Kommentar

Digitaler Imperialismus

Von Stephan Lorz

Google, Apple, Facebook und Amazon durchdringen immer mehr Schichten der Wirtschaft und legen sich zwischen Konsument und Hersteller. Dass die Google-Tochter Wymo, die das autonome Fahren erforscht, nun an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel die Internationale Autoausstellung in Frankfurt eröffnen durfte, ist ein untrügliches Zeichen, dass die etablierten Hersteller immer weiter in den Hintergrund gedrückt werden. Die US-Digitalkonzerne übernehmen das Steuer. Auch in der Unterhaltungsindustrie, im Handel, selbst in der Finanzindustrie und sogar der Geldpolitik (Stichwort: Libra) geht das in diese Richtung. Erst jetzt wachen die Kartellwächter auf — in den USA, aber langsam auch in Europa. Wie konnte es so weit kommen?

Man stelle sich vor: der Burda-Verlag hätte es vor Jahren darauf angelegt zu einem deutschlandweiten Nachrichtennetzwerk zu werden und sich dabei immer mehr andere Nachrichten- und Blogseiten einverleibt. Hätte das Kartellamt dabei stillgehalten? Wohl kaum! Bei verschiedenen kleineren M&A-Vorhaben in der Branche hatte sich das ja immer wieder gezeigt. Oder der Versandhändler Quelle hätte seinerzeit einen europaweiten digitalen Marktplatz aufgezogen, wo er zudem geduldet hätte, dass es manche Händler mit Zöllen, Steuern und Markenrechten nicht so genau nehmen. Die Entrüstung wäre riesengroß gewesen, die Politik hätte sich eingeschaltet. Und neben dem Kartellamt wären auch sofort Zoll- und Steuerbehörden tätig geworden. Ermittlungen, Anklagen, einstweilige Verfügungen. Oder man halte sich vor Augen, die Deutsche Schufa hätte ihre Datensammelaktivitäten schon vor Jahren auf jegliche Adressen ausgeweitet; oder die Telekom hätte sich als machtvoller Anbieter und Suchmaschinenbetreiber etabliert und obendrein in jedem Haushalt ihre Internet- und WLan-Box so verändert, dass sie auch Sprachbefehle entgegennimmt für Bestellungen und Serviceanfragen. Und obendrein wären die aufgefangenen Audiofiles von Heimarbeitern von zu Hause auf Verwertbares durchforstet worden — natürlich nur um den Algorithmus zu verbessern. Nicht auszudenken! Längst wäre die Regulierungsbehörde aktiv geworden, hätten die Datenschutzbehörden eingegriffen. Von Entbündelung und Beschränkungen wäre die Rede gewesen. Oder die einst stolze Deutsche Bank hätte sich vor Jahren erdreistet, aus Zweifel an der Stabilität des Euro eine digitale Bündelwährung zu emittieren aus Dollar, Yuan, Pfund und Rubel …

Machen das aber amerikanische Digitalkonzerne, fehlt es am öffentlichen Aufschrei oder weitgehend an behördlichen Eingriffen — allenfalls kommen sie verzögert, abgeschwächt, hadernd, geradezu entschuldigend, dass man sich hierzu erdreistet. Die Beißhemmung ist offensichtlich. Zumal manche gesellschaftliche Gruppierungen das Verhalten der Digitalkonzerne sogar noch gegen alle Regulierungsversuche verteidigen, weil sie diese Unternehmen als Hort der digitalen Freiheit hochstilisieren, während sie den Behörden und Institutionen des demokratischen Staates nur Missgunst und Obstruktion unterstellen. Eine Haltung, die sich vielleicht auch daraus speist, weil die US-Konzerne ihre Dienste (zumindest auf den ersten Blick) weitgehend kostenfrei anbieten. Geiz ist eben geil, er vernebelt die Sinne in freiheitlichen Demokratien und lässt die Menschen falschen Propheten hinterherlaufen.

Wann begreifen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich, dass sie hier nicht altruistisch motivierten Digitalkonzerne in die Hände spielen, sondern Freiheit und Wettbewerb, ja die Zukunft der europäischen Gesellschaften aufs Spiel setzen. Denn derzeit ist eine tektonische Verschiebung im Hinblick auf Macht und Deutungshoheit in unserer Gesellschaft im Gange — was auch auf die Verteilung der Chancen und künftigen Profite durchschlägt?

Zu lange wurden Google, Facebook & Co. das Spielfeld überlassen. Zunächst mit dem Argument, den neuen (Internet-)Markt nicht von Anfang an kaputt regulieren und Innovationen nicht gleich ersticken zu wollen. Als die Big-Tech sich dann immer mehr kleinere Wettbewerber einverleibten und zu kritischer Größe herangewachsen waren, hatte man notwendige Eingriffe unterlassen — wieder im Vertrauen darauf, dass der Wettbewerb schon für die Einhegung sorgen und verhindern wird, dass sie zu oligopoler Größe heranwachsen. Schließlich sei ja auch von den einstigen Größen AOL, Compuserve oder Netscape keine Rede mehr, wurde etwa argumentiert.

Erst als die Digitalkonzerne dann begannen, sich sogar über die nationalen Rechtssysteme hinwegzusetzen etwa beim Umgang mit Hassreden und dem Datenschutz, sich zudem die internationale Fragmentierung des Steuersystems zunutze machten, wachten die staatlichen Akteure auf. Doch die Skepsis unter Ökonomen und Internetaktivisten gegen jegliche Regulierung ist nach wie vor groß. Erst in jüngster Zeit setzte bei den tonangebenden liberalen Wettbewerbspolitikern ein Umdenken ein. Doch inzwischen ist es den Digitalmächten ein Leichtes, die politische Meinungsbildung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie schieben vor, die Freiheit im Internet zu verteidigen und agitierten zuletzt etwa gegen die Datenschutzgrundverordnung oder die neuen Urheberrechtsgesetze — und wissen dabei die jungen Menschen auf ihrer Seite, denen vorgegaukelt wird, dass ihnen die Politik das kostenfreie Internet kaputtmachen will.

