist. Medien waren übrigens nicht zugelassen. Schon während der Veranstaltung ging der Euro zum Dollar auf Talfahrt – moderne Medien machen es möglich. Will man Insiderverstöße verhindern, darf die Öffentlichkeit künftig von keinem EZB-Auftritt mehr ausgesperrt werden.

Monetäre Brachialreparatur

Was nicht passt, wird passend gemacht. Gehen Handwerker auf diese Weise etwa bei der Reparatur eines Geschirrspülers vor, ist das Ergebnis absehbar: Zwar läuft das Gerät dann wieder eine gewisse Zeit, doch nach kurzer Zeit ist nicht nur ein Bauteil defekt, sondern der ganze Geschirrspüler muss verschrottet werden. Eine solche Brachialreparatur unseres Geldwesens scheint auch so manchem Ökonomen vorzuschweben. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat zuletzt – wie einige US-Wissenschaftler vor ihm – die Abschaffung des Bargelds gefordert. Denn die Notenbanken stoßen mit ihrer unkonventionelle Geldpolitik auf eine untere Grenze: Das Bargeld verhindert die Durchsetzung der Negativzinsen. Und weil die Politik des Quantitative Easing (QE) nicht so recht funktioniert, die Investitionen nicht anspringen und die Inflation nur zögerlich anzieht, die Realität also schlicht nicht zu den monetären Modellwelten passt, sollen nun die Rahmenbedingungen verändert werden. Das Bargeld muss weichen – und damit auch das letzte Refugium des freien Wirtschaftsbürgers.

Ökonomische Irrfahrten

Austerität! schallt es in diesen Tagen vielstimmig daher, wenn es um die Sparauflagen für Griechenland geht. Zahlreiche meinungsstarke und oftmals tonangebende Ökonomen verunglimpfen die geforderte Haushaltskonsolidierung als „Spardiktat“. Sie richte „unfassbaren Schaden“ an, heißt es. Deutschland, so der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, habe in der Europolitik versagt. Und sein Nobelkollege Paul Krugman rät zu „intelligenteren Alternativen als Sparen“, meint damit aber schlicht mehr Staatsausgaben. Athen dürfte sich im Widerstand gegen Brüssel und Berlin bestätigt fühlen.

Was aber treibt prominente Ökonomen zu derlei Parteinahme? Gewiss hat das Leiden der griechischen Bevölkerung inzwischen ein Maß erreicht, das eine selbstkritische Überprüfung der bisherigen Politik nötig macht. Aber die von Athen verlangte Konsolidierung ist keinesfalls so einzigartig radikal wie behauptet. Andere Länder hatten ähnliches durchstehen müssen und haben gleichwohl zum Wachstum zurückgefunden. Es ist ja nicht so, dass eine ganze Gesellschaft in die Knechtschaft getrieben, eine Volkswirtschaft kaputtgespart wird. Vielmehr lag und liegt es an Athen selber, die Konsolidierungslasten zu verteilen. Und dabei fällt auf, dass erst jetzt damit begonnen wird, Superreiche und Steuerflüchtlinge zur Finanzierung heranzuziehen. Naivität? Oder Absicht?

In der Austeritätsdebatte wird zudem schnell vergessen, dass Griechenland sich Ende 2009 in einer Lage befand, in der die Konsolidierung unausweichlich war angesichts eines Budgetdefizits von 15 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Selbst wenn man die Zinsaufwendungen von damals herausrechnet, waren es noch 10 %. Das fehlende Geld musste ja von irgendwoher kommen. Internationale Kapitalanleger verweigerten sich. Mit den Rettungsprogrammen konnten die erforderlichen Anpassungen zumindest hinausgezögert werden, um sie sozial verträglicher zu gestalten. Zudem wird verkannt, dass von „Austerität“ schlicht keine Rede sein kann: Erst 2014 wurde unter Herausrechnung des Schuldendienstes ein winziger Primärüberschuss erzielt. Ist es schon Austerität, wenn ein Land das Defizit nur verringert?