Letztlich ist es die Geschichte einer ökonomischen Machtübernahme. Das Laissez Faire einer freiheitlichen Marktwirtschaft wird ausgenutzt zur Etablierung der eigenen Machtposition. Die Digitalkonzerne hatten erkannt, dass sie in der Übergangszeit zwischen analoger und digitaler Wirtschaft und Gesellschaft eine einzigartige Chance haben, das Koordinatensystem in Politik und Wirtschaft zu ihren Gunsten zu verändern. Denn mit der Digitalisierung organisiert sich auch die ökonomische und politische Basis neu. Abhängigkeiten, Machtzentren, sozioökonomische Wechselwirkungen und politische Kräfteverhältnisse verschwinden, entstehen anderswo neu — obendrein sind viele Mechanismen und Wechselwirkungen nicht von Anfang an gleich erkennbar, da sich alles irgendwie in Veränderung befindet. Der Überblick und die strukturelle Ordnung gehen verloren. Sogar Begrifflichkeiten wie „Freiheit“ (des Andersdenkenden?) und „Freunde“ (Gefällt mir!) und „Recht“ (wessen Regeln?) bekommen neue Facetten oder werden umdefiniert. Das macht es leicht, im Wind des Innovationstreibers, des Verteidigers der Redefreiheit und des zurückgezogenen Dienstleisters (man stellt ja nur Netzwerke und Plattformen zur Verfügung, ist nicht für deren Inhalte verantwortlich) zu kritischer Größe heranzuwachsen und die obwaltenden Netzwerkeffekte für sich arbeiten zu lassen.

Mit der ökonomischen Umgestaltung kommt zudem ein Faktor hinzu, der die Machtposition der Digitalkonzerne nahezu uneinnehmbar macht. Denn die Digitalisierung der Wirtschaft ermöglicht es ihnen, sich als eine Art Betriebssystem überall dazwischen zu schieben: Nicht nur zwischen Kunden und Händler/Hersteller (Amazon/Händler, Facebook/Verlage, Google/Auto), sondern auch auf jeder Produktionsstufe, sofern die Unternehmen nur bereit sind, die kostenlosen Angebote diverser Tools annehmen. Obendrein drängen viele Kunden der (analogen) Produkte massiv darauf, die gewohnte digitale Umgebung von Google oder Apple auch auf den Displays in den Autos, auf den Haushaltsgeräten oder Uhren nutzen zu können. Die Daten, die aus dieser “Verbindung” gewonnen werden, sind unvergleichbar wertvoll und machen die etablierten Unternehmen abhängig von den Launen und dem Geschäftsgebaren der Digitalkonzerne.

Und nun Facebooks Idee einer eigenen globalen Digitalwährung: dem Libra! Zum Glück, möchte man sagen, kommt sie womöglich zu früh, und zeigt die ganze Hybris des Konzerns, der sich vielfach nicht nur über dem (nationalen) Recht fühlt, sondern sogar als Globalmacht versteht. Die eigene Währung — selbst, wenn sie nur in Operettenstaaten und in Schwellenländern erfolgreich wäre — würde dem Konzern enorme Macht verleihen und Datenmaterial in einer Größenordnung liefern, das die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und von Instrumenten der sozialen Beeinflussung nach vorne katapultieren würde. Dem könnten viele demokratische Gesellschaften dann nicht mehr viel entgegensetzen. Erst vor einiger Zeit wurden Pläne diskutiert, ob die großen Digitalkonzerne sich womöglich ganz von der schnöden traditionellen Politik und Gesellschaft freimachen könnten, wenn sie ihr Hauptquartier auf internationalen Hoheitsgewässern schwimmen lassen oder in die Tiefsee verfrachten würden.

Die Libra-Idee führt vor Augen, wie sich die Digitalkonzerne womöglich selbst sehen: als neuer Hegemon in einer pluralen und multipolaren Welt, deren Einzelstaaten und Staatenbünde sich angesichts globaler Herausforderungen selbst im Wege stehen. Weltkonzerne haben es da leichter, weil sie sich nicht ständig vor dem Souverän rechtfertigen müssen. Der “Interessenausgleich” erfolgt in Form eines Vorstandsbeschlusses. Und sie haben auch nur ein Ziel: nachhaltig Gewinne erwirtschaften! Und diesem Ziel wird alles untergeordnet.

Es wird Zeit, dass Deutschland und Europa ernsthaft und mit der nötigen Chuzpe darüber diskutiert, wie sie mit den Digitalkonzernen verfährt, wie sie diese behandelt, mit den dort geschürften Daten umgeht und wie sie das analoge Rechtssystem auf die virtuelle Welt überträgt. Denn die analogen Regeln sollten eigentlich auch in der digitalen Welt gelten. Alle digitalen Entscheidungen und Verhaltensweisen entfalten schließlich auch ihre Wirkung in der realen Welt, betreffen Menschen und deren unveräußerlichen Rechte. Nur die Formen der Eingriffe müssen angepasst werden. Hier sind auch die Digitalaktivisten, Juristen und Ökonomen in der Verantwortung, zusammen mit der Politik nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Denn es geht um nichts weniger als die Modernisierung des Gesellschaftsvertrags.

Hier könnte, ja hier muss Europa vorangehen, weil es die Kunst des Kompromisses im komplexen Beziehungsgeflecht europäischer Parteienfamilien, Staaten und Kulturen über viele Jahre geübt hat — und die Mitgliedsländer trotz immer neuer Herausforderungen letztlich parlamentarische Demokratien und freiheitliche Marktwirtschaften geblieben sind. Und eine ganzheitliche Sicht der Dinge ist auch die einzige Möglichkeit, um den Hegemonialinteressen der großen Digitalkonzerne entgegenzutreten ohne das Klima in der Internetgesellschaft zu vergiften. Dann erscheint sogar eine Zerschlagung der großen Konzerne möglich wie seinerzeit bei AT&T — oder die Zwangsöffnung für weitere Anbieter (wie im Telekommunikationsmarkt). Angesichts jüngster kartellpolitischer Entwicklungen in den USA scheint ja diesbezüglich schon ein Umdenken stattzufinden.

Ende der alten Ordnung

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die sozialen Medien und die Globalisierungsdebatte – Twitter, Facebook & Co. geben den Ton an

„Wenn das Gefühl stark ist, kommst du mit Fakten nicht mehr durch“, bemerkte einst der Psychoanalytiker und Philosoph Horst-Eberhard Richter. Nirgends lässt sich das besser beobachten als in den sozialen Medien, wo Twitter seinen Nutzern auf 280 Zeichen (vorher 140) allenfalls kurze Meinungsäußerungen erlaubt. Differenzierung und das Abwägen von Fakten sind unmöglich. Mit „Hashtags“ werden Beiträge zudem gebündelt und zugeordnet, womit sich schnell ein Spin in Debatten bringen lässt. Zugleich spielen automatisch generierte Meinungsmaschinen, „Social Bots“, eine Öffentlichkeit vor, die es nicht gibt. Lange Zeit wurde die politische Macht der sozialen Medien verkannt. Erst mit der Brexit-Abstimmung und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten richtete sich der Fokus auf sie, da Propaganda und Manipulationen beide Male eine große Rolle spielten.

"Contra TTIP" erfolgreich

Auch die Freihandelsdebatte ist durch Twitter & Co. entscheidend beeinflusst worden, wie das Europäische Journalismus Observatorium (EJO) in Dortmund zeigt. Gleich zu Beginn der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) drehten NGOs wie Attac, WikiLeaks, Greenpeace, Lobbycontrol und Campact die Debatte „contra TTIP“. Das EJO spricht von „affektiven Nachrichtenströmen“ und von kollaborativen, unkoordinierten Prozessen. Die Medienwirksamkeit ist enorm angesichts dessen, dass allein Twitter wöchentlich etwa 1,8 Millionen aktive Nutzer in Deutschland aufweist (Facebook: 20,5, Instagram 5,6 Millionen).

Ausgewogene Inhalte in der Freihandelsdebatte, kritisiert das EJO, seien geradezu marginalisiert worden und gegen die Übermacht der Antistimmung nicht angekommen. Und da viele Journalisten auf Twitter aktiv sind, hatte dies auch Rückwirkungen auf die Tonlage in der klassischen Berichterstattung – ein Multiplikatoreffekt par excellence.

Digitale Öffentlichkeit

Wie sehr die sozialen Medien bisweilen die Meinungsmacht übernehmen, zeigten zuletzt auch die Proteste der „Gelbwesten“ in Frankreich – ein Aufstand ohne Führungspersönlichkeit, allein geleitet durch Koordination und Verstärkungseffekte über die sozialen Medien.

Schnell kann sich in den klaustrophoben Filterblasen im Netz eine Wut zu allerlei Themen aufbauen. Dort befindet man sich unter Seinesgleichen, bestätigt sich gegenseitig, stachelt sich auf, kapselt sich ab von „störenden“ Informationen. Digitalpublizist Sascha Lobo spricht vom Medien-Nihilismus: nichts glauben, nichts sehen, die Verneinung von Erkenntnismöglichkeit, die Unterstellung, alles sei manipuliert. In einem solchen Klima des Misstrauens ist der klassische öffentliche Diskurs unmöglich, können Minderheiten den Ton angeben und demokratische Entscheidungen kippen.

An wen können sich Politik und Wirtschaft denn noch wenden, wenn ihre Glaubwürdigkeit von vornherein angezweifelt wird und Fakten nicht mehr anerkannt werden? Wie lassen sich größere politische Projekte überhaupt noch durchsetzen, wenn „Wutbürger“ über soziale Medien die Wahrnehmung des ganzen Meinungsspektrums verzerren? Das, was man einmal „Öffentlichkeit“ genannt hat, braucht ein Update. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen den Diskurs neu aufsetzen, etwa auch dadurch, dass man Social Bots als solche kennzeichnet.

Kampf gegen die Hydra

Für Berlin ist es wie beim Kampf gegen das Sagenmonster Hydra: „Sie schlagen Köpfe ab, und es wachsen neue Köpfe nach“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert nach den Veröffentlichungen der Paradise Papers, die aggressive Steuergestaltungsmodelle von Unternehmen und Einzelpersonen aufgedeckt haben. Entgegen dem Eindruck, den die öffentliche Empörung vermittelt, sind diese Modelle indes weitgehend legal, allenfalls illegitim. Gleichwohl muss Berlin handeln: Zum einen, weil dadurch Milliarden an Steuereinnahmen verloren gehen, zum anderen, weil normale Steuerzahler zunehmend das Gefühl beschleicht, dass es beim Fiskus unfair zugeht. Und wenn wegen der schwierigen Besteuerung mobilen Kapitals die immobilen Faktoren wie Arbeit noch stärker belastet werden, schwindet die Akzeptanz des Steuersystems noch schneller.

In den vergangenen Jahren war die Politik im Kampf gegen Steuergestaltung deshalb nicht untätig. Im Oktober startete der automatische Finanz-Informationsaustausch. Seit Juni ist das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung rechtskräftig. Es gibt Maßnahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Beps), seit Dezember 2016 den automatischen Informationsaustausch über Tax-Rulings. Und bald kommt das Country-by-Country-Reporting. Bedenklich stimmt indes, dass Berlin nach wie vor regelrechte Steueroasen wie die Isle of Man, die Kanalinseln oder Malta duldet. Dabei müsste Deutschland eigentlich darauf dringen, dass in Europa strengere Regeln nicht bloß für Drittstaaten, sondern auch für EU-Länder gelten, damit sie keine Steuerparadiese mehr sein können.