Griechenland könnte ja den argentinischen Weg gehen, die Pleite erklären und den Schuldendienst einstellen, wie von Ökonomen gefordert. Vom Kapitalmarkt wäre es dann aber auf lange Sicht abgeschnitten. Und auf ausländische Hilfe könnte es nicht mehr hoffen. „Austerität“ wäre dann auf einen Schlag nötig – es sei denn, die nötigen Ausgaben würden von den Steuerzahlern anderer Länder finanziert. Schon die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte einst festgestellt: „Das Dumme am Sozialismus ist, dass einem immer das Geld der anderen ausgeht!“

Was treibt ökonomische Meinungsmacher dann dazu, eine notwendige Korrektur der griechischen Haushaltspolitik zu torpedieren? Wohl allein die Hoffnung, dass der Multiplikator der Staatsausgaben größer als „1“ ist und die Mehrausgaben sich damit über höhere Investitionen und mehr Konsum – also stärkeres Wachstum – mehr als bezahlt machen. Die Vergangenheit aber hat gezeigt, dass das nur unter besonderen Umständen möglich ist. Es gilt nicht für ein Land, das einfach über seine Verhältnisse gelebt hat. Was macht manche Ökonomen ferner so sicher, dass sich Wachstum bereits einstellt, ohne die Wirtschaft zunächst auf mehr Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen? Und woher nehmen sie ihren Glauben, dass das Land die höhere Schuldenlast in besseren Zeiten tatsächlich zurückzahlen wird? Griechenland hat zuletzt 1972 echte schwarze Zahlen geschrieben. Wie kann das Kalkül also aufgehen? Ohne äußeren Druck von Seiten der Anleger und staatlichen Geldgebern ist da nichts zu machen. Also bringen die Ökonomen nun die Geldpolitik in Stellung. Die Europäische Zentralbank wird als Staatsfinancier missbraucht. Das sei „moderne Geldpolitik“, heißt es. Neue gewaltige Risiken tun sich damit aber auf.

Manchen tonangebenden Ökonomen scheint eine gewisse Hybris zu eigen. Dabei haben sie schon bei der Finanzkrise versagt, als sie ihre Vorzeichen nicht sahen. Warum sollten sie jetzt besser liegen, da sie der Politik nun artig das argumentative Rüstzeug für mehr Staatsausgaben liefern? Und wo endet diese Entwicklung, wenn man einer solchen Schuldenökonomie frönt? Das Grundvertrauen in die Währung geht verloren, was eine neue Krise hervorrufen wird. Auch das dürfte die ökonomischen Meinungsmacher dann erneut kalt erwischen. Sie werden sich aber sofort wieder anbieten mit ihrer „Expertise“ beim Aufbau einer neuen Geldordnung.

Der geschenkte Boom

Eine Erfolgsmeldung vom Arbeitsmarkt jagt derzeit die nächste: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt unter die Schwelle von drei Millionen Personen. Seit 24 Jahren war sie im März nicht mehr so niedrig. Das dürfte das Wirtschaftswachstum weiter befeuern. Zumal die deutsche Konjunkturlokomotive nicht mehr allein vor sich hin dampft. Inzwischen stehen nämlich auch viele andere Volkswirtschaften in der Eurozone unter Dampf, was sich dort ebenfalls auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt: Die Arbeitslosenquote im Währungsraum ist auf das Niveau vom Mai 2012 gesunken. Noch eine Erfolgsmeldung, also.

Die Entwicklung macht Hoffnung, dass sich der Aufschwung im Währungsraum verfestigt, sich wieder Zukunftshoffnungen breitmachen und die lähmenden Abstiegsängste vertreiben. Denn die höhere Beschäftigung entlastet den Staat und die Sozialversicherungen, was die Konsolidierung erleichtert und Spielraum für Wachstumsinitiativen gibt. Von den heilsamen Wirkungen einer größeren Binnennachfrage durch mehr Beschäftigung und der eines besseren Investitionsklimas durch optimistischer gestimmte Marktakteure ganz zu schweigen.

Also alles eitel Sonnenschein? Mitnichten. Zum großen Teil fußen die heute gefeierten Erfolge in Deutschland und in der Eurozone nämlich auf Sonderentwicklungen, die keine Folge aktiven Handelns europäischer Regierungspolitik sind, sondern eher einem Glücksfall gleichen. Da sind die gesunkenen Benzinpreise, die wie ein fremdfinanziertes Konjunkturprogramm wirken. Diese Entwicklung ist rein geopolitischer Natur. Der Impuls lässt inzwischen auch nach. Und der durch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank künstlich geschwächte Euro, der den Export beflügelt, ruft allenfalls einen Strohfeuereffekt hervor. Dieser hält nur so lange an, wie sich die anderen Währungsräume die Geldpolitik der EZB gefallen lassen und nicht selber nachziehen.

Zudem sollte zu denken geben, dass Deutschland trotz dieser günstigen Bedingungen offenbar nicht mehr als 2% Wachstum an den Tag legen kann, wie Ökonomen erwarten. Rechnet man die Sondereffekte dann heraus, wird schnell klar, dass es hierzulande schlicht an den nötigen Reformimpulsen fehlt, um die aktuelle Dynamik aufrechterhalten zu können. Anders sieht es da etwa in Spanien und Portugal aus. Sie haben die besten Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum, weil sie auch von den Reformen zehren, die sie seit 2011 umsetzen. Berlin sollte sich in seiner Reformpolitik an ihnen ein Beispiel nehmen.