Was bremst Berlin? Neben europäischer Rücksichtnahme sind das zum einen die eigenen Interessen. Denn viele deutsche Konzerne machen einen großen Teil ihres Geschäfts im Ausland, bezahlen aber den Löwenanteil ihrer Steuern hierzulande. Andernorts nutzen die heimischen Unternehmen Steuerlücken natürlich ebenso, wissen um den Einsatz von Verrechnungspreisen und Lizenzgebühren. Das sichert ihnen die Wettbewerbsfähigkeit. Zum anderen kann der Missbrauch nicht ganz unterbunden werden, weil die Marktfreiheit, immerhin ein konstitutives Element unserer Verfassung, dann weiter beschränkt werden müsste.

Weitere Reparaturen am bestehenden System machen alles aber noch komplizierter und unberechenbarer, was wieder neue Steuerlücken eröffnet. Hinzukommt die Digitalisierung, welche die traditionellen Ansatzpunkte der Besteuerung auflöst. Nachdem bisherigen Besteuerungsprinzip bezahlt ein Konzern die Steuern dort, wo er seine Wertschöpfung generiert. Das ist schon in der analogen Wirtschaft schwer zu verorten, in der digitalen Sphäre aber schier unmöglich. Wo entsteht die Wertschöpfung? Im Kopf der Programmierer im Silicon Valley? Oder dort, wo die Rechner stehen – falls sie überhaupt einen Ort haben? Oder sind es erst die Inputdaten der Kunden, die nutzbar gemacht werden?

Es ist daher Zeit für einen neuen Ansatz: Warum nicht zu einer mehr umsatzbasierten Besteuerung wechseln, die Güter und Dienstleistungen dort besteuert, wo sie verkauft werden, wo also die Kunden sind? Dann schrumpfen die Möglichkeiten zur Steuerminimierung. Anders als Gewinne lassen sich Menschen nämlich nicht beliebig hin- und herschieben. Im Frühjahr wurde diese Idee in den USA schon einmal ventiliert – allerdings mit dem Ziel, die heimische Industrie zu bevorzugen und sich so Exportvorteile zu verschaffen. Deshalb gab es hierzulande einen großen Aufschrei. Jenseits dieser Intention hat die Überlegung aber durchaus Charme. Und anders als bei einer zusätzlichen Mehrwertsteuer dürften Unternehmen bei einer betrieblichen Destination-based Cash-flow-Tax (DBCT) Löhne und Investitionen steuerlich geltend machen.

Mit seinen Vorschlägen einer umsatzbasierten Ausgleichssteuer für Digitalkonzerne geht Brüssel ohnehin schon in diese Richtung. Auch über eine Modernisierung der Definition für „Betriebsstätten“ wird dort nachgedacht. Dadurch kommt man ebenfalls einer verbrauchsorientierten Steuer näher. Statt also weiter Verschärfungen und Anpassungen am alten Steuersystem vorzunehmen, wäre es besser, über dessen Grundmodernisierung zu diskutieren. Knapp 100 Jahre nach den Erzbergerschen Steuerreformen, die heute noch überall durchwirken, ist diese Diskussion längst überfällig. Bloß ist weit und breit in der Politik niemand auszumachen, der systematisch über Soli, Reichen-, Erbschaft- und Vermögensteuer hinausdenkt.

Deutsche Doppelmoral?

Die deutsche Öffentlichkeit orakelt bereits über einen staatlichen „Rettungsplan“ für die Deutsche Bank, obwohl eigentlich die Bail-in-Regelung gilt.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte sich immer gewahr sein, dass drei Finger seiner Hand auf ihn selbst weisen. Im Falle der Bail-in-Problematik ist das von besonderer Bedeutung, weil die deutsche Politik und Öffentlichkeit mit Blick auf die Bankenschieflagen in Italien immer darauf gedrungen hat, sich strikt an die vereinbarten Regeln zu halten. Diese sehen zunächst ein Bail-in von Aktionären, Gläubigern und Sparern vor; sie müssen also zunächst Verluste hinnehmen, bevor die Institute mit Staatshilfen gerettet und gegebenenfalls abgewickelt werden dürfen.

Italiens Staatschef Matteo Renzi hat sich immer gegen diese Vorgehensweise gewehrt und die Haltung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dahingehend aufs Schärfste kritisiert. Die Bail-in-Regeln seien, so kann man seine Argumente zusammenfassen, realitätsfern und würden die Lage der Banken eher noch verschlimmern, zudem die Finanzstabilität gefährden und die Volkswirtschaft insgesamt schädigen. Schützenhilfe bekam Renzi zuletzt von einigen anderen Staatschefs und von Ökonomen wie dem deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger.

Nun, da auf einmal die Deutsche Bank im Feuer steht, in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt ist, einige Beobachter sie sogar schon in einer existenzbedrohenden Schieflage verorten, kamen jedoch auch hierzulande verdächtig schnell Rufe nach Staatshilfe auf. Natürlich nicht in Form konkreter Forderungen, sondern in Meldungen verkleidet, Bundesregierung und Deutsche Bank würden an einem „Rettungsplan“ arbeiten.

Die Deutsche Bank steht enorm unter Druck, nachdem bekannt geworden war, dass in den USA eine Strafzahlung von mehr als 14 Mrd. Dollar (12,5 Mrd. Euro) drohen könnte. Ihr Aktienkurs sackte dramatisch ab. Sowohl die Bundesregierung als auch die Bank dementierten sogleich, dass es dahingehende Gespräche gegeben habe. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte, dass die Bank das wohl allein schaffen werde. Eine solche Formulierung lässt indes Interpretationsspielraum offen.

Ganz abgesehen davon, dass von einer existenzbedrohenden Krise der Deutschen Bank bisher wohl noch nicht die Rede sein kann. Der Finanzkonzern erfüllt offenbar alle regulatorisch nötigen Sicherheitsmargen und ist auch aus den diversen Stresstests einigermaßen stabil hervorgekommen. In höchstem Maße irritierend, wenn nicht sogar demaskierend, ist aber, dass gerade in Deutschland im Falle einer sich womöglich anbahnenden neuen Bankenkrise der Reflex der öffentlichen Meinung sogleich in Richtung Staatshilfen oder Verstaatlichung geht. Von einer zunächst vorgeschalteten Bail-in-Kaskade ist gar keine Rede mehr.

Gerade von den Deutschen, die diese Regelung bisher stets verteidigt haben, weil sie verhindert, dass die Banken leichtfertig Hilfen durch die Steuerzahler einpreisen können, und dadurch auch vorsichtiger agieren müssen, hätte man eigentlich eine andere Haltung erwartet. Ist der Bail-in also tatsächlich so „realitätsfern“, wie die Italiener behaupten, weil Politik und Gesellschaften eben anders ticken?

Schnell bei der Hand ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass die USA nach der Finanzkrise einen anderen Weg eingeschlagen haben: Der Staat hat den Banken Staatshilfen aufgezwungen, sie dadurch unmittelbar stabilisiert, was sie offenbar schneller gesunden ließ. Und der Fiskus konnte später obendrein mit Gewinn wieder aussteigen. Ist das tatsächlich ein besseres Konzept als der Bail-in, für den sich Europa entschieden hat und der auf so viele Widerstände stößt?

Mirakel oder Mentekel?

Das Versagen der EU im Umgang mit der Flüchtlingskrise, aber auch die Blauäugigkeit der Berliner Regierung sowie die menschenunwürdige nationalistisch geprägt strikte Verweigerungshaltung vieler europäischer Staaten beschwören größere Gefahren herauf, als die akuten fiskalischen und organisatorischen Probleme an den Tag legen.

Noch vor kurzem ging in den Debatten über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland die Sorge vor der demografischen Lücke um: Ein Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren wurde beklagt, ganze Regionen bereiteten sich auf die Entleerung von Stadtvierteln vor, Ökonomen warnten vor den dramatischen Kosten der Alterung. Plötzlich, mit dem Anschwellen des Flüchtlingsstroms, scheint das Thema wie weggeschwemmt. Im laufenden Jahr sollen rund eine Million Menschen Asylanträge stellen, erwartet die Bundesregierung. Würde man die alle aufnehmen, so das Kalkül, wäre das Demografieproblem gelöst. Daimler-Chef Dieter Zetsche prophezeit gar ein „neues Wirtschaftswunder“ durch die einströmenden „hochmotivierten“ Flüchtlinge.

Rein von den Zahlen her stimmt die Argumentation sogar. Deutschland braucht jährlich 700.000 Immigranten, um die Schrumpfung der Bevölkerung zu stoppen, hat die UN ausgerechnet. Doch setzen die Ökonomen dabei voraus, dass der überwiegende Teil zügig integriert wird und einen Job findet. Manche Studien — wie die der EU-Kommission — unterstellen sogar in manchen Szenarien, dass die Bildungsstruktur der Flüchtlinge etwa die der Bundesbürger entspricht, was entsprechend günstige Wachstumsperspektiven eröffnet. Auch diverse Bankenvolkswirte geben sich in diesem Zusammenhang regelrecht euphorisch. Kritiker und Skeptiker von derlei Prognosen und Projektionen werden nach dem Motto „Wir schaffen das!“ bestenfalls als Grantler oder notorische Pessimisten beschrieben, schlimmstenfalls als Populisten und Nationalisten vom rechten Rand gebrandmarkt.

Die Erfahrungen bei der Einbeziehung ausländischer Mitbürger in die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft zeigen indes, dass es just an der vielfach unterstellten gelungenen Integration hapert. Natürlich kann — und muss! — man es künftig besser machen, zügiger, konsequenter. Ob das aber gelingt, ist nicht ansatzweise abzuschätzen. Auch die Beschäftigungsquote, die Voraussetzung dafür, dass sich der Zustrom auch für die deutsche Gesellschaft insgesamt positiv auswirkt, ist bei Migranten bislang selbst Jahre später dramatisch niedriger als die von Inländern. Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge erhalten nur 8% der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter im Zuzugsjahr eine Beschäftigung, nach 5 Jahren sind es 50%, nach 10 Jahren 60%. Und selbst nach zehn Jahren ist die Beschäftigungsquote der Flüchtlinge noch erheblich niedriger als die anderer Migrantengruppen. Das kann man ändern, sicherlich — und muss es auch. Entscheidungen sind gefordert, die bislang aber noch nicht einmal ansatzweise getroffen worden sind. Und es wäre verantwortungslos, sich den mit dieser Entwicklung einhergehenden gesellschaftlichen Folgewirkungen zu verschließen, die sich in Ressentiments ausdrücken, in Abstiegs- und Ausgrenzungsängsten, in der Furcht zu kurz zu kommen.

Wir müssen uns klar sein: Auf absehbare Zeit findet die Einwanderung eher in die Transfersysteme statt, was die Staatsausgaben aufbläht und die Sozialbeiträge steigen lässt. Das wird — keine Frage — die Lohnkosten in die Höhe treiben und Jobs kosten. Es werden Verdrängungseffekte auf dem Mietmarkt zu beobachten sein, und ein verschärfter (Lohn-)Wettbewerb im Niedriglohnbereich. Demografen zweifeln zudem daran, dass die Bevölkerungsentwicklung durch den Flüchtlingsstrom so schnell ins Positive gedreht werden kann. Allenfalls von einer Abmilderung der negativen Effekte ist die Rede. Und sollten sich die Flüchtlinge dann sogar soweit integrieren, dass sie sich selbst dem deutschen Fertilitätsniveau annähern, wäre nichts gewonnen — nur alles verzögert.

Es sind also nicht wirtschaftliche Gründe, die eine Aufnahme der Flüchtlinge hilfsweise argumentativ nahelegen. Die braucht es aber auch gar nicht, weil es die humanitäre Pflicht demokratisch-freiheitlicher Staaten ist, den vor Krieg und politischer Verfolgung fliehenden Menschen zu helfen, ihnen Obdach und eine Perspektive zu geben! Das erfordert Management, Koordinierung, bisweilen Eindämmung und sanften Druck zur Anpassung, Geduld — und mannigfache Entscheidungen auch in Verantwortung für die heimische Bevölkerung. Denn letztere erfüllt die Rechts- und Wirtschaftsordnung erst mit Leben , durch ihren (Lohn-)Verzicht, ihre (Sozial-)Beiträge sowie ihre Steuergelder versetzt sie den Staat erst in die Lage, seiner humanitären Pflicht nachzukommen. Und das die Bevölkerung in vielerlei Hinsicht bereit ist, den Flüchtlingen zu helfen, haben auch die zahlreichen Menschen dokumentiert, die sich ehrenamtlich für das Wohl der verängstigten und entwurzelten Migranten einsetzen.