Selbstgefälliges Deutschland

Die deutschen Unternehmen leben derzeit in der besten aller Welten: Ihre Exportgüter werden ihnen auf den Weltmärkten förmlich aus den Händen gerissen. Zugleich rennen ihnen die Konsumenten im Heimatmarkt die Bude ein. Kein Wunder, dass die Unternehmensstimmung hierzulande so blendend ist, wie das jetzt das Ifo-Institut in seiner neuesten Umfrage zum Geschäftsklima festgestellt hat. Die Wirtschaft expandiert und auch die Wachstumsaussichten für die nächsten Monate werden in rosigen Farben geschildert. Zumal sich die wegen der Schuldenkrise bisher darniederliegenden Märkte in Europa ebenfalls erholen und sich auch da wieder Absatzchancen für deutsche Produkte auftun.

Allerdings ist der Aufschwung, über den sich die deutsche Wirtschaft derzeit so sehr freut, letztlich nur ein großer Glücksfall. Dass der Ölpreis so tief fällt, um wie ein Konjunkturprogramm zu wirken, ist letztlich dem Frackingboom in den USA sowie geopolitischen Umständen zu verdanken. Wird das dabei gesparte Geld nun nicht für Investitionen in Effizienztechnologien und zur Steigerung der Produktivität hergenommen, um für bald wieder höhere Energiepreise gewappnet zu sein, dürfte das Wehklagen später umso lauter zu hören sein. Die dann einhergehenden Wachstumsverluste könnten die heute bejubelten Wachstumsgewinne weit in den Schatten stellen.

Auch die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten ist nicht das Verdienst der heimischen Industrie, sondern vor allem Resultat der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich damit – nebenbei bemerkt – das Risiko eines Währungskrieges einhandelt und den Boden für neue Finanzkrisen bereitet. Denn die Geldflut der Notenbank schwächt den Euro-Kurs und senkt die Zinsen teilweise bis unter die Nulllinie. Das erhöht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit aller Euro-Exporteure ohne deren Zutun. Und auch der Konsumboom ist ein Reflex darauf, weil das Ersparte kaum mehr Zinsen abwirft und deshalb gleich verausgabt wird. Dass mit dieser Politik aber auch die Altersvorsorge erodiert, was viele Menschen später einmal hart treffen wird, gerät dabei leicht in Vergessenheit.

Obendrein verführt die phänomenale Konjunkturstimmung zu Selbstgefälligkeit. Das gilt für die Politik, welche die Steuermehreinnahmen noch immer zu wenig in investive Projekte steckt und eher konsumtiven und sozialen Ausgaben huldigt. Strukturreformen werden ebenfalls hintangestellt – sie scheinen derzeit ja nicht nötig. Und auch die Unternehmen nutzen die guten Zeiten zu wenig für Investitionen in die Zukunft des Standorts. Die Etats dafür legen zwar etwas zu, das wird dem über Jahre aufgestauten Nachholbedarf aber nicht gerecht. Erneut wird eine Chance vertan. Dabei ist klar: Geht man Reformen und Investitionen zu spät an, wird es umso schmerzlicher. Die Mühen bei der Umsetzung der Agenda 2010 haben es gezeigt.

(erschienen in: Börsen-Zeitung, 26.3.2015)

Eurozone: Freiwilligkeit funktioniert nicht

Die aktuelle Debatte über die Nichteinhaltung von Reformvereinbarungen durch Griechenland zeigt erneut: Freiwillig unterzieht sich keine Regierung harten Strukturreformen, um ihr Land wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das war schon in Deutschland so, als die heimische Volkswirtschaft noch die „rote Laterne“ der Gemeinschaft in der Hand hielt. Unser Land galt als Abstiegskandidat. Die Arbeitslosigkeit erreichte schwindelerregende Höhen, das Haushaltsdefizit war kaum zu bändigen. Erst dieser Druck hatte die Bundesregierung 2003 zu den Reformen der „Agenda 2010“ genötigt. Die Widerstände in der Öffentlichkeit – auf der Straße und in den Medien – waren gewaltig, konnten jedoch überwunden werden. Ergebnis: Deutschland kann wieder passables Wachstum vorweisen, die Arbeitslosigkeit wurde zurückgedrängt, der Staatshaushalt ausgeglichen, die Schuldenquote sinkt.

Solidarität und Solidität

Freiwillig werden auch anderswo in der Eurozone keine Reformen durchgezogen: Entweder wird der Druck von Seiten der Märkte zu groß, welcher die Verschuldungskosten nach oben treibt und so die Regierung auf Reformkurs zwingt. Oder von Seiten der anderen Euro-Staaten wird Druck ausgeübt, weil sie Finanzhilfen nur unter der Bedingung fester Reformzusagen gewähren. Diese Konditionalität hat sich in der Eurozone als praktikabel und im Hinblick auf Spanien und Portugal sogar als durchaus erfolgreich erwiesen. Zwar ist den Euro-Staaten der finanzielle Beistand laut EU-Verträgen eigentlich verboten, doch die Aussicht auf Reformen und auf eine stabilere Währungsunion hat den Rechtsbruch in großen Teilen der Öffentlichkeit tolerierbar erscheinen lassen. Zudem scheint damit auch die immer wieder eingeforderte Solidarität mit der erstrebten Solidität auf beste Weise zu verschmelzen.

Voraussetzung ist aber, dass die betroffenen Länder sich auch tatsächlich an die Absprachen halten und die angedrohten Sanktionen im Falle des Zuwiderhandelns tatsächlich verhängt werden. Das scheint in der Eurozone nicht gewährleistet zu sein, was wiederum einzelne Länder herausfordert, die Grenzen auszutesten. Italien etwa, das nie ernsthafte Sanktionen zu befürchten hatte, weil der Stabilitätspakt in der Praxis ein stumpfes Schwert geworden ist und das Land bislang auch keine direkten Finanzhilfen in Anspruch nehmen musste, hat über Jahre immer wieder Reformversprechen abgegeben, um mehr Bewegungsspielraum bei der Aufstellung des Haushalts zu bekommen. Doch den Ankündigungen sind bislang nur wenige Taten gefolgt. Und auch Frankreich hat es zu einer wahren Meisterschaft in Verschleppungstaktik gebracht: Die geforderte Einhaltung des Defizitziels wurde stets erneut in die Zukunft verlagert. Dass angesichts solcher Nonchalance die Währungsunion bis heute gehalten hat, grenzt schon an ein Wunder. Denn derlei Verhalten sorgt für Misstrauen und Ärger, die sich anstauen und die Gemeinschaft über die Zeit zum Platzen bringen können.

Troika ausgebootet

Nun könnte das Beispiel Griechenland diesen Prozess noch beschleunigen. Denn am Wohlverhalten der Athener Regierungen waren schon immer Zweifel angebracht. Viele der fest vereinbarten Reformen wurden entweder nur in verwässerter Form durch das Parlament gebracht, oder sie sind im Verwaltungsapparat stecken geblieben. Angesichts von Finanzhilfen geradezu biblischen Ausmaßes hatte man die Troika als unbestechliche Kontrollinstanz eingesetzt, bestehend aus den Kapitalgebern EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) sowie der Europäischen Zentralbank (EZB). Letztere hat über ihre Geldpolitik ebenfalls großes Interesse an einer Stabilisierung des Landes. Doch selbst unter der Troika kamen die Reformen nur schleppend voran. Die Regierung verteilte die geforderten Kürzungen zudem einseitig auf die Normalbürger, so dass sich deren Hass nun auf Brüssel und Berlin richtet.

Dass es nach dem Ausbooten der Troika in Griechenland jetzt besser laufen könnte, ja sogar von einem Neuanfang die Rede ist, glaubt am Ende wohl selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht. Athen würde die neue Bewegungsfreiheit eines wie immer gearteten Kompromisses nur zu neuen Exzessen ausnutzen, wie die ersten Reformrücknahmen der neuen Regierung bereits erahnen lassen.

Damit die Athener Regierung ihr Modell eines Staatssozialismus umsetzen kann, müsste der Regierung aber die Zentralbank willfährig sein. Denn ohne weitere EU-Finanzhilfe wären die Ausgabenwünsche nur noch mit der Notenpresse erfüllbar. Am Verhalten der EZB in diesen Tagen wird sich deshalb zeigen, wie unabhängig die Notenbank tatsächlich noch ist und inwieweit sie sich bereits als Erfüllungsgehilfe der Staaten sieht, wenn sie über die monetäre Finanzierung der griechischen Banken zu entscheiden hat. Unabhängig davon ist dies auch ein Lackmustest dafür, ob die Konditionalität von Finanzhilfe gegen Reformen überhaupt noch gilt. Wird das aufgekündigt, hätten sich die Grundlagen der Währungsunion verflüchtigt.