Gerade bei dieser zutiefst humanen Aufgabe aber fühlt sich Deutschland von der westlichen Staatengemeinschaft alleingelassen und angesichts der Dimension des Flüchtlingsstroms zunehmend überfordert. Und das kann weitaus dramatischere ökonomische Folgen haben, als in den akuten fiskalischen Zusatzkosten zum Ausdruck kommt: Viele unmittelbar von der Flüchtlingswelle betroffene und damit befasste Institutionen in Deutschland warnen vor einem Kontrollverlust, was oft Rassismus und Rechtsradikalismus nach sich zieht; und der Unwille der Nachbarländer zu einer europäischen Lösung, trägt neue Zwietracht in die EU, was an den Grundfesten der Gemeinschaft rüttelt. Innenpolitiker fordern eine Begrenzung des Zustroms, weil die Sozialsysteme keine uneingeschränkte Zuwanderung verkraften könnten.

Und so wendet sich der Blick nach Europa. Doch selbst die geplante Neuverteilung von 160.000 Migranten stockt; und manche Länder sperren sich ganz. Auch die jüngsten „Flüchtlingsgipfel“ und „Balkanroutentreffen“ haben allenfalls ein paar technische Anpassungen erbracht, um den Flüchtlingsdruck zu kanalisieren und besser verwalten zu können. Die Frage aber bleibt angesichts des offenbar noch lange nicht nachlassenden Migrationsdrucks: Müssen in einer solchen Situation, welche die Staatlichkeit einzelner Länder bedroht, doch die Grenzen wieder “befestigt” werden? Das wäre ein fatales Signal für Europa.

Die Flüchtlingskrise zeigt einmal mehr, dass es mit der vielbeschworenen Solidarität und „Vertiefung“ der EU doch nicht so weit her ist, wie stets beteuert. Erste Risse wurden schon bei der Finanz- und Griechenlandkrise offenbar, als die für die Eurozone vereinbarten Regeln einfach gebrochen wurden; ein Zustand, der bis heute anhält. Und nun, da Berlin um Entlastung nachsucht und auf Ablehnung stößt, bilden sich weitere Risse und das Fugenmaterial wird zunehmend porös. Welche Wirkungen dies für das Europabild der Deutschen haben wird, lässt sich leicht ausmalen. Die Türkei, nicht gerade ein Hort des Humanismus, soll jetzt den Flüchtlingsstrom drosseln und den Bösewicht spielen, damit Berlin und Brüssel den Offenbarungseid vermeiden können.

Ist Europa also doch nur ein großer Wirtschaftsraum? Wenn es darum geht, in Krisen gemeinsam zu handeln, wie es einer Gemeinschaft ziemt, scheitern die Koordinierungsinstanzen in Brüssel grandios. Die Staaten müssen das selber in die Hand nehmen. Wozu taugt dann die EU noch? Was ist aus dem „Friedensprojekt“ geworden, das sich als Leuchtfeuer für Freiheitlichkeit, Demokratie und Menschenrechte geriert? Jetzt, da viele Flüchtlingsboote dem hellen Licht gefolgt sind. Schwer genug, sich das einzugestehen: Womöglich ist die britische Forderung nach einer Reduzierung der EU auf den Binnenmarkt doch der zukunftsweisendere, weil stabilere Ansatz. Das Unvermögen der Gemeinschaft in der Flüchtlingskrise wird Folgen haben — für den Kontinent selbst, für seinen Zusammenhalt, aber auch für seine Rolle in der globalisierten Welt, und damit für seine ökonomische Zukunft.

Doppelte Datenmoral

Es gibt gute Gründe, die Macht des Staates zu beschränken und seine Institutionen einer ständigen demokratischen Kontrolle zu unterwerfen. Schließlich ist er an die von der Verfassung zugebilligten Gewalten gebunden, damit die Freiheit der Einzelnen gewahrt bleibt. Im Zweifelsfall muss ihn das Verfassungsgericht in die Schranken weisen. In diesem Sinne hatten die Karlsruher Richter Berlin 2010 ultimativ aufgefordert, die vom Bundestag 2008 beschlossene Vorratsdatenspeicherung zurückzunehmen, weil damit in unzulässiger Weise in die Grundrechte eingegriffen werde. 2014 legte der Europäische Gerichtshof nach und verbot der EU die Speicherung von Verbindungsdaten über einen längeren Zeitraum.

Nun ist der Aufschrei groß, weil der Bundestag die Vorratsdatenspeicherung in einer nur leicht angepassten Form erneut gebilligt hat. Danach sind Telekommunikationsunternehmen, Internetprovider und andere Zugangsanbieter nun verpflichtet, Kommunikationsdaten sämtlicher Bürger verdachtsunabhängig aufzubewahren. Gewählte Rufnummern und genutzte Internetadressen müssen zehn Wochen lang vorgehalten werden. Für Mobilfunkdaten ist eine Speicherfrist von vier Wochen vorgesehen. Ausgenommen sind lediglich die Inhalte von Mails. Sicherheitsbehörden und Justiz hatten auf eine Neuauflage gedrungen, weil die Verbrechen der Gegenwart mit dem Instrumentarium der Vergangenheit eben schwieriger aufzuklären sind.

Angesichts der aufgepeitschten Stimmung in den Kommentarspalten diverser Internetseiten kann man sich leicht ausmalen, wie sich nun eine regelrechte Widerstandswelle gegen die Politik aufbaut. Erste Verfassungsklagen wurden bereits angekündigt. Den Sicherheitsbehörden und Berlin wird schlicht die Kompetenz in der Einschätzung der digitalen Gefährdungslage abgesprochen. Von einer neuen Totalitarismusgefahr wird schwadroniert, weil ein Verlust der demokratischen Kontrolle drohe.

Doch muss man sich schon über die oft hasserfüllten Kommentare wundern, zumal der Staat nur versucht, mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten. Gegen Google, Facebook & Co. indes hat sich keine solch lautstarke Bürgerbewegung gebildet, obwohl die globalen Digitalkonzerne weitaus tiefergehendere Datensätze über jeden einzelnen Nutzer besitzen. Dabei geht es dem Staat – immerhin das Gemeinwohl im Blick – einzig um die Sicherung des Rechts und die ihm demokratisch zugebilligten Aufgaben, während die großen Digitalkonzerne einzig ihren Profit vor Augen haben. Und während jeder Zugriff auf die Vorratsdaten erst von einem Richter genehmigt werden muss, ziehen sich die Konzerne einfach auf Jurisdiktionen zurück, in denen sie keinerlei Schranken unterworfen sind bei Auswertung und Versilbern ihres Datenschatzes.

Unsafe Harbor

Eigentlich hätte Brüssel bereits unmittelbar nach den Enthüllungen von Edward Snowden das Safe-Harbor-Abkommen mit den USA auf Eis legen müssen. Bei der allgegenwärtigen Digitalschnüffelei der US-Geheimdienste konnte von einem „Safe Harbor“ nicht mehr die Rede sein. Aber die Politik in Berlin und Brüssel nahm das offenbar aus falsch verstandener Partnerschaft mit den USA hin. Womöglich auch, weil in den analogen Regierungszentralen Europas ein großes Unverständnis herrscht über die tektonischen Machtverschiebungen, die der digitale Wandel bei falschen Weichenstellungen mit sich bringt. Insofern sind die Beifallsbekundungen, die den Richtern am Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach ihrem „Facebook-Urteil“ nun von politischer Seite zugehen, heuchlerisch.

Es ist von einem „Meilenstein“ oder einem „Paukenschlag“ für den Datenschutz die Rede. Doch ändert das Urteil wirklich alles zum Besseren? Zwar machte es das Safe-Harbor-Abkommen den Konzernen (zu) einfach, das europäische Informationssubstrat aus Regionen mit hohen Datenschutzstandards in die USA zu ziehen und nach allen Regeln der Kunst zu verarbeiten. Das wird jetzt etwas komplizierter – vor allem aber für die Nutzer. Künftig müssen sie wohl eine weitere Zustimmung geben zu neuen bibeldicken „AGB“. Aber selbst wenn das nicht genügt und die Rechner nach Europa umziehen müssen, schützt das ja nicht vor Schnüffelei: Der britische Geheimdienst GCHQ steht der amerikanischen NSA in nichts nach – und gibt die Daten von sich aus weiter. Zudem haben US-Gerichte klargestellt, dass nichtamerikanische Bürger ohnehin keinen Datenschutz für sich reklamieren können – auch nicht jenseits der US-Grenzen. US-Konzerne müssen hier kooperieren. Nur eine bewusste Entscheidung der Konsumenten gegen die US-Platzhirsche im Netz würde die Lage verändern. Aber ist es realistisch, dass dies passiert?

Probleme mit dem Urteil dürften zudem weniger die großen Konzerne dies- und jenseits des Atlantiks haben, sondern eher die vielen kleineren Unternehmen, die digitale Serviceleistungen in die USA ausgelagert oder dort Tochterfirmen haben. Das dürfte die gefährlichen oligopolistischen Tendenzen in der Internetökonomie weiter verstärken. Daher sollte die Politik jetzt schnellstens vom Beifalls- in den Arbeitsmodus wechseln zur Ausarbeitung eines neuen – realistischeren – Abkommens. Das Urteil dürfte die europäische Verhandlungsposition zur Durchsetzung eigener Vorstellungen von Datenschutz dabei gestärkt haben.

Ökonomische Wunderheiler

Wo Sparen als Austerität geschmäht und Reformen als beschäftigungsfeindlich abgelehnt werden, helfen auch keine Rettungsprogramme mehr.

Wohl kaum ein Begriffspaar ist in großen Teilen der öffentlichen Debatte so umstritten wie die in der Euro-Krise verfolgte Konsolidierungs- und Reformstrategie. In Twitter, Facebook und Co. werden darüber regelrechte Hasstiraden verfasst. Ersteres wird als schädliche „Austerität“ geschmäht, Letzteres für die Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten verantwortlich gemacht, weil Jobs verloren gehen und Sozialleistungen gekürzt werden. Sparen und Reformieren gelten als vulgäre Abkömmlinge der vor allem von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern hochgehaltenen Ordnungspolitik. Selbst Spitzenökonomen wie die Nobelpreisträger Paul Krugman oder Joseph E. Stiglitz, so bekannte Größen wie Jeffrey D. Sachs oder der gefeierte französische Pop-Ökonom Thomas Piketty geben der Austeritäts- und Reformpolitik die Hauptschuld am Niedergang Griechenlands. Man hält sie sogar für ein machtpolitisches Vehikel, um Athen zu demütigen, oder geißelt sie schlicht als „ökonomische Alchemie“. Ihnen zufolge gibt es nämlich bessere Alternativen. Hat die Euro-Rettungspolitik also bewusst ein Wundermittel verschmäht?

Statt Sparen wären Mehrausgaben angesagt gewesen, und im Fall eines pleitebedrohten Staates wie Griechenland hätte man Athen einfach frisches Geld zuschießen müssen, heißt es. Weil die Mittel für Investitionen und Konsum verwendet worden wären, was weitere private Ausgaben nach sich gezogen hätte, so das Kalkül, wären Rezession und Deflation vermieden worden, die Wirtschaft wäre wieder gewachsen, die Steuern gestiegen. Die Mehrausgaben hätten sich also von selbst bezahlt gemacht – und als Nebeneffekt hätte sich sogar wieder die Schuldentragfähigkeit eingestellt.

Ein realistisches Szenario? Wohl eher eine Utopie! Vorübergehende fiskalische Maßnahmen helfen vielleicht, das kurzfristige interne Wachstum aufrechtzuerhalten. Aber sie bieten keine Lösung gegen strukturelle Probleme wie fehlender Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem unterschlagen die „alternativen“ Ökonomen die einhergehenden Moral-Hazard-Probleme: Regierungen vergessen in der Regel, die Ausgaben in besseren Zeiten wieder zurückzufahren, und erliegen der Versuchung, die nötigen Reformen erneut aufzuschieben. Die Geldschwemme verdeckt nämlich die Probleme. Und kommt die Hilfe gar vom reichen Onkel von nebenan, oder via Euroland-Bonds aus einem gemeinschaftlichen Topf, ist es mit der Selbstdisziplin sofort vorbei. Allen Schuldnern unterstellen die ökonomischen Wunderheiler zudem eiserne Verlässlichkeit, selbst wenn dies in der Vergangenheit nicht der Fall war – ein ob seiner Vertrauensseligkeit recht naives Gedankengebäude. Die strukturellen Probleme würden fortbestehen und bald wieder hervorbrechen, das Wachstum durch starre Arbeitsmärkte, Produktmarktmonopole und die Macht der Oligarchen wieder erstickt; und das zufließende Geld landet in den falschen Taschen.

Gerade Griechenland hat gezeigt, dass selbst mit der Formel „Geld gegen Reformen“ Letztere kaum durchzusetzen sind gegen den einhelligen Widerstand von Politik, Interessenvertretern und Gesellschaft. Dabei sind Reformen der Steuerbürokratie, der Arbeitsmärkte, der Pensionen, des Justizwesens und der Tarifpolitik überfällig. Zumal viele der versprochenen Reformen gar nicht stattfanden, weil sie Ministerialbürokratie, Verwaltung und Justiz verwässert, verdreht oder verschleppt haben. Die damit provozierte Erfolglosigkeit muss nun als Beweis für die wachstumstötende Wirkung von Strukturreformen herhalten. Dabei ist es gerade die stete Neuausrichtung und Umstrukturierung einer Volkswirtschaft, die schöpferische Zerstörung der alten Ordnung, welche dafür sorgt, dass sich Staaten modernisieren und damit den Wohlstand ihrer Bürger sichern und mehren.

Letztendlich kommt es also immer darauf an, dass Reformen von den Bürgern selber herbeigesehnt werden. Das ist weder in Athen der Fall, wo man es sich in den klientelistischen Strukturen eingerichtet hat, noch in Paris und Rom. In allen drei Fällen wird mysteriösen externen Kräften die Schuld am beklagenswerten Zustand der eigenen Wirtschaft zugeschoben – wechselweise den bösen Finanzmärkten oder dem deutschen Finanzzuchtmeister. Solange aber andere Mächte oder Strukturen für die eigene Erfolglosigkeit verantwortlich gemacht werden, wird es nicht zu Reformen kommen. Und es ist zweifelhaft, dass die nötige Selbsterkenntnis noch rechtzeitig einkehren wird, damit die Eurozone endlich aus dem Krisenmodus herauskommt.

Griechischer Lackmustest

Nach dem Wechsel im Athener Finanzministerium vom bunt-schillernden Giannis Varoufakis zum biederen Euklid Tsakalotos ging es ganz flott: Während Ersterer in fünf Monaten das Vertrauen von Investoren, Konsumenten und den anderen Euro-Regierungen verspielte, Griechenland in die Rezession riss und an den Rand eines Grexits brachte, kann Letzterer nach nur drei Wochen Verhandlungen eine Grundsatzeinigung für ein neues Hilfsprogramm vorweisen. Die Gläubigervertreter von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds haben zwar ihre Reformforderungen verschärft, dafür aber die Budgetauflagen deutlich gelockert. Das ist zum einen der dramatisch verschlechterten Wirtschaftslage geschuldet, zum anderen aber auch der Erkenntnis, dass Athen die Einigung den Bürgern erst einmal vermitteln muss. Das Land steht schließlich kurz vor dem Chaos, eine gesellschaftliche Spaltung droht. Sollten nun das Athener Parlament und die Euro-Regierungen dem Ergebnis zustimmen, wäre zumindest ein Grexit vorerst vom Tisch. Die Beteiligten könnten sich um den Wiederaufbau und die Umstrukturierung der Wirtschaft kümmern, dem Land und seinen Menschen eine Perspektive geben – Grundvoraussetzung für eine Wende zum Besseren.

Allerdings wird erst jetzt klar, wie tief die politischen Verletzungen sind, die durch die Athener Provokationen der vergangenen Monate und die anschließende emotionale Eskalation geschlagen wurden: Das Vertrauen in die Reformfähigkeit und Reformwilligkeit Griechenlands hat sich komplett verflüchtigt. Auch wenn Athen sich nun zu Strukturveränderungen bekennt und sogar in Vorleistung tritt – es fehlt schlicht der Glaube, dass die Gesetze auch umgesetzt werden. Zu oft haben Verwaltungen und Gerichte Reformen verschleppt, verwässert, verdreht und missachtet. Nicht nur in Deutschland ist man skeptisch, sondern etwa auch in Finnland oder der Slowakei. Deshalb die Zurückhaltung bei der Bewilligung einer extrahohen ersten Hilfstranche, darum die Forderungen nach „prior actions“, bevor das Geld fließt, und deswegen die Verweigerung von Schuldenerleichterungen bereits zum Start des Hilfsprogramms.

Athen muss jetzt liefern – und zwar zunächst den Beweis, dass es die neuen Vereinbarungen mit Leben erfüllt. Gerade weil er (noch) nicht vom griechischen Clansystem vereinnahmt ist, besteht Hoffnung, dass Regierungschef Alexis Tsipras den Augiasstall ausmisten und dem Land eine neue Perspektive geben könnte. Ein Hoffnungswert – mehr nicht